Der kleine schwarze Schmetterling

Text zum Thema Selbstbild/Selbstbetrachtung

von  Sakura

Regungslos saß er da. Erstarrt. Unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen, richtete er seinen Blick auf die Wand unmittelbar vor ihm. Ob sie wirklich existierte, wusste er nicht. Er hätte leicht den Arm ausstrecken und sie versuchen können zu berühren, doch es war ihm gleichgültig. Alles war gleichgültig, denn hier - wo auch immer er war - war er alleine. Alleine mit sich und seinen Gedanken, seinen Entscheidungen. Alleine mit Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft, die drohend über ihm schwebte und ihm den Atem raubte, wann immer er versuchte, Luft zu holen. Doch er erduldete den Schmerz, denn er konnte sich nicht entsinnen, jemals etwas anderes gefühlt zu haben. Der Mensch ist leidensfähig und kann sich an vieles gewöhnen, warum auch sollte es bei ihm anders sein?
Wie lange er schon hier saß, konnte er nicht sagen. Es hätten ebensogut Sekunden wie Jahre sein können. Auch worauf er saß, wusste er nicht. Er konnte schlichtweg nichts wissen, denn niemand hatte ihm gesagt, wo er sich befand, wohin er geführt worden oder möglicherweise auch selbst gegangen war.
"Wer bin ich?" Ein leises, kaum hörbares Flüstern erfüllte den Raum.
Er erschrak, verharrte jedoch.
"Weißt du es nicht?"
Verwundert überlegte er einen Moment, ob er antworten solle, besann sich dann aber und schwieg.
"Du weißt es nicht?... Nun gut. Dann sage ich es dir."
Aus dem Augenwinkel konnte er beobachten, wie etwas von seiner Schulter abhob, durch den Raum flog und eine Handbreit vor seinem Gesicht innehielt. "Ich habe dich hierhergebracht. Ich allein und niemand sonst. Willst du denn gar nicht wissen, wer ich bin?" Schweigen. "Ich bin ein schwarzer Schmetterling. Der einzige meiner Art. Es gibt keinen sonst, der mir gleicht, und doch existieren viele meiner Gestalt." Der Schmetterling setzte sich auf seine linke Schulter und fuhr fort: "Ich bin seit eh und je an deiner Seite, nur an deiner. Und ich werde nun dein Leben für immer verändern. Wenn du hiermit nicht einverstanden bist, dann sprich." Erleichtert, dass nichts von ihm verlangt wurde, setzte er sein Schweigen fort. In die folgende Stille hinein meinte er, ein leises, kaum hörbares Kichern vernehmen zu können, bis der Schmetterling weitersprach. "Siehst du die Dornenranken, die neben dir wachsen?" Er ließ seine Augen schweifen und tatsächlich sah er, wovon ihm berichtet wurde. "Sie sollen dein Schutz sein. Du brauchst sie. Wenn du es auch siehst, dann erst bist du bereit. Kannst du es erkennen? Dann schaue sie einfach weiter an." Äußerlich ließ er keine Regung erkennen, doch insgeheim erfüllte ihn ein Gefühl der Zufriedenheit und Sicherheit, als sich die Pflanzen vertrauensvoll an ihn schmiegten. So verging die Zeit, und er glaubte, seinen Frieden gefunden zu haben. Doch plötzlich bemerkte er, dass er, nur für den Fall dass er irgendwann wollte, nicht mehr imstande war, aufzustehen. Als hätte der schwarze Schmetterling seine Gedanken hören können, beruhigte er ihn: "Keine Sorge. Du wirst nicht mehr aufstehen müssen." Zuerst verspürte er ein leichtes Unwohlsein, doch das legte sich rasch. Sein ganzes Leben war er doch in Bewegung gewesen, mehr oder minder, wurde von dem reißenden Strom an Gesichtern, Geschichten, Erwartungen und Hoffnungen mitgerissen, einem Bild hinterherhastend, das er selbst nie gesehen hatte. Da hatte er sich eine Pause doch redlich verdient, und schließlich war er ja geschützt.
Wieder vergingen Sekunden, Stunden oder auch Tage, bis er bemerkte, dass sich eine Ranke um seinen Mund geschlungen hatte und ihn am Sprechen hindern würde, wollte er sich äußern. Wieder war es der Schmetterling, der seine Gedanken zu lesen schien. "Keine Sorge. Du wirst nicht mehr sprechen müssen." Nicht mehr sprechen? Eigentlich erschien ihm das ja ganz sinnvoll, denn wer hatte ihm jemals zugehört? Letztendlich war es doch für andere belanglos, was er sagte und ob er überhaupt etwas sagte - welche Rolle sollte es dann noch für ihn spielen? Und die geflügelte Kreatur neben ihm schien ihn darin zu bestätigen. Also entspannte er sich wieder. Das einzige, kaum hörbare Geräusch, was er von sich gab, war sein Atem. Doch was war das? Es schien, als hätte etwas in seiner Brust Feuer gefangen. Doch halt! Er war geschützt, dies konnte also nur eine Täuschung sein, eine Illusion. Heutzutage konnte man doch ohnehin so gut wie niemandem mehr vertrauen, so traurig das auch war. Zum Glück jedoch hatte er in seinem Schmetterling Halt gefunden.
Leider schien der Feuersturm in seiner Brust kein Ende zu finden. Mittlerweile verspürte er einen solchen Schmerz in seinem Inneren, dass er meinte, jeden Augenblick zerbersten zu müssen. Er wollte einatmen, frische kühle Luft in seine Lungen lassen, doch es ging nicht. Nun erfüllte ihn Panik. Doch das leise Flüstern antwortete nur: "Keine Sorge. Du wirst nicht mehr atmen müssen..." Nicht mehr atmen? Was sollte das nun bedeuten? Hatte man ihm nicht gesagt, das Atmen wäre eine lebensnotwendige Funktion? War der Schmetterling also vielleicht gar kein Schutzengel, der ihm den Weg wies, sondern ein grausamer Dämon, der ihm das Leben raubte? Sein Leben raubte?
Die Todesangst, die er empfand, verwandelte sich für einen kurzen Moment in Verzweiflung und Wut - das erste und letzte Aufbäumen fuhr durch seinen Körper.
'Gib mir mein Leben zurück!' schrie er stumm und streckte die Hand aus, nach dem Schmetterling, nach einer Ranke, nach Rettung? Er wusste es selbst nicht genau. Das Kichern ertönte wieder und nun sah er, dass es der Schmetterling war, von dem es ausging. "Du willst, dass ich dir dein Leben zurückgebe?" Die Kreatur sah auf ihn herab und sprach weiter: "Ich habe es dir nicht genommen." Das Kichern schwoll an und wurde zu einem grausamen Lachen. Verzweifelt schüttelte er mit letzter Kraft den Kopf und hätte es vielleicht geschafft, sich zu befreien, hätte der Schmetterling nicht erneut zu sprechen begonnen. "Ich sagte dir, ich würde dein Leben verändern und doch hast du es zu dem gemacht, was es nun ist... Vergangenheit." Das Wesen flatterte zur Wand, doch wo er einst die Wand gesehen hatte, war nur ein leerer Spiegel. "Weißt du nun wer ich bin? Weißt du es jetzt?", zischte es kaum hörbar. Die Antwort traf ihn wie ein Blitz Das eiskalte Grauen fuhr ihm in die Glieder und fachte das Feuer in seinem Inneren weiter an. Von Schwindel und bohrenden Kopfschmerzen gequält, betete er, dass er unrecht haben möge. "Ich bin..." es verschmolz mit dem Spiegel und auf seinem Glas erschien ein grausames Bild. Das Bild eines Wesens, das einst menschlicher Natur gewesen sein mochte, doch mittlerweile zur Unkenntlichkeit entstellt war. Dornen hatten sich in seinen gesamten Körper gebohrt, an dem das Blut in Strömen herunterlief. Was einmal sein Gesicht darstellen sollte, war nur noch eine hässliche Fratze, aus deren Mund sich ein roter Sturzbach ergoss. Sein Blickfeld verengte sich mehr und mehr, die Dunkelheit empfing ihn wie ein Raubtier mit gierig geöffneten Maul, das ihn als seine Beute auserwählt hatte. Das letzte, was er hörte, bevor er im schwarzen Abgrund versank, war die Antwort.
"...Du."

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Kommentare zu diesem Text

Jack (33)
(09.11.13)
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Laudalaudabimini (59)
(09.11.13)
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Blütenschimmer (18)
(10.11.13)
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 Sakura meinte dazu am 10.11.13:
Vielen Dank !! :)
Der Text liegt mir sehr am Herzen, deswegen freue ich mich besonders darüber.
LG zurück, Sakura

 princess (11.11.13)
Und wenn es eine wahre Geschichte wäre? Wie auch immer: Ein Text, der in die Tiefe geht. Nachhaltig.

Liebe Grüße, princess

 Sakura antwortete darauf am 11.11.13:
Es ist tatsächlich eine Geschichte, die sich einmal so abgespielt hat... nur ist sie in Metaphern verpackt, die man erst "entschlüsseln" muss.

Es gibt einmal die naheliegende Deutung (nämlich dass es eine Horrorgeschichte ist), und einmal die tiefergehende Aussage, dass der Protagonist selbst sein Leben zu einer Horrorgeschichte gemacht, das Urteil anderer übernommen und sich daher selbst Schritt für Schritt zugrundegerichtet hat.

Vielleicht schreibe ich noch einen "Erklärtext" dazu, wenn ich Zeit habe.

Auf jeden Fall freut es mich, dass es dir gefallen hat! :)
Danke für dein Feedback und die Empfehlung :)

LG,
Sakura
Fabi (50)
(07.03.14)
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 Sakura schrieb daraufhin am 08.03.14:
Das freut mich, vielen Dank für die Empfehlung und das Feedback :)
LG zurück ^^
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