Guter Rat

Geschichte zum Thema Familie

von  unangepasste

Bis heute dachte ich, mit zweiundzwanzig zählte ich zu den jungen Leuten. Zwar war ich längst kein Kind mehr; Apothekenratgeber, tägliche Gemüseportionen und Mittagsschlaf blieben mir jedoch fremd.
Leider wurde dieses Weltbild schlagartig erschüttert, als ich pflichtbewusst Besuch bei meiner Oma abstattete. Nach einer doppelten Portion Mittagessen sank ich so tief in das Sofa, dass meine Knie beinahe den Boden berührten. „Nimm dir deinen Nachtisch“, sagte sie großzügig, und ich zwang mit einem gequält freundlichen Blick und Furchen in den Mundwinkeln Löffel für Löffel in mich hinein.
Auf einmal erkundigte sie sich nach meinem Exfreund: „Mit ihm triffst du dich noch ab und zu? Was macht er jetzt?“ Ein Stöhnen drang mir aus der Kehle, und tiefe Falten gruben sich in meine Stirn.
„Ich habe noch ein Geschenk für dich“, warf sie abrupt ein. Ich war erleichtert, dass sie das Thema wechselte, und lächelte wieder. „Du kennst bestimmt Yves Rocher. Weltweit sehr berühmt.“ Erst zögerte ich und versuchte, ihr Vorhaben zu erahnen. Dann ein Nicken. „Neulich haben sie mir einen Prospekt zugeschickt – wie die zu meiner Adresse kamen, weiß ich nicht –, jedenfalls konnte man dort bestellen und etwas gewinnen, und da dachte ich gleich an dich.“
Fragend blickte ich sie an. Auf einmal stieg eine dunkle Ahnung in mir auf. Meine Großmutter erhob sich und öffnete einen Schrank im Zimmer gegenüber. Ihre Tochter sei begeistert gewesen. „Sie ist sehr kritisch, was Kosmetik anbelangt. Vor kurzem war sie wieder bei mir, und es sah schon sehr viel besser aus.“
Sie stellte eine kleine Schachtel vor mir auf den Tisch. „Das ist noch für den Geburtstag. Mach es doch mal auf und probier ein bisschen.“ Ich las. Tatsächlich, ich hatte mich nicht getäuscht. „Superreiche Antifalten-Nachtcreme. Mit zehn wertvollen Pflanzenölen.“ Vorsichtig griff ich nach dem Deckel. Etwas Creme blieb daran haften. Meine Oma ging noch einmal in das andere Zimmer und schloss den Schrank wieder. „Hast du probiert?“
Ich schüttelte mit dem Kopf, tauchte dann jedoch, als ich kein Entkommen mehr sah, den Finger ins Gefäß und schmierte mir unsicher die Stirn ein. Vor meinem inneren Auge breitete sich ein fettiger Glanz aus. „Nimm doch noch ein bisschen mehr!“ Ein zweites Mal streifte ich über den Deckel und verstrich die Creme auf der Stirn.
Zu Hause betrachtete ich mich im Spiegel. Hatte ich selbst nie gemerkt, wie sich mein Aussehen verändert hatte? Ein paar Fältchen entdeckte ich tatsächlich, als ich das Gesicht zum Glas vorstreckte. „Du musst aufpassen, sie prägen sich ein Leben lang ein“, hallten in mir die Worte meiner Großmutter nach. Vielleicht sollte ich doch Seniorenratgeber lesen.


Anmerkung von unangepasste:

2004

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(26.04.15)
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 unangepasste meinte dazu am 26.04.15:
Vielleicht bin ich eine Ausnahme (Ich muss allerdings auch dazu sagen, dass ich mich noch nie geschminkt habe - von irgendwo muss ja mein Nickname kommen.) Noch fehlt mir der Glaube an die Wirkung, aber "babyhautglatte Seniorin" klingt schon sehr vielversprechend.
BellisParennis (49) antwortete darauf am 26.04.15:
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 AZU20 (26.04.15)
Wir cremen fast alle- mit Erfolg? Na ja. LG

 unangepasste schrieb daraufhin am 26.04.15:
Das ist die Frage Danke für deinen Kommentar.
Graeculus (69)
(26.04.15)
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 unangepasste äußerte darauf am 26.04.15:
Das stimmt. Das Zeug eignet sich auch gut, um sich nach dem Rasieren die Beine einzucremen Zweckentfremdung nicht im Sinne der Oma.

 EkkehartMittelberg (26.04.15)
Fast jede Hautcreme ist wie gute Medizin. Sie nützt nichts , aber schadet auch nicht. Deswegen würde ich sie in Anwesenheit von Oma fleißig nutzen. Das nützt ihrer guten Laune.

LG
Ekki

 unangepasste ergänzte dazu am 27.04.15:
Da hast du Recht.
Dieter Wal (58)
(28.04.15)
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 unangepasste meinte dazu am 28.04.15:
Danke. Die Weleda-Sanddornöl-Werbeversprechen sind mir bekannt Ob wirkungsvoller, sei dahingestellt.
Dieter Wal (58) meinte dazu am 30.04.15:
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