Der Sitzende

Erzählung zum Thema Abschied

von  Muuuzi

Der alte Mann saß ganz still, als ich die Tür öffnete und eintrat. Er erkannte mich nicht mehr, doch das machte mir nichts. Ich kam näher und betrachtete seine müden Augen, die beinahe regungslos nach vorne blickten. Er sprach nichts mit mir, doch auch das störte mich nicht. Er bewegte nur kurz seinen weißen, alten Mund, der sich danach wieder zu seinem ursprünglichen Sein formte. Seine Augen sahen durch eine graue Welt, die bereits vor langer, toter Zeit zerstört wurde und nun verbrannt in vergessener Asche lag. Seine Hände waren müde und mit langen, blauen Adern durchzogen. Ich kannte sie gut, sie waren mir schon immer vertraut gewesen, auch wenn ich den Mann, der hier vor mir in seinem geflochtenen Stuhl saß, nicht wirklich kannte. In seinem Schrank befand sich in glücklicheren Tagen immer eine Vollmilchschokolade. Das wusste ich. Er schenkte sie mir, als ich noch ein kleines Kind war. Heute war nichts im Schrank, der nun auch vergessen in seiner üblichen Ecke stand. Am Tisch vor ihm lag eine Zigarette in ihren Überresten. Vermutlich hat er keine Lust mehr zu rauchen. Die Lampen waren schmutzig. Das Leben vergeht, das merkte auch der Mann. Das Leben vergeht wirklich, auch wenn man es noch nicht weiß, da der Tod nur eine banale, beinahe einfältige Theorie für all diejenigen ist, die noch nicht gestorben sind. Doch dann passiert es wirklich und alle tun so, als wenn es etwas Besonderes wäre, wenn Menschen sterben. „Das kann doch jeder! Das muss doch auch jeder! Warum wundert ihr euch? Sie war über 90, verdammt!“

Und doch werde ich traurig, wenn ich an die kleine, zierliche Frau denke, die manchmal mit ihm spazieren ging. Er nahm sie an der Hand und lächelte sie mit perlenden Augen an. Ich mochte sie und ihren Blick, der jedoch nur noch gütige Verwirrung kannte. Alle anderen Eigenschaften schienen sich in einem hohlen Winkel ihres Gehirns verkrochen zu haben. Menschen muss man irgendwann sterben lassen, wenn sie keine Eigenschaften mehr besitzen. Oder doch lieber nicht? Was würde hier wohl Robert Musil denken? Oder liegt es nicht an den Eigenschaften, sondern an den Umstand, sie nie wieder gebrauchen zu können, obwohl sie eigentlich vorhanden wären? Nichts mehr gebrauchen zu können, als die einzige, wenn auch widerlich und schöne Tatsache, noch gebraucht zu werden- hier auf dieser gebrauchten und alten Welt.

Der Mann war seither nicht mehr derselbe. Wie könnte er auch? Nun war er starr und krank.
Ich wendete mich ab und ging in die Küche. Die alten Kacheln an den Wänden waren dreckig. Ich musste lange suchen, bis ich einen passenden Kessel gefunden habe.
Ich machte dem Mann einen französischen Tee, damit er von Innen gewärmt würde, doch das machte eigentlich keinen Unterschied mehr. Als ich zurückkam war er blass und tot.
„Vielleicht tanzt du nun mit deiner Frau auf einer fernen Wiese!“, sprach ich später, als ich ihm die kalten Augen schloss, anstatt sie mit Tee zu übergießen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Menschenkind (29)
(30.10.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 franky (30.10.13)
Hi liebe Muuuzi,

„Seine Augen sahen durch eine graue Welt, die bereits vor langer, toter Zeit zerstört wurde und nun verbrannt in vergessener Asche lag.
eine graue Welt, die bereits vor langer, toter Zeit zerstört wurde und nun verbrannt in vergessener Asche lag.“

Gedanken die mich spontan anspringen.

Viele liebe Grüße

Von Franky
KoKa (45)
(30.10.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Muuuzi meinte dazu am 31.10.13:
Ne, ist nicht so passiert! :)

Ja, ich denke zu verstehen! Ich hüte mich davor! :) Uaaagh! Heute ist Helloween!
Grüße aus Neuseeland.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram