Auszug aus dem Sonettenkranz "Die Siedlung am Fluss". Das dazugehörige Video von einem Auftritt im Klanggerüst Erfurt, vom 26.01.2014: HIER KLICKEN
Sonett V: Tornado
Erst fegt es Laub und Kies, dann größre Batzen.
Am Himmel hängt ein trächt‘ger Wolkenbauch,
aus dessen Nabel ragt der Wetterschlauch,
der saugt und wirbelt Stühle, Dächer, Katzen
und übern Acker dreht er Pirouetten.
Ein Bauer ruft nach seinem Töchterlein
und findet sie mit eingeklemmtem Bein,
als Nachbarn sich in einen Bunker retten.
Dann ziehts das Ungetüm wie an der Schnur
zur Straße hin, es tobt und wütet, nur -
es kennt kein Gut, kein Böse, kennt kein Ziel.
Was kommen mag, was weiche und was bleibe,
das sei der sel‘gen Willkür Lust und Spiel.
Ein Kinderwagen klatscht auf eine Scheibe.
*
Sonett VI: Die Straße
Ein Kinderwagen klatscht auf eine Scheibe
des Taxis, auf dem Weg ins Hospital.
Die volle Bremsung äußert sich fatal.
Der Frau im Rücksitz drückts im Unterleibe.
Ein Reifenquietschen, starrende Passanten,
und - einundzwanzig, einundzwanzig - KRACH!
Ein andres Auto schlittert auf dem Dach,
dass Funken sprühn und rast in den Hydranten.
Auf einer Parkbank liegt mit eignem Ton
ein Knabe, eingenickt, mit Jazz im Ohr.
Er phantasiert vom unerreichten Weibe.
In einer Häuserwand ist Endstation
der Klassenfahrt, es bricht ein Wasserrohr:
Wie Messbehälter füllt sich eine Bleibe.
*
Sonett VII: Der letzte Brief
Wie Messbehälter füllt sich eine Bleibe.
Ein Mädchen sitzt am Tisch, die Füße feucht,
als Wasser sprengend aus dem Rohr entfleucht:
„Dies ist ein letzter Brief, den ich dir schreibe.
So vieles zwischen uns blieb ungesagt.
Auch diese Worte werden jäh verschmieren:
Wenn ich dich hätt‘, ich könnte dich verlieren.
Ich liebe dich, doch hab‘ uns nie gewagt.“
Der Wasserspiegel steigt im Hintergrund,
wie unsichtbares Gas durchs Zimmer schleicht.
Sie liegt nur da, der Körper aufgeweicht,
und atmet kaltes Nass in ihren Mund.
Dann der Reflex: ein letztes Scheibenkratzen,
als Fenster und Laternengläser platzen.
*
Sonett VIII: Die Spannungsquelle
Als Fenster und Laternengläser platzen,
verstummt der drohnde monotone Ton:
Die Kirche dröhnt und drängt zur Religion,
am Eingang winken supernette Fratzen.
Die Menschen kommen scharenweis‘ herbei,
weil finstertiefe Einsichten vernichten.
Der Pfarrer weiß Geschichten zu berichten,
die trösten uns. Der Glaube macht uns frei
für Selbstverleugnung und für Heuchelei.
Dort am Altar erwächst was, zuckt und blitzt,
geladen ist’s und sichtlich überhitzt,
ein gleißend Ding, pulsierend und derlei
ein Konterfei und ausgesprochnes Sein:
Der Strom - er frisst nun alles in sich rein.
*
Sonett IX: Die Kirche unter Strom
Der Strom: Er frisst nun alles in sich rein
und feuert durch den Saal Elektrobälle,
die surrend ziehn wie kleine Engelein,
geboren aus der Wahrheit Spannungsquelle.
Die Menschen rennen wirr umher und schrein:
Ein kurzer Schlag verkokelt auf der Stelle
und flimmert grienend wie ein heil’ger Schein,
auf dass er Körper innerlich erhelle.
Der Pfarrer sieht, die Messe ist gelesen,
denn Sterben ist, wenn nichts geschrieben steht.
Für echte Sühne ist es jetzt zu spät;
der Beichtstuhl flackert auf und ist gewesen.
Der Strom: Er bringt die Hallen neu in Schuss,
entartet, was entankert werden muss.
*
Meistersonett: Die Siedlung am Fluss
Der Tag ergießt sich wie aus prallen Fässern,
die ruppig aufgepflockt jetzt satt zerfließen
und prasselnd auf die weiten Straßen schießen:
Auf auf, zu neuen tragenden Gewässern.
Erst fegt es Laub und Kies, dann größre Batzen.
Ein Kinderwagen klatscht auf eine Scheibe.
Wie Messbehälter füllt sich eine Bleibe,
als Fenster und Laternengläser platzen.
Der Strom: Er frisst nun alles in sich rein,
entartet, was entankert werden muss,
und reißt es mit sich fort - aus einem Guss
zerschmettert er die Siedlung querfeldein;
bis abendlich das Flussbett stille liegt
und aufgedunsne Leiber kost und wiegt.
Erst Suppenkasper, dann Teddy und nun ist ein einarmiger Bandit zu sehen - bei dir ist einiges im Fluss...
Schade, dass nur ein Auszug deines Kranzes zu lesen ist. Der wirkt jedoch, obwohl wahrscheinlich apokalyptisch endend, ziemlich lebendig.
Schöne Grüße, Dirk