Der Dämon und ich (Auszüge I) - 2007

Roman

von  autoralexanderschwarz

Schlaflosigkeit

Atmen, regelmäßig, Luft einsaugen, durch die Nase, ausatmen, einatmen, die Augenlider aufeinander gepresst, die Leere im Kopf auf den Körper ausdehnen, nicht denken, atmen, atmen, atmen. Von einer Seite auf die andere, drehen, den Kopf anders betten, das Kissen zusammendrücken, keine Gedanken.

Ich muss sie fernhalten, jene Gedanken. Wie immer blicke ich hinüber zur Uhr, obwohl nichts so bedeutungslos ist, wie die Zeit, wenn man Angst hat.
„Wovor haben Sie Angst?“, hat der Doktor gefragt.
„Wovor habe ich Angst?“ Angst, Angst.
„Ich habe keine Angst“, in sein Gesicht gelogen und die misstrauischen kleinen Augen suchen meine Lüge, Angst, Schlaflosigkeit.
Die kleinen Augen des Doktors, der scharf ausrasierte Bart, nur zum Schein Koteletten.
In die Dunkelheit starren. Meine Augen sind jetzt offen, die Lider so schwer, wie immer.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, hat mal jemand gesagt, doch so ist sie nicht, meine Hoffnung.
Meine Hoffnung stirbt lange vor dem Körper, Hoffnung auf Schlaf, Hoffnung auf Frieden, ein verächtliches Lachen in die Dunkelheit.

Ich sehe tote Menschen, wenn ich träume, tote Menschen, die schreien, immer schreien sie, obwohl sie tot sind, allesamt schreien sie in mein rechtes Ohr, so laut sie können, in mein rechtes Ohr, während ich im linken mein eigenes Blut durch den Körper donnern höre, wie ein Zug, der durch einen Tunnel fährt, Donnern, atmen, regelmäßig, aber leise.
„Lassen Sie los!“, hat der Doktor gesagt, „lassen Sie los!“ Umringt von Schreien.
Manchmal höre ich sie schon, wenn ich noch wach bin, gefühllos kalt, hängen sie aneinander fest und schreien, weil es das einzige ist, dass sie noch können.

Sie geben mir kein Papier, damit ich nicht schreiben kann. Sie sagen, ich könnte mich mit dem Papier schneiden und ich verstehe die Besorgnis, weil eine Papierkante scharf ist, doch ich glaube auch, dass sie nicht wollen, dass ich schreibe, doch ich muss schreiben, um die Gedanken zu bannen, meine Gedanken, die mich nicht schlafen lassen. Wenn ich es niederschreibe, dann kann ich es verändern, Macht fließt durch den Stift, wenn meine Hand ihn hält und über das Blatt führt. Ich kann Gewissheit verändern und ihre Schreie stumm machen und hätte ich genügend Zeit, könnte ich mich bis zum Ende hindurch, bis zur Wurzel der Gedanken schreiben, einen Spaten erfinden, der sie mühelos durchtrennen würde. Mit den Fingernägeln habe ich mir Zeichen in die Haut getrieben, wobei jedes Zeichen für ein Wort, das Wort für einen Satz, der Satz für eine Geschichte steht, doch sie haben meine Hände gefesselt, fixiert, wie sie es nennen und so bleibt mir nicht einmal diese Flucht.

Ich muss hier raus, ich muss schreiben und ich warte auf ihn, damit er mir rät, denn er weiß immer einen Rat. Immer dann, wenn die Verzweiflung am größten, die Wut am hilflosesten ist, dann erscheint er mir. Ich habe ihn „den Dämon“ genannt, weil mir kein anderes Wort für ihn einfiel, Dämon. Wenn er kommt, dann finde ich Frieden. Er streicht mir dann über die verschwitzten Haare und seine Hand ist so kalt, dass ich zu mir komme. Er flüstert mir Dinge in mein linkes Ohr und obwohl ich ganz genau hinhören muss, um ihn zu verstehen, übertönt er doch die Stimmen der schreienden Toten, zeigt mir Dinge, die ich alleine nicht sehen kann und er findet immer eine Lösung. Manchmal spricht er sogar für mich. Ich ziehe mich dann einfach zurück in einen Zustand der Besinnungslosigkeit, lasse ihn hinein in meinen Kopf und beobachte hilflos staunend, wie er alles für mich regelt, bestimmt, Entscheidungen trifft, auf Kräfte zurückgreift, zu denen ich keinen Zugang habe. Manchmal schreibt er sogar für mich und wenn ich seine Zeilen lese, finde ich Trost, doch in dieser Nacht eilt er mir nicht zu Hilfe, versteckt sich hinter den Gedanken, hinter dem Atmen, hinter der Dunkelheit. Wieder ein Blick auf die Uhr, nur den Kopf kann ich bewegen, den Kopf, der so schwer ist. „Ruhe sanft, kleiner Dämon. Trinke Dich satt an meinen Gedanken, Gottfried Benn, Gedankenfetzen. Ich muss schreiben, doch ich darf nicht, atmen, immer wieder atmen. Ich bin es leid, atme für mich, mein Dämon, doch er erhört mich nicht.

„Geht es Ihnen besser?“, fragt der Doktor und
„den Umständen entsprechend“, antwortet der Dämon und verzieht mein Gesicht zu einem Lächeln.
„Den Umständen entsprechend gut oder schlecht?“
„Den Umständen entsprechend.“
„Haben die neuen Medikamente gewirkt? Konnten Sie diese Nacht schlafen?“
„Einige Stunden“, lügt der Dämon.
„Dann belassen wir es zunächst einmal bei der Medikation. Gibt es sonst noch etwas, dass Sie mir sagen möchten?“
„Ich hätte gerne eine Stunde Ausgang“, sagt der Dämon, „ich weiß, dass Sie mich nicht alleine hinaus lassen, aber in Begleitung eines Pflegers wäre es doch vielleicht möglich, ein wenig durch den Anstaltsgarten zu spazieren. Ich brauche Abwechslung, frische Luft.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagt der Doktor,
„prinzipiell spricht nichts dagegen, aber wir sind knapp besetzt. Vielleicht eine halbe Stunde. Ich werde mit den Pflegern sprechen.“
„Danke“, sagt der Dämon, dann verschwindet er.
„Sie müssen mir nicht danken“, sagt der Doktor, blickt mich noch einige Sekunden misstrauisch an, dann ist auch er verschwunden.

Ich habe mir einen Platz gesucht, an dem ich mich ungestört fühle, ein Stück abseits der anderen Patienten, die ihre betäubten Köpfe über Brettspielen zusammenstecken und gierig an ihren selbstgedrehten Zigaretten ziehen. Ich blicke lieber hinaus, durch die dicken Scheiben, die alles dahinter ein wenig verzerren und entarten.
„Siehst Du, was ich sehe?“, frage ich den Dämon, doch er antwortet mir nicht.
Draußen dämmert es bereits, Abenddämmerung. Dunkelheit kriecht aus den Bäumen und Sträuchern, die Schatten machen sich auf, um die Welt jenseits der Scheiben für einige Stunden zu erobern.
„Und in der Morgendämmerung werden sie fliehen“, denke ich und lache über die Sinnlosigkeit jeglicher Existenz.
Es braucht einige Zeit, um die ständigen Gesprächsfetzen, die von den anderen zu mir hinüber schwappen zu überhören, zu vergessen. Ich brauche immer etwas anderes, auf das ich mich konzentrieren kann und so habe ich einen der Bäume dort draußen zu meinem Baum gemacht, ihn kennengelernt und immer wenn ich hier sitze, betrachte ich nur ihn, löse ihn aus der Masse des Waldes, von der er ein Teil ist. Mein Baum ist kein auffälliger Baum und vielleicht war es gerade das, was ihn zu meinem Baum gemacht hat. Vielleicht hätte jemand anderes einen anderen Baum gewählt, die breite Eiche ein Stück weiter oder einen der Obstbäume, die im Sommer Früchte tragen. Mein Baum ist nichts als ein Baum, ein Stamm, Zweige, Blätter, weder in seiner Bedeutung, noch in seiner Gattung tritt er hervor, ein Baum, den man vergisst, sobald man ihn sieht.
„Er ist mehr als ein Baum“, flüstert der Dämon,
„er ist dein Baum, weil du ihn dazu gemacht hast.“
Ich schweige und lausche seinen Worten, warte, ob er dem noch irgendetwas hinzufügen will, doch er schweigt; manchmal ist er sehr schweigsam, mein Dämon.
In Momenten wie jenem fühle ich mich hilflos und das weiß er.
Manchmal nutzt er sogar meine Hilflosigkeit, um zu beweisen, dass selbst sein Schweigen mächtiger als jedes Wort von mir Anerkennung findet. Nichts bin ich als unentschlossenes Fleisch, wenn ich sitze und in mich horche, auf ihn warte, „bewegungsloses Fleisch“, denke ich und bewege meinen rechten Fuß, um den Gedanken zu vertreiben. Oft habe ich mich gefragt, wann der Zeitpunkt war, an dem wir uns getroffen haben, doch es gibt keine Antwort. Ich versuche mich an die frühesten Ereignisse zu erinnern, in denen er für mich da war, in denen er mir geraten hat, doch ich glaube fest, dass es ihn bereits vorher gab, dass er ein Teil von mir ist, seitdem ich begann zu atmen. Ich wusste es nur nicht.

Das erste Mal mit ihm gesprochen habe ich wohl in jener Nacht, als ich das erste Mal getötet habe, denke ich und denke dann über diesen Zusammenhang nach. Das Ende meiner Eltern, ihr Tod und die Geburt einer Freundschaft. Alles hängt irgendwie zusammen, eines scheint in das andere zu münden. Die explodierenden Schüsse und sein Lachen in meinem Kopf, unser Lachen vereint in dem kleinen Schlafzimmer. Ein starker Schwindel schüttelt mich und ich verkralle meine Hände in der Stuhllehne, denke, dass ich schreiben muss, dass gerade wieder so ein Moment verstreicht, der so leicht Genesung sein könnte. Ich muss schreiben, damit ich leben kann, aber sie geben mir keinen Stift. Innerhalb von einer Minute hat sich mein gesamtes Leben verändert, denke ich, wenn ich mich an jenen Moment erinnere, in dem ich die Schlafzimmertür aufstieß und mit jedem Schrei, den ich ausstieß, eine Kugel auf sie abfeuerte. Ich weiß noch genau, wie sie klingen, jene Schreie. Niemand darf denken, dass ich meine Eltern gehasst habe, ich habe sie immer so sehr geliebt, wie man Eltern nur lieben kann und sie waren gute Eltern, meine Eltern, die jetzt tot sind. Ich vermisse sie und nur der Dämon ist da, wenn ich Trost brauche. Und so schmerzhaft es ist, weiß ich wohl auch, dass sie mich geliebt haben, geliebt bis zum letzten blutigen Atemzug, dass ich ihr einziges war, dass sie alles waren, was ich hatte und doch habe ich mit dem Dämon gelacht, gelacht und geschrien, geschrien und gelacht.

Ich betrachte wieder den Baum genauer, meinen Baum, wie er sich dort draußen dem Wind beugt. Auch ich habe mich dem Wind gebeugt, bin Wind geworden und doch gefangen. Sie geben mir diese bunten Tabletten, für jeden Wahn eine andere Farbe, so als könnte man die Wahrheit heilen, die ich schmerzhaft gelernt habe. Wieder sehe ich mich vor diesem Bett, dem Bett, an das ich so häufig denke, Baum und Bett hängen irgendwie zusammen, denke ich, jenes Bett, in das ich mich als Kind immer flüchtete, wenn ich Angst alleine im Dunkeln hatte. Warm war es dort immer, warm und weich, Geborgenheit und die elterlichen Atemzüge. Dann denke ich an die Hölle, in die ich es getaucht habe. Die großen Löcher in dem Schlafanzug des Vaters, surreal durch den Stoff gerissen, die entsetzte Mutter, die nie wieder den Mund schließen würde, unglaublich rotes Blut, davor ein Nebel aus kleinen Daunenfedern.

„Denke nicht so viel!“, flüstert der Dämon und seine Stimme duldet keinen Widerspruch, obwohl sie bei jedem Wort freundschaftlich bleibt.
„Denke nicht so viel...“, dumpf hallen die Worte in meinem Kopf wider und ich blicke hinaus durch die dicken Scheiben, hinüber zu meinem Baum, den man nun fast nicht mehr in der Dunkelheit erkennen kann, meinem Baum, der ein so einfaches Leben führt, der sich nicht bewegen kann und trotzdem frei ist.

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