Am Ende jedes Jahres prüft die Geschäftsführung alle Statistiken. Anhand der Zahlen erkennt sie, wer über das Jahr verteilt den meisten Profit gemacht hat. Derjenige mit den besten Verkaufszahlen wird nicht nur zum Mitarbeiter des Jahres ernannt, sondern kassiert auch eine fette Motivationsprämie.
Das ist der Grund, weshalb ich meinen Job um die Weihnachtszeit mit besonderem Eifer erledige.
Jetzt drängen sich alle Feiertagsfetischisten in den Laden und kaufen. Besonders wenn sie denken, damit bereiten sie jemandem eine Freude. Für jeden von denen gibt es einen wie mich.
Seit sechs Jahren stehe ich nun hier, lächle stets freundlich und halte nach potentiellen Käufern Ausschau. Ich verkaufe alles: Schampoos, Waschmittel, Schokolade, Whisky, Zahnseide, Frauenzeitschriften. Alle zwei Stunden wechsele ich den Standort, damit ich viele Kunden erreiche.
Diese Mobilität bringt mich dem Ziel Verkäufer des Jahres ein großes Stück näher.
Es bedarf jedoch einiger kunstvoll-rhetorischer Kniffe, um die volle Aufmerksamkeit des Kunden auf sich zu ziehen. Das größte Gewicht haben die Mächtigen Sechs. Das sind die Regeln, die ich befolgen muss, wenn ich es als Produktberater zu etwas bringen will:
Regel Nummer 1: Der Produktberater ist unauffällig penetrant und bestimmt das Gespräch!
Regel Nummer 2: Es ist egal, ob der Kunde ein Produkt will – solange er es kauft!
Regel Nummer 3: Es ist egal, ob der Produktberater weiß, wovon er spricht – Hauptsache, es hört sich danach an!
Regel Nummer 4: Alle Produkte werden besser gemacht als sie sind!
Regel Nummer 5: Suggestion ist die Mutter des guten Geschäfts!
Regel Nummer 6: Kaufen macht glücklich!
Menschenkenntnis spielt ebenso eine große Rolle. Nur ein geschultes Auge errät die unterbewussten Bedürfnisse der Kunden. Nach einiger Zeit teilte ich sie in Kategorien ein, denn
nicht alle Konsumenten sind für ein Verkaufsgespräch geeignet. Nehmen wir zum Beispiel eine Frau mit ernstem Blick, zwei Kindern im Schlepptau und einem kleinen Wagen. Kategorie: Zweckeinkäufer. So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Ihr etwas anzudrehen ist so, als würde ich versuchen, einen Gangster mit Spielgeld zu bezahlen: ich verliere. Ähnlich, aber nicht so gefährlich, verhält es sich mit der zweiten Kategorie – dem Studenten. Kennzeichnung: Chronische Geldknappheit und mangelndes Interesse an Körperhygiene. Diese Kombination erfordert nicht nur ein Höchstmaß an Überredungskunst, sondern auch den richtigen Standort. Seine Hauptnahrungsmittel sind Alkohol und Tiefkühlprodukte, weshalb ich mich vorsätzlich in diese Bereiche des Ladens stellen müsste. Dort würde ich allerdings 70% der restlichen Kunden verlieren. Ein Verkaufsgespräch mit einem Studenten gleicht also eher einer Risikoinvestition.
Dann gibt es noch die Hippies, die Geschäftsleute, die Kids, die Prolls und die Alten. Aber am meisten interessiert mich der typische Durchschnittskäufer. Er ist der Traum jedes Produktberaters. Die Trefferquote liegt bei unglaublichen 89%! Im Durchschnittskäufer vereinen sich Naivität, kindliche Unentschlossenheit und Höflichkeit. Preise ich ein Produkt geschickt an, habe ich ihn bereits hypnotisiert!
Ein Dialog mit ihm verläuft in etwa so:
Verkäufer (V): Einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen, werter Herr! Dürfte ich Ihnen einige Minuten Ihrer kostbaren Zeit stehlen?
Kunde (K): Ähm, also … na ja, ähm…
V: Sehr gut! Ich habe hier nämlich etwas ganz Besonderes für Sie! Unser neues Schampoo – Den Genuss für alle Sinne! Werfen Sie mal einen Blick darauf.
K:. Aha. Mal was Neues. Was macht denn es so besonders?
V: Die Zusammensetzung, mein Herr, die Zusammensetzung! Alle Inhaltsstoffe sind garantiert chemiefrei und zu 100% biologisch abbaubar. Schauen Sie nur – diese perfekte Form, der Glanz, das liebevolle Design. Wunderbar! Überzeugen Sie sich selbst! Lesen Sie!
K: Für empfindliches, fettiges und ausfallendes Genitalhaar… .
V: Fantastisch, oder! Sie haben doch sicherlich auch fettige Intimbehaarung! Dann rate ich Ihnen: probieren Sie es aus! Sie werden es nicht bereuen.
K: Also, ich weiß nicht… brauche ich das wirklich? Ich meine, es sieht schon interessant aus, aber …
V: Ich verspreche Ihnen: wenn ihre Genitalbehaarung in zwei Wochen noch fettig ist oder ausfällt, geben wir Ihnen ein wirkungsvolleres Produkt! Wir wollen schließlich nur Ihr Bestes!
K: Hm, also gut. Wenn Sie davon so überzeugt sind, dann werde ich es mal ausprobieren!
V: Eine gute Wahl! Nehmen Sie doch gleich noch zwei Flaschen für Ihre Liebsten mit. Vergessen Sie nicht, Kaufen und Schenken bedeuten Zuneigung und die gibt es an Feiertagen schließlich extra!
K: Oh, vielen Dank. Das ist wirklich sehr aufmerksam von Ihnen!
V: Deswegen sind wir der beste Markt der Stadt! Beehren Sie uns bald wieder!
So funktioniert das. Aus Nussschokolade wird zarte Vollmilchschokolade mit knackigen Nüssen, die auf der Zunge zergeht. Aus Rasierklingen werden Sensoshave-Aufsätze, aus Creme wird das ultimative, langanhaltende Frischeerlebnis für Ihre Haut. Das Geheimnis der Produktberatung liegt im raffinierten Beschiss!
Achten Sie dabei vor allem auf Anwendung der Mächtigen Sechs! Im Verkaufsgespräch passe ich diese Regeln den einzelnen Kundenkategorien an. Je nach Kunde unterscheidet sich die Reihenfolge der angewandten Regeln, sodass jeder Käufer ein niedliches Schildchen mit einem Großbuchstaben und einer Nummer erhält. Bei unserem Durchschnittsverkäufer hieße sie nach genau diesem Gespräch D 143526. Im Normalfall überreiche ich es ihm und er freut sich darüber, dass es das einzige ist, was er hier gratis bekommt. Danach geht er fröhlich weiter. Seine Armut steigt proportional zur Fülle seines Einkaufswagens.
Heute, kurz vor Heiligabend, konnte ich derartig viele dieser Durchschnittskunden fröhlich machen, dass ich sicher Verkäufer des Jahres werde. Die feierliche Verleihung findet in der VIP-Lounge des Waldorf Astoria-Hotels in Charlottenburg statt. Dort trifft sich nicht nur das Management des Ladens – auch alle Mitarbeiter sind zu dieser besonderen Feier eingeladen. Ich stehe in meinem feinsten Anzug in der ersten Reihe, als mein Chef auf die Bühne tritt, das Hotelpersonal umschmeichelt und den Mitarbeiterstab grüßt. Er macht eine Kunstpause, bevor er feierlich die Stimme erhebt und sagt:
„Und nun, verehrtes Hotelpersonal, werte Kollegen, stelle ich Ihnen den Mitarbeiter des Jahres 2013 vor! Ich bitte um einen herzlichen Applaus für …“
Die gespannte Menge verstummt. In freudiger Erwartung recke ich meinen Hals wie ein Strauß nach oben und warte auf meinen Namen.
„… Hansi Schulze! Meine allerbesten Glückwünsche, verehrter Hansi! Sie machen mich zum stolzesten Geschäftsführer der Stadt! Was wären wir nur ohne fleißige Mitarbeiter wie Sie!“
Es folgt tosender Applaus. Das ganze Publikum schreit Hansiiiii!
Hansi Schulze? Hansi Schulze? Dieser abgebrochene, übel riechende Zwerg mit der Halbglatze und der Akne? Wieso? Der ist erst seit einem Jahr dabei! Ich hingegen habe sechs auf dem Buckel! Sechs Jahre dämliches Grinsen, psychologische Raffinesse und pinkfarbene T-Shirts, sechs Jahre mies gelaunte Kunden! Sechs Jahre perfektionierte Manipulation! Und nun das. Hansi Schulze.
Nach der Verleihung gehe ich auf Hansi zu und frage ihn, wie zum Teufel er das angestellt hat. Auch er wusste von den Mächtigen Sechs, doch wie konnte er das schaffen? Was war sein Trick?
Süffisant grinste er mich an:
„Regel Nummer Sieben: Ein kluger Produktberater kriecht dem Chef mindestens einmal wöchentlich in den Arsch!“