An der Schwelle

Roman zum Thema Abschied

von  Annabell

Sie brauchte nicht mehr viel Schlaf. Oft stand sie im Dunkeln am Fenster und schaute in die Nacht hinaus.
"Wo bin ich hier, was ist mit mir geschehen?"
Ihr Herz raste. Es tat einen harten Schlag. Sie griff Halt suchend nach einem Stuhl. Schwach, sehr schwach hörte sie eine dunkle melodische Stimme. Sie hallte von weit her:
"Hörst du mich? Kannst du mich hören?"
Die Worte schwebten über ihrem Kopf. Ein Rauschen und Beben empfand sie. Das Kaleidoskop des Lebens drehte sich hin und her in alle Richtungen, wurde langsamer, fing an zu zittern.
"Du stehst vor der Schwelle. Bitte beantworte meine Fragen", sagte die sanfte Stimme. "Hast du alles richtig gemacht in deinem Leben?"
Eine Frage wurde gestellt und es folgte sogleich die nächste, ohne eine Antwort abzuwarten.
"Was bereust du am meisten? Was möchtest du nie wieder erleben?"
"Daß ich meinen Sohn als Baby adoptieren ließ. Daß ich mein Enkelkind überfahren habe, als ich rückwärts aus der Garage fuhr", flüsterte sie. "Ich habe ihn doch nicht gesehen, nein wirklich nicht gesehen", seufzte sie.
"Hör mir gut zu: Bist du bereit, durch diese Pforte zu gehen? Siehst du das helle gleißende Licht am Ende des Tunnels? Mach einen Schritt nach vorn ... ja, so ist es gut. Komm näher zu mir, ganz nahe. Sieh nur!"
Wer forderte sie auf, über die Schwelle zu gehen? Wer sprach diese Worte? Starr und bewegungslos stand sie am dunklen Fenster. Ein Licht flackerte, zumindest glaubte sie es. Es wurde unbeschreiblich hell. Sie schrie so laut, wie ihre Stimme es zuließ:
"Hört mich denn keiner? Warum hört mich keiner?"
Alles um sie herum war durchdrungen von überirdischen Klängen. Sie tauchte ein in das helle gleißende Licht.
"Komm nur", raunte die dunkle Stimme. "Wenn du bereit bist mir zu folgen, wirst du all deine Lieben wieder sehen. Du mußt nur fest daran glauben, ganz fest, du mußt es wirklich wollen."
Ihr Kaleidoskop war zum Stillstand gekommen. Eine Rückschau von vielen bunten Lebensbildern und Ereignissen, gute und schlimme, waren zuende gegangen. Ganz still und ruhig verharrte sie.
"War das mein Lebensende? Würde ich meine Lieben wieder sehen?" dachte sie und wartete auf eine Antwort. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Gehirn explodieren in tausend kleine Scherben aus dem Lebensbild. Sie fielen heraus und zersplitterten unter ihren Füßen. Mit ungeheurer Geschwindigkeit wurde sie in die Höhe katapultiert. Die Übelkeit im Magen ging über in eine große Leere. Sie trat über die Schwelle und hörte eine ihr vertraute Stimme:
"Nun bist du bei uns, sei ganz ruhig, hab keine Angst. Du hast es geschafft."
All ihre Lieben, die vor ihr verstorben waren, standen Spalier, reichten ihr die Hände und riefen ein herzliches Willkommen.
Nein es war kein Traum, so etwas überirdisch Schönes konnte sie doch nicht geträumt haben ... nicht geträumt haben ... nein, kein Traum ... nein ...


Anmerkung von Annabell:

Abschnitt aus meinem esoterischen Roman JULCHENS IRRFAHRT.
I.M.

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(10.05.14)
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 Annabell meinte dazu am 11.05.14:
schön, daß Du den Text spannend gefunden hast. Ich danke Dir für Dein *chen.
Sonntagsgrüße von Annabell

 Fuchsiberlin (11.05.14)
Wer weiß schon, wie es dann sein wird ... Deine im Text beschriebene Möglichkeit kann man nicht ausschließen. Sehr interessant ge- und beschrieben.

Liebe Grüße
Jörg

 Annabell antwortete darauf am 11.05.14:
Hallo Jörg, ich freue mich sehr über Deinen Kommentar. Ja, wer weiß schon, was "danach" ist.
Dir einen schönen Sonntag und dankeschön fürs *chen.
LG Annabell
(Antwort korrigiert am 11.05.2014)

 Regina (11.05.14)
Beim zweiten Lesen kommt mir Goethe in den Sinn (ich hoffe, ich kriege das Zitat hin): "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, es will die eine sich von der andern trennen. Die eine hebt vom staub'gen Dust sich zum Gefilde hoher Ahnen, die andre hängt mit derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen."
Ein brilliant geschriebener Text, meiner Meinung nach aus Angelesenem, erhabener Moral und Wunschdenken, von Herzen zusammengestellt. Aber, meine liebe Freundin, letzten Endes Spekulation, wobei auch authentisch beschriebene Nahtoderfahrungen nur Vortodliches darstellen können.
Nebenbei: Einen Mord kann man bereuen, einen Unfall kann man nur betrauern.

 Annabell schrieb daraufhin am 11.05.14:
Liebe Freundin Regina, der Text entstand seinerzeit, als ich mehrere Bücher von Nahtoderfahrungen gelesen habe. Ich wollte einfach nur wissen, ob ich meinen ermordeten Sohn wieder sehen werde. Daraus entstand das Geschriebene (aus meinem Roman JULCHENS IRRFAHRT) . Dankeschön, daß Du Dich mit dem Text befaßt hast.
Einen schönen Sonntag wünscht Dir
Annabell
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