Als ich in der vierten Klasse war, musste ich die Fahrradprüfung bestehen. Dieses Ziel war ein Teil des Lehrplans, auch an Waldorfschulen. Zu diesem Zweck hatten wir ein spezielles Heft angelegt. Tag für Tag malten wir Verkehrsschilder von der Tafel ab und schrieben die Regeln dazu. Meine Mutter legte großen Wert darauf, dass ich die Inhalte auswendig lernte. Während ich auf der Treppe zur Terrasse saß und mir die Sonne ins Gesicht schien, musste ich aufzählen, wie sich ein Linksabbieger zu verhalten hatte: „Umsehen, Handzeichen geben, einordnen …“
Mein Interesse daran war gering. Meine Mutter wusste, dass ich eine Wackelkandidatin war. Zwar hatte ich mit meinen Geschwistern das Fahrradfahren gelernt, aber die Freude blieb schon bald aus.
Da meine Eltern Stützräder für schlechte Erziehung hielten, mussten wir von Beginn an das Gleichgewicht halten. Wir gingen auf den Hof der nahegelegenen Grundschule und bekamen eine Aufgabe: In einer Ecke war eine Sonne auf den Asphalt gemalt. Nun galt es, loszufahren und in der Mitte zwischen den Strahlen zu bremsen. Mein Bruder bestand den Test. Ich ließ mich auf den gewünschten Fleck fallen.
In der Garage meines Vaters gab es einen großen Vorrat an Fahrrädern. Manche funktionierten, andere dienten als Ersatzteillager. Eines Tages, als ich mich schon sicher auf meinem Rad fortbewegen konnte, holte er ein großes, silbernes hervor. „Das andere ist zu klein für dich“, sagte er. „Das bekommt jetzt deine Schwester.“ Ich versuchte, aufzusteigen. Dafür schob ich die Pedale in die gewohnte Stellung. Doch ich konnte es nicht; es war zu groß. Mein Vater schraubte den Sattel herunter. „Jetzt ist es perfekt“. Doch ich kam immer noch nicht mit den Füßen auf den Boden. Um loszufahren, musste ich das Rad schräg halten. Mit einem Schwung während des Aufstiegs sollte ich in eine gerade Position finden. Das war zu viel für mich. Von dem Tag an wusste ich: Ich kann nicht Fahrrad fahren.
Anders verhielt es sich mit dem Einrad, das ich eines Tages neben dem Geburtstagstisch fand. Nachdem ich am Gartenzaun und an den Schultern meiner Mutter etwas geübt hatte, fuhr ich regelmäßig auf den Spielplatz. Ich erkannte, wie viel einfacher dieses handliche Gerät zu bedienen war. Es bedeckte mich nicht, wenn ich umfiel, und es hatte auch keinen Lenker, der auf meiner Stirn landen konnte. Bevor etwas passierte, war ich abgesprungen. Da ich mich immer geschickter darauf bewegte und während der Fahrt sogar mit Tüchern jonglierte, glaubten mir die anderen nicht, dass ich mit einem Fahrrad nicht ebenso leicht durch die Straßen rollen konnte. „Du willst es nur nicht“, sagten die Erwachsenen und warfen mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Anfangs musste ich an den Radtouren der Familie noch teilnehmen, konnte aber in der Geschwindigkeit nicht mithalten. Einmal gewannen die anderen so viel Vorsprung, dass ich sie aus den Augen verlor. Ich bremste, stieg ab und brach in Tränen aus. Ab diesem Zeitpunkt war das Verhältnis zwischen dem Fahrrad und mir endgültig gebrochen, und meinen Eltern war Theater und Geschrei sicher, wollten sie mich noch einmal zwingen.
Den theoretischen Stoff der Prüfung konnte mir meine Mutter zwar einhämmern. Was jedoch den praktischen Teil betraf, sah sie sich weniger in der Lage. Und so organisierte sie etwas „Besonderes“ für mich: Ich sollte ein Wochenende bei meinem Lehrer verbringen. Wir starteten am Freitagabend mit Spinat, den ich verweigerte. Mit den Töchtern verstand ich mich schnell. Wie wir es schafften, die geplante Fahrradtour in einen Besuch des Stadteil-Festes umzuwandeln, ist mir bis heute ein Rätsel; doch tatsächlich gelang es uns, ohne Erwachsene loszufahren. Unser Ziel bot einen Stand für Mädchen, die sich blaue oder grüne Strähnen wünschten. Wir reihten uns in die Schlange. Natürlich war uns als Kinder dogmatischer Anthroposophen künstliche Farbe im Haar verboten. Die Jüngste von uns wagte es dennoch und wurde am Abend mit einer Badewanne bestraft.
Am nächsten Morgen stellte der Lehrer fest, dass ich zu wenig geübt hatte und entschied sich als Gegenmaßnahme für eine Radtour zur nahegelegenen Kirche. Dort holten mich meine Eltern ab – nach dem Kindergottesdienst selbstverständlich.
Am Tag der Prüfung machte sich Aufregung breit – schließlich kannten die meisten meiner Klassenkameraden in ihrem zehnjährigen Leben keine vergleichbare Situation. Ich spürte von dieser Nervosität nichts, denn mir war das Ergebnis gleichgültig. Noch immer war es dem Lehrer nicht gelungen, mir die richtige Einstellung beizubringen. Da ich nicht wusste, ob ich umkippen würde, wenn ich den Arm ausstreckte, hielt ich es für besser, auch in den Kurven das Lenkrad zu umklammern.
„Auf dem Einrad musst du immer beide Hände ausstrecken. Jetzt rede nicht so einen Quatsch!“, sagten die Erwachsenen.
Am Ende bekam ich ein Lineal, das mit aufgemalten Verkehrszeichen geschmückt war. Die Erfolgreichen erhielten ein Abzeichen. Was sollte ich mit einem Stofffetzen überhaupt anfangen, fragte ich mich.
Mein Lehrer sah das anders. Im Folgejahr musste ich noch einmal zur Prüfung antreten. Was ich nach Hause brachte: ein zweites Lineal.