Vor dem Gesetz
Gleichnis
von autoralexanderschwarz
Vor dem Gesetz steht ein Zaun, vor dem Zaun ein Wächter, der dem Verzweifelten mit ernster Miene entgegenblickt. Der Verzweifelte aber missdeutet die Situation, sein Blick schlüpft schon durch die eisernen Maschen, streicht über Flüsse und Täler und glaubt in all dem schimmernd bereits die Gerechtigkeit zu sehen. Noch wähnt er sich am Ziel einer langen Reise und wäre sein Respekt vor dem Wächter nicht so groß gewesen, hätte er ihn wie einen Freund in die Arme geschlossen.
"Ich bitte um Einlass, weil ich ein Mensch bin", flüstert der Verzweifelte und erschrickt über die Schwäche seiner Stimme. Seit vielen Stunden hat er nichts mehr gegessen und der letzte Abhang ist besonders steil gewesen.
"Dann zeig mal deine Papiere", sagt der Wächter mit viel Wärme, so wie man sich auf das Spiel eines Kindes einlässt. Er hat viele Verzweifelte kommen und gehen gesehen und ist doch immer wieder überrascht, wie arglos sie über das Gesetz denken.
Hastig kramt der Verzweifelte in seinen Taschen, sucht und wühlt mit immer hektischeren Bewegungen, bis er schließlich mit einem kleinen Freudenschrei ein Papier hervorzieht, glattstreicht und es dem Wächter reicht. "Würde" steht dort in kleinen Buchstaben neben einem Lichtbild des Verzweifelten, darunter eine Unterschrift und ein amtlicher Stempel.
Mit leuchtenden Augen beobachtet der Verzweifelte, wie der Wächter das Papier studiert, immer wieder prüfend mit dem Finger über den Stempel streicht, "es ist echt", ruft der Verzweifelte, um den Wächter die Prüfung zu erleichtern. "Dort, wo ich herkomme, haben sie meine Frau und mein kleines Kind gehäutet."
Der Wächter aber schüttelt langsam den Kopf. Er hat in all den Jahren mit so vielen Verzweifelten gesprochen, dass er beinahe Psychologe geworden ist. Mit dem Alter sind seine Worte immer behutsamer geworden.
"Ich kann dir nicht helfen", sagt der Wächter, "ich halte dich aber auch nicht auf."
Der Verzweifelte erstarrt, spürt, dass da etwas nicht stimmt, aber noch durchschaut er das Ganze nicht. Sein Blick sucht eine Lücke im Zaun, doch die gibt es nicht. Undurchdringbar ragt Pfahl neben Pfahl aus dem Boden und durch das dichte Maschennetz rankt sich glänzender Stacheldraht. Scharfe Zacken ragen aus dem Metall, die schon bei leichter Berührung die Handflächen zerschneiden müssen.
"Aber ich habe gedacht, dass das Gesetz für alle gleich ist", ruft der Verzweifelte und seine Stimme klingt beinahe wütend, aber auch trotzig, wie die eines kleinen Kindes. Ein letztes Mal fühlt er in sich die Kraft, die ihn durch das Elend hindurch bis zu diesem Zaun getragen hat, die Empörung und die Wut über das eigene Schicksal.
Der Wächter reicht dem Verzweifelten sein Papier zurück und berührt ihn dabei leicht an der Hand, weil er in den Jahren gelernt hat, dass selbst eine kleine Berührung manchem Verzweifelten ein Trost sein kann.
"Wo ist der Durchgang?", fragt der Verzweifelte und weil seine Beine immer schwächer werden, lässt er sich langsam auf den Boden sinken. Ehrfürchtig blickt er von dort an dem Zaun empor und dann wieder zu dem Wächter, der sich ihm gegenüber auf den Boden setzt.
"Es gibt keinen Durchgang", sagt der Wächter nach einer Weile, "deine Papiere gelten hier noch nicht. Sie gelten erst, wenn du bereits in dem Gesetz bist, doch hinter diesem Zaun beginnen noch nicht einmal die Randbereiche."
"Aber du hast gesagt, dass du mich nicht aufhältst", flüstert der Verzweifelte und seine Stimme ist nicht viel mehr als ein Krächzen. Er braucht beide Arme, um den schwachen Körper auf dem Boden abzustützen.
"Ich halte dich nicht auf", sagt der Wächter tröstend. "Du kannst all deinen Mut zusammennehmen und diesen Zaun übersteigen. Manch einer vor dir hat das schon versucht, manche haben es geschafft, andere sind in ihm verblutet, aber bedenke eins: Ich bin nur der erste und niedrigste der Wächter, dies hier ist der erste und niedrigste Zaun. Bereits der nächste soll mehr als doppelt so hoch sein und es heißt, dass der Wächter dort ganz anders mit den Verzweifelten umgeht..."
Der Verzweifelte lauscht den Worten des Wächters, doch er ist mehr und mehr abgelenkt, kann sich nicht mehr konzentrieren. Die Schwäche ist aus den Gliedern in den Kopf gestiegen, der immer schwerer wird und langsam und wie von selbst zu Boden sinkt. Noch immer hält der Verzweifelte das Papier in der Hand, so als hätte es noch eine Bedeutung. Dann werden seine Augenlider schwerer. Sein letzter Blick gilt dem Wächter, der sich kopfschüttelnd erhebt, dann einem Flugzeug, das sich weit über ihnen mit träger Eleganz - so als gäbe es keine Zäune - durch die Wolken schiebt.
"Ich bitte um Einlass, weil ich ein Mensch bin", flüstert der Verzweifelte und erschrickt über die Schwäche seiner Stimme. Seit vielen Stunden hat er nichts mehr gegessen und der letzte Abhang ist besonders steil gewesen.
"Dann zeig mal deine Papiere", sagt der Wächter mit viel Wärme, so wie man sich auf das Spiel eines Kindes einlässt. Er hat viele Verzweifelte kommen und gehen gesehen und ist doch immer wieder überrascht, wie arglos sie über das Gesetz denken.
Hastig kramt der Verzweifelte in seinen Taschen, sucht und wühlt mit immer hektischeren Bewegungen, bis er schließlich mit einem kleinen Freudenschrei ein Papier hervorzieht, glattstreicht und es dem Wächter reicht. "Würde" steht dort in kleinen Buchstaben neben einem Lichtbild des Verzweifelten, darunter eine Unterschrift und ein amtlicher Stempel.
Mit leuchtenden Augen beobachtet der Verzweifelte, wie der Wächter das Papier studiert, immer wieder prüfend mit dem Finger über den Stempel streicht, "es ist echt", ruft der Verzweifelte, um den Wächter die Prüfung zu erleichtern. "Dort, wo ich herkomme, haben sie meine Frau und mein kleines Kind gehäutet."
Der Wächter aber schüttelt langsam den Kopf. Er hat in all den Jahren mit so vielen Verzweifelten gesprochen, dass er beinahe Psychologe geworden ist. Mit dem Alter sind seine Worte immer behutsamer geworden.
"Ich kann dir nicht helfen", sagt der Wächter, "ich halte dich aber auch nicht auf."
Der Verzweifelte erstarrt, spürt, dass da etwas nicht stimmt, aber noch durchschaut er das Ganze nicht. Sein Blick sucht eine Lücke im Zaun, doch die gibt es nicht. Undurchdringbar ragt Pfahl neben Pfahl aus dem Boden und durch das dichte Maschennetz rankt sich glänzender Stacheldraht. Scharfe Zacken ragen aus dem Metall, die schon bei leichter Berührung die Handflächen zerschneiden müssen.
"Aber ich habe gedacht, dass das Gesetz für alle gleich ist", ruft der Verzweifelte und seine Stimme klingt beinahe wütend, aber auch trotzig, wie die eines kleinen Kindes. Ein letztes Mal fühlt er in sich die Kraft, die ihn durch das Elend hindurch bis zu diesem Zaun getragen hat, die Empörung und die Wut über das eigene Schicksal.
Der Wächter reicht dem Verzweifelten sein Papier zurück und berührt ihn dabei leicht an der Hand, weil er in den Jahren gelernt hat, dass selbst eine kleine Berührung manchem Verzweifelten ein Trost sein kann.
"Wo ist der Durchgang?", fragt der Verzweifelte und weil seine Beine immer schwächer werden, lässt er sich langsam auf den Boden sinken. Ehrfürchtig blickt er von dort an dem Zaun empor und dann wieder zu dem Wächter, der sich ihm gegenüber auf den Boden setzt.
"Es gibt keinen Durchgang", sagt der Wächter nach einer Weile, "deine Papiere gelten hier noch nicht. Sie gelten erst, wenn du bereits in dem Gesetz bist, doch hinter diesem Zaun beginnen noch nicht einmal die Randbereiche."
"Aber du hast gesagt, dass du mich nicht aufhältst", flüstert der Verzweifelte und seine Stimme ist nicht viel mehr als ein Krächzen. Er braucht beide Arme, um den schwachen Körper auf dem Boden abzustützen.
"Ich halte dich nicht auf", sagt der Wächter tröstend. "Du kannst all deinen Mut zusammennehmen und diesen Zaun übersteigen. Manch einer vor dir hat das schon versucht, manche haben es geschafft, andere sind in ihm verblutet, aber bedenke eins: Ich bin nur der erste und niedrigste der Wächter, dies hier ist der erste und niedrigste Zaun. Bereits der nächste soll mehr als doppelt so hoch sein und es heißt, dass der Wächter dort ganz anders mit den Verzweifelten umgeht..."
Der Verzweifelte lauscht den Worten des Wächters, doch er ist mehr und mehr abgelenkt, kann sich nicht mehr konzentrieren. Die Schwäche ist aus den Gliedern in den Kopf gestiegen, der immer schwerer wird und langsam und wie von selbst zu Boden sinkt. Noch immer hält der Verzweifelte das Papier in der Hand, so als hätte es noch eine Bedeutung. Dann werden seine Augenlider schwerer. Sein letzter Blick gilt dem Wächter, der sich kopfschüttelnd erhebt, dann einem Flugzeug, das sich weit über ihnen mit träger Eleganz - so als gäbe es keine Zäune - durch die Wolken schiebt.
Anmerkung von autoralexanderschwarz:
Der Text bezieht sich auf "Vor dem Gesetz" von Franz Kafka, das Teil des Romanfragmentes "der Proceß" ist.