Der Rat der Dreihundert

Kurzgeschichte

von  youngShadow

Der Rat der Dreihundert


Es war schon später Abend, als sie mein Büro betrat. Sie trug ein elegantes Kostüm und wirkte irgendwie fehl platziert in meinem düsteren Zimmer.
In ihrem Blick lag etwas ängstliches, die Hand, die sie mir entgegen streckte, zitterte leicht.
Ihr blondes Haar war zu einem strammen Zopf zurückgebunden, der goldene Haarreif, der es zurück hielt, sah echt aus.
Wäre ihre Nase ein wenig kürzer gewesen, hätte man sie durchaus als Schönheit bezeichnen können.
Sie stellte sich als Maria Harder vor, zog aus ihrer kleinen Handtasche eine Packung Zigaretten und sah mich dann mit großen, blauen Augen an.
Ich nickte.
Sie zündete sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, bevor sie weitersprach.
Dann sagte sie den Satz, den man aus dutzenden schlechten Krimi- oder Detektivromanen kennt, und der doch schon so oft in meinem Büro gefallen war:
„Ich brauche ihre Hilfe!“
Ich nickte erneut und gab ihr dadurch zu verstehen, sie solle erzählen.
Für einen Moment sah sie gedankenverloren auf die vielen Filmplakate, die es aus meiner Wohnung in mein kleines Büro geschafft hatten. Ich besaß von jedem Film, den ich je in einem Lichtspielhaus gesehen hatte, ein Poster. Viele davon hatte ich rahmen lassen und aufgehängt. Eine Angewohnheit, die ich seit meinem ersten Kinobesuch vor dreißig Jahren nicht mehr abgelegt hatte.
Ich räusperte mich.
„Bitte erzählen Sie, Frau Harder.“
„Ich habe Angst“, begann sie, „Angst, dass man auch mich umbringen wird. Heimlich, und so das es aussieht, als wäre es ein Unfall.“
„Wer möchte Sie umbringen Frau Harder?“, wollte ich wissen.
„Die Organisation. Der Rat der Dreihundert.“
Die letzten Worte hatte sie geflüstert, so als hätte sie Angst, jemand könnte unser Gespräch mit anhören.
„Die Organisation? Was ist die Organisation oder der Rat der Dreihundert, und warum gehen Sie nicht zur Polizei, wenn Sie glauben, man möchte sie umbringen?“
„Wegen Anna. Die Polizei steckt da mit drin, hat sie vielleicht sogar umgebracht. “
„Normalerweise bringt die Polizei keine Menschen um, Frau Harder. Sie ist dazu da, sie zu beschützen“, entgegnete ich.
„Sie glauben mir nicht“, sagte sie und drückte die Zigarette aus.
„Das habe ich nicht gesagt. Sagen Sie mir, was die Organisation ist.“
Eine Veränderung ging plötzlich in ihrem Gesicht vor. Sie sah nicht mehr ängstlich, sondern fest entschlossen aus. Sie erhob sich aus ihrem Stuhl und beugte sich über den Schreibtisch zu mir herüber. Instinktiv wich ich ein Stück zurück. Jetzt loderten Flammen in ihren Augen.
„Die Organisation ist überall. Jeden Tag umgibt sie uns, zu jeder Stunde. Sie kontrolliert uns, schreibt uns vor, was wir zu denken haben, wen wir wählen sollen. Sie kontrolliert alles.“
„Sie reden von Politik?“
„Politiker sind nur ihre Marionetten. Krawattensklaven die tun, was die Organisation verlangt.
Helfen Sie mir Beweise zu sammeln, die Menschen müssen davon erfahren. Ich habe Unterlagen gefunden, die..“
Allmählich wurde es mir zu bunt und ich unterbrach sie.
„Wir sollen also zusammen die Welt retten, Frau Harder, okay, ich bekomme zweihundert pro Tag.“
Ich hatte es so trocken wie möglich gesagt, mir das Grinsen verkniffen, aber in meinen Augen muss sie es trotzdem gesehen haben.
Sie ließ sich zurück in ihren Stuhl fallen und lächelte bitter.
„Es tut mir leid ihre Zeit in Anspruch genommen zu haben.“
Sie stand auf, und wieder veränderte sich ihr Gesicht. Der ängstliche, fast panische Gesichtsausdruck war zurückgekehrt.
„Warten Sie noch einen Moment Frau Harder“, sagte ich, „ich wollte Sie nicht beleidigen, aber es fällt mir schwer an eine derartige Überorganisation zu glauben.“
„Es gibt sie aber.“  Sie öffnete die Tür und ging.

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Der nächste Morgen begann für mich wie immer. Ich stand etwa gegen zehn Uhr auf, drückte den Startknopf der Senseo Maschine und erledigte die Morgentoilette.
Ich zog mich an und lief dann zum Briefkasten.
Die Tageszeitung, dazwischen jede Menge Werbung.
Ich ließ mich in der Küche nieder und begann die Zeitung zu lesen.
Der Artikel auf Seite zwei riss mich aus meiner Morgenlethargie. Ich atmete den Schluck Kaffee ein, der sich gerade in meinem Mund befand und hustete, bis mir die Tränen in die Augen schossen.
In dem Bericht stand, dass sich eine junge Frau etwa gegen neunzehn Uhr dreißig des gestrigen Abends vor die S-Bahn in der Zähringer Straße geschmissen hatte und dabei ums Leben gekommen war.
Das waren keine zweihundert Meter von meinem Büro entfernt, und etwa zehn Minuten nachdem Frau Harder mein Büro verlassen hatte.
Es musste sich nicht zwangsläufig um Maria Harder handeln, doch der Gedanke lag nahe.
Den restlichen morgen zerbrach ich mir den Kopf darüber.
Ich beschloss, George, ein befreundeter Polizist, anzurufen.
Ich erreichte nur seine Mailbox und hinterließ ihm eine Nachricht, dass er mich zurückrufen solle.

Die gestrige Begegnung war seltsam aber nicht ungewöhnlich gewesen.
Ich hatte schon oft Fälle erlebt, bei denen sich Menschen in eine Sache hineinsteigerten.
Oftmals hatte ich herausgefunden, dass sich etwa hinter der scheinbar betrogenen Ehefrau nur ein zwanghaft eifersüchtiger Ehepartner verbarg, und auf die Karte eines mir befreundeten Psychologen verwiesen.
Frau Harder schien mir gestern, trotz ihrer verschwörerischen Behauptungen, bei klarem Verstand gewesen zu sein. Auf mich hatte sie verängstigt, nicht aber selbstmordgefährdet gewirkt.
Wohl möglich handelte es sich auch nur um einen seltsamen Zufall. Klarheit würde mir nur das Gespräch mit George bringen.
Etwa zwei Stunden später rief er an.

„Kannst du mir sagen, wie die junge Frau hieß, die sich gestern vor die Bahn geschmissen hat?“
„Ein Moment“, ich hörte ihn auf seine Tastatur einschlagen, „ja kann ich, Maria Harder, achtundzwanzig, von Beruf Tochter, ihrem Vater ist Simon Harder, der Ölbaron.
Übles Ding, war nicht mehr viel von ihr übrig, die Bahn hat sie voll erwischt.“
„Verdammt“, sagte ich.
„Kanntest du sie?“, wollte Peter wissen.
„Nein, nicht wirklich. Sie war gestern Abend bei mir. Kurz bevor, naja, die Bahn sie erwischt hat.
Sie hatte Angst, fühlte sich verfolgt und in Gefahr.“
„Robert, wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen, dass ist Aufgabe der Polizei.“
Ich ignorierte seinen Hinweis.
„Ist dem Fahrer der Bahn irgendetwas aufgefallen? Hat er etwas gesehen, irgendjemanden wegrennen vielleicht?“
„Einen Moment“, wieder wildes Einhauen auf die Tastatur. So wie es sich anhörte,  musste er wahrscheinlich wöchentlich eine neue beantragen. Dann fuhr er fort: „nein, niemanden, sie ist plötzlich und aus heiterem Himmel auf die Geleise gesprungen.“
„Kannst du mir vielleicht den Namen des Fahrers geben?“
„Moment, ah hier, Marcel Knöpfler, Moosgrund 12.“
„Danke George, du bist klasse! Wir sollten mal wieder was zusammen trinken gehen.“
„Wenn da irgendetwas dran ist, Rob, sag mir Bescheid, okay?
„Mach ich.“ Ich legte auf.

Ich fuhr in mein Büro, und verbrachte die nächsten paar Stunden damit, über meinen gestrigen Besuch nachzudenken.
Gegen Mittag fuhr ich in die Stadt und schoss ein paar Fotos von einem Fremdgeher, der sich zum wiederholten Male außerehelichen Sex genehmigte.
Diese Art von Fällen war meine Haupteinnahmequelle. Nie sonderlich aufregend, und meist nach dem gleichen Schema ablaufend.
Ich kehrte in mein Büro zurück und sah das rote Licht meines Anrufbeantworters blinken.

„Guten Tag Herr Hoffmann, mein Name ist Sebastian Schmidt, ich würde gerne mit ihnen über Frau Harder sprechen. Ich werde Sie morgen um siebzehn Uhr in ihrem Büro aufsuchen. Ich hoffe, Sie haben Zeit.“

Der Name Schmidt sagte mir nichts, vielleicht der Freund. Oder ein enger Bekannter. Für beide Optionen klang seine Nachricht jedoch seltsam teilnahmslos.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. Etwa gegen acht Uhr wollte ich den S-Bahnfahrer zuhause besuchen. Ich hoffte nur, dass er keine Spätschicht hatte. Vielleicht hatte er ja auch frei bekommen.

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Es war einer dieser schändlichen Neubauten, welche das altertümliche Stadtbild immer weiter verfremdeten. Die eckigen Formen und die riesigen Fenster waren mir zuwider.
Ich klingelte. In der Gegensprechanlage erklang eine raue Stimme: „Wer ist da?“
Hallo, mein Name ist Robert Hoffmann, ich würde gerne mit ihnen über den den Vorfall, der sich gestern auf ihrer Strecke zugetragen hat, sprechen.“
„Ich hab' mit euch doch schon gesprochen.“ Eine kurze Pause, dann „ kommen Sie hoch, vierter Stock.“
Ein Summen erklang und ich öffnete die Tür.
Mit „euch“ hatte er sicherlich die Polizei gemeint. Ich beschloss, ihn vorerst in dem Glauben zu lassen, ich wäre ein Polizist.
Ich hasse Fahrstühle, hatte sie immer gehasst. Der wenige Platz, das blinde Vertrauen in die Technik, die dünnen Seile, die den tonnenschweren Fahrstuhl hielten.
Ich nahm die Treppe.

Ein dicklicher Mann, mit Halbglatze und dunklen Schweißflecken unter den Armen öffnete mir die Tür. Er trat einen Schritt zur Seite und ich zwängte mich an ihm vorbei in seine Wohnung.
Ein muffiger Geruch, so als hätte er seit Tagen nicht gelüftet, schlug mir entgegen.
Er deutete auf ein abgenutztes Sofa und ich nahm Platz.
„Was kann ich für Sie tun, Herr Hoffmann? Ich habe ihren Kollegen doch schon alles erzählt.“
Auch er setzte sich jetzt in einen Sessel, der mir gegenüber stand.
Sein graues Hemd rutschte ein Stück nach oben und entblößte dabei Teile seiner weißen Haut.
„Erzählen Sie es noch einmal. Was ist genau passiert? Und können Sie ein Fenster öffnen?“
Er erhob sich mühsam aus seinem Sessel und öffnete eines der großen Fenster.
Mir fiel auf, dass er einen Moment zulange auf die Straße hinaussah, als ob er etwas suchte oder nach jemandem Ausschau hielt.
Er kehrte zurück und fing an: „Es war kurz vor Feierabend, die drittletzte Station.
Sie kam einfach aus dem nichts, sprang auf die Geleise und Boom!
Hab' sie voll erwischt, hatte keine Zeit zu bremsen, verdammt, ich konnte nichts machen.“
Er griff nach einer Flasche auf dem Tisch, zog die Hand aber zurück, als er sich bewusst wurde, dass er nicht alleine war. 
Die Flüssigkeit war klar, dass Etikett darauf russisch.
„Wie lange sind sie schon S-Bahnfahrer?“
„Zwanzig Jahre“, er verdrehte die Augen und schien nachzurechnen, „nächste Woche einundzwanzig Jahre.“
„Die Stationen, wie sind die Abends beleuchtet?“
Er lachte auf.
„Was weiß ich. Schaun Sie doch nach.“
„Sagen Sie es mir.“
„Wie Sie meinen. Da sind große Scheinwerfer an den Unterständen, und Straßenlaternen alle dreißig Meter.“
„Wäre da jemand gewesen, außer der Frau, hätten Sie ihn also sicher gesehen?“
„Natürlich.“
Er fuhr sich nervös durch sein spärliches Haar und griff erneut nach der Flasche.
Diesmal zog er die Hand nicht zurück, sondern nahm einen großen Schluck.
„Sind Sie sicher, dass Sie niemanden gesehen haben, Herr Knöpfler?
„Da war nur sie.“
Ich schlug mir mit den Handflächen auf die Schenkel, dann stand ich auf.
„Danke, Herr Knöpfler, Sie haben mir sehr geholfen.“
Das hatte er wahrlich, ich glaubte ihm kein Wort.
Ich war froh, aus der muffigen Wohnung zu kommen.
Im hinausgehen hörte ich, wie er die Flasche erneut ansetzte.

Das Treppenhaus war dunkel und ich brauchte einen Moment, bis ich den Lichtschalter fand.
In der Millisekunde zwischen Dunkelheit und Licht war mir, als hätte ich den Schatten eines Mannes eine Etage über mir gesehen.
Ich blieb noch einen Atemzug länger stehen, legte den Kopf schief, und horchte ins Treppenhaus.
Dann lief ich die Treppe hinunter und zu meinem Wagen.
Beim Ausparken sah ich im Rückspiegel einen Mann aus der Haustür kommen.
Es war jedoch zu dunkel um sein Gesicht zu erkennen.
Als ich gewendet hatte, war er verschwunden.

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„Guten Tag, Herr Hoffmann.“
Sebastian Schmidt reichte mir seine riesige Hand und ich erwiderte seinen kräftigen Händedruck.
Der Mann war groß, ich schätzte ihn auf mindestens einen Meter fünfundneunzig.
Er hatte einen Aktenkoffer dabei, schwarzes Leder, einer von der teuren Sorte.
Er konnte nur Anwalt sein.
Seine intelligenten Augen musterten mein schäbiges Büro.
„Sie mögen Filme“, sagte er.
Er war wirklich ein helles Kerlchen.
„Ja.“
Er deutete auf das Poster von Metropolis.
„Klassiker.“
Ich nickte.  Für meine Empfinden war es nun genug an Smalltalk.
„Sie wollten mit mir über Frau Harder sprechen, nun?“
Seine Mine verfinsterte sich.
„Ja, das möchte ich. Ich komme im Auftrag der Familie Harder.
Maria Harder war eine labile Person, sie hatte Probleme psychischer Art. 
Sie hatte Wahnvorstellungen, war nicht bei sich.
Es war ein schwerer Schlag für die Familie, sie machen sich schreckliche Vorwürfe, ihr nicht richtig geholfen zu haben. Sie möchten, dass Sie die Toten ruhen lassen und keine weiteren Nachforschungen mehr betreiben.
Herr Harder ist so großzügig und bietet ihnen eine kleine Entlöhnung an. Für all ihre bisherigen Mühen.“
Er grinste mich an, und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne.
Dann öffnete er den Aktenkoffer und zog einen braunen Umschlag heraus.
„Er braucht mir nichts zu geben, sagen Sie ihm das. Es war nie mein Fall.
Es ist traurig, was passiert ist, aber wie gesagt, es war nie mein Fall.“
„Umso besser.“
Er stand auf.
„Lassen Sie die Toten ruhen“, sagte er noch einmal.
Er zeigte auf das Poster von 'der Pate'.
„Klassiker.“

Durch das Fenster sah ich ihn in einen schwarzen BMW einsteigen. Hinten.
Es war nie mein Fall, hatte ich zu ihm gesagt, aber stimmte das?
Im Prinzip war es so, ich bekam kein Geld für meine Nachforschungen und hatte so gut wie keine Hintergrundinformationen von Frau Harder erhalten. Dass sie ermordet wurde, stand für mich außer Zweifel. Mein Besuch in der muffigen Wohnung des S-Bahnfahrers, und letztendlich der Auftritt des Anwalts, bestätigten meine Vermutung. Irgendetwas war definitiv faul.
Aber war es mein Fall?
Nein, aber irgendwie spürte ich auch den Sog des Ganzen. Hier war bereits irgendetwas am Laufen, und ich war mittendrin.
Ich fuhr meinen Laptop hoch und gab den Namen Simon Harder bei google ein.
Die Informationen über ihn waren äußerst spärlich, seit 1988 Geschäftsführer der Harder AG, wohnhaft in Stuttgart, verheiratet, Vater von einer Tochter.
Die Präsentation seines Unternehmens hingegen war äußerst detailliert.
Weit über tausend Mitarbeiter allein in Stuttgart, Zweigstellen in den USA, Indien, China und in Dubai. Mehrere Milliarden Jahresumsatz.
Das Unternehmen war eines der wenigen, das während der Wirtschaftskrise seinen Umsatz sogar noch steigern konnte. Kaum Kursverluste an den Börsen und stetig wachsend. Ein wahrhaftes Musterunternehmen.
Als nächstes gab ich den Namen von Maria Harder ein.
Der erste Treffer war ein Bericht in einer Klatschzeitung. Ein Bild zeigte Maria in einer wunderschönen roten Robe während einer Chairityveranstaltung in Berlin. Sie hielt ein Sektglas in der Hand und lachte ausgelassen mit einer anderen jungen Frau. Keine Spur von der verängstigten Person, die vor zwei Tagen mein Büro betreten hatte. Der Bericht war nicht alt, die Veranstaltung lag etwa zweieinhalb Monate zurück.
Irgendetwas war seitdem mit ihr geschehen.
Unter dem Foto stand, Maria Harder freut sich zusammen mit Anna Hilbert über die hohe Spendensumme.
Ich öffnete ein zweites Fenster und gab den Namen Anna Hilbert bei der Suchmaschine ein.
Der erste Treffer kam ebenfalls aus der Klatschpresse.
'Anna Hilbert stirbt bei tragischem Autounfall', lautete die Überschrift des Artikels.
Sie war von der Straße abgekommen und frontal in einen Baum gerast.
Anna war, ebenso wie Maria, Tochter eines schwerreichen Unternehmers.
Der Unfall war erst vor wenigen Wochen passiert.
Ich spürte wieder den Sog, ein Gefühl banger Erwartung.
Ich brauchte Informationen.

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„Hey George, ich brauch nochmals deine Hilfe. Könntest du mir den Polizeibericht über Anna Hilberts Unfall zufaxen?“
„Da verlangst du ganz schön viel von mir. Für was brauchst du ihn? Hat das etwas mit Maria Harder zu tun?“
„Ich weiß nicht, vielleicht. Ich muss etwas überprüfen.“
Ich hörte ihn seufzen.
„Rob, ich könnte gefeuert werden, wenn das raus kommt. Wenn du an irgendwas dran bist, musst du es mir sagen. Du bist nicht mehr bei der Polizei, vergiss das nicht.“
„Ich weiß. Machst du es?“
Wieder ein seufzen.
„Ich schau' was ich machen kann.“
„Danke.“
Bis das Fax kam, sortierte ich einige Fotos, die ich für einen Klienten geschossen hatte.
Bilder der Ehefrau, mit einem anderen Mann, eng umschlugen in der hintersten Ecke eines Lokals.
Ich schrieb ihm eine Email, und fügte die Fotos als Anhang hinzu.

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Du schuldest mir was, stand in dicken Lettern auf der Akte.
Sie war dünn, gerade einmal drei Seiten.
Ich war fünfzehn Jahre bei der Polizei gewesen und hatte schon dutzende dieser Akten in den Händen gehalten, diese war definitiv unvollständig.
Außer dem angeblichen Unfallhergang, den Polizisten vor Ort und dem Todeszeitpunkt von Anna Hilbert stand nicht viel darin.
Ich glaubte nicht, dass George mir mutwillig nur die Hälfte der Blätter zukommen liess.
Einen der Polizisten vor Ort kannte ich noch aus meiner damaligen Dienstzeit. Immerhin hatte ich ein wenig Glück.

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„Mensch, dich hab' ich ja ewig nicht gesehen, wie laufen die Geschäfte, Sherlock?“
Serkan hatte sich nicht verändert seit wir uns das letzte Mal über den Weg gelaufen waren.
Wir hatten zusammen die Ausbildung gemacht und waren Freunde geworden. In den letzten Jahren  beschränkte sich  unser Kontakt jedoch auf Geburtstagsgrußkarten und seltene, zufällige Begegnungen.
Fast schon übertrieben freundlich schüttelte er mir die Hand.
„Gut, gut. Kann ich kurz reinkommen?“
„Klar, komm' rein.“ 
Er führte mich ins Wohnzimmer.
„Wie geht’s Lilli?“
„Gut, sie ist wieder schwanger. Was ist mit dir, was führt den Detektiv in meine Bude? Willst zurück zu uns, was?“
Er lachte und schlug mir auf die Schulter.
Ich hatte mich vor der Tür entschlossen, direkt zum Thema zukommen.
„Nicht ganz. Was weißt du über Anna Hilberts Tod?“
Ich hatte ihn vor den Kopf geschlagen, ich sah es deutlich. Das Lachen gefror ihm im Gesicht.
„Anna Hilbert, Anna Hilbert? Ach, die Millionärstochter.“
„Genau. Wie lief der Unfallhergang ab?“
„Moment, Moment, Robert. Ich brauch' dir hier gar nichts zu erzählen, ich könnte mich strafbar machen.“
Ich hatte gelernt die Menschen zu beobachten, hatte ein Gefühl für sie entwickelt und ich spürte, dass Serkan nervös wurde. Das war gut, auch wenn er mir leid tat.
„Ich weiß, ich war lange genug dabei. Ich hab die Akte gesehen, sie war unvollständig.“
„Warst du immer so direkt?“, wollte er wissen.
„Meistens. Ich weiß, dass da irgendetwas faul ist. Wenn du etwas weißt, sag es mir, ich halt' deinen Namen raus.“
Er beugte sich zu mir rüber, dicht an mein Ohr.
„Du hast keine Ahnung!“
Dann stand er plötzlich auf.
„Kaffee?“
Er war schon in der Küche, bevor ich nein sagen konnte.
Aus der Küche hörte ich ihn reden.
„Weißt du, ich hab mir solche Pappbecher gekauft, so wie die von Starbucks. Ich kann jetzt meinen Kaffee morgens mitnehmen.“
Als er zurückkam, drückte er mir einen Pappbecher mit dampfendem Kaffee in die Hand.
„Viel Milch, wie früher. Du musst jetzt gehen, hab gleich Dienst.“
„Serkan, wenn du...“
Er schnitt mir das Wort ab: „War schön, dich mal wiederzusehen.“
Er schob mich regelrecht zur Tür hinaus.
An der Tür blieb er nochmal stehen.
„Ich hoffe, der Kaffee schmeckt dir.“

Ich fuhr einige Straßen weiter, dann hielt ich am Straßenrand.
Der Pappbecher dampfte in meiner Hand.
Ich leerte den Inhalt auf den Straßenrand, dann drehte ich den Becher um.
Ein anderes Auto. Schwarze Lackspuren. Es war kein Unfall, lauteten die hastig geschriebenen Worte auf dem Boden.
Ich zerknüllte den Becher und steckte ihn in meine Jackentasche.

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In meinem Büro plante ich die nächsten Schritte. Längst hatte der Fall seine eigene Dynamik entwickelt. Hier steckte mehr dahinter, ich war etwas Großem auf der Spur.
Ich handelte mehr aus persönlichem Interesse, hier konnte ich nichts verdienen.
Wäre ich Reporter gewesen, wäre es etwas anderes gewesen.
Wieso hatte man die Töchter dieser Großunternehmer getötet? Wer hatte sie getötet?
Sie mussten etwas entdeckt haben. Was hatte Maria Harder gesagt, wir müssten Beweise sammeln, die Menschheit informieren?
Das klang verrückt, - die Menschheit informieren -.

Das Telefon klingelte.
Es war George.
„Die haben mich beurlaubt Robert, hörst du, beurlaubt.“
„Aber wie haben...“ Weiter kam ich nicht.
„Was weiß ich. Verdammt! Wie sag' ich das Sandra?"
Er legt auf.

Das Gefühl, immer tiefer in einen Strudel gerissen zu werden, war stärker denn je.
Das Telefon klingelte erneut.
„George, es tut mir Leid...“
Aber es war nicht George.
„Hören Sie auf, oder es wird ihnen noch Leid tun“, sagte eine elektronisch verzerrte Stimme.
Als nächstes erklang das Durchladen einer Waffe. Ich konnte deutlich das Zurückschnalzen des Magazins hören.
Dann war die Leitung tot.
Ich legte den Hörer auf und versuchte, das durcheinander in meinem Kopf zu ordnen.
Ich war umgeben von Postern berühmter Hollywoodfilme und langsam kam ich mir selbst wie in einem vor.

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Ich schlief diese Nacht nicht gut und am nächsten Morgen fühlte ich mich total gerädert.
Zwischen den Vorhängen schien die Sonne hindurch, der gestrige Tag mit seinen seltsamen Geschehnissen verlor erst einmal an Schrecken.
Ich hatte mir viel vorgenommen für heute.
Ich musste George irgendwie erreichen, mir ein Hotel in Stuttgart suchen und ich brauchte eine Waffe.
George ging nicht an sein Handy, also fuhr ich zu Sergej.
Ein Kleinkrimineller und Informant der Polizei. Wir waren uns schon oft begegnet und er schien äußerst überrascht zu sein, mich in seinem Kundenkreis begrüßen zu dürfen.
Ich entschied mich für eine Clock, natürlich zum Freundschaftspreis.
Zurück im Büro buchte ich ein Zimmer in der Stuttgarter Innenstadt.
Ich ließ mich nicht einschüchtern, mein Plan war es, Simon Harder zu treffen.

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Ich brauchte etwa drei Stunden mit dem Auto. Unterwegs hatte ich immer wieder versucht, George zu erreichen - ohne Erfolg.
Ich konnte seinen Unmut auf mich durchaus verstehen.
Mein Auto, ein alter Volvo, hatte seine besten Tage schon lange hinter sich und ich war froh, ohne technischen Zwischenfall in Stuttgart anzukommen. In letzter Zeit hatte der Wagen mir erhebliche Probleme bereitet. Er sprang schlecht an und hing nicht mehr gut am Gas, ja kam sogar stellenweise kaum voran, wenn es einen Berg hoch ging. Ich würde mich wohl bald nach einem neuen Gefährt umsehen müssen, auch wenn ich noch so an meiner Klapperkiste hing.

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Die Eingangshalle war atemberaubend. Eine Glaskonstruktion, die scheinbar ohne einen Metall oder Betonpfeiler auskam. Ich hatte nicht gewusst, dass in Stuttgart solch eine Konstruktion existierte.
Skulpturen verschiedener historischer Persönlichkeiten säumten meinen Weg zum Empfangstresen. Ich erkannte Sokrates, auch Aristoteles sah mich mit strengem Blick an.
Eine der Figuren erinnerte mich an George Washington, hatte aber rundere Züge. 
Die Werke waren allesamt auf höchstem bildhauerischem Niveau, soweit ich das beurteilen konnte.
Ihr Detailgrad reichte soweit, dass ich mich dabei ertappte, wie ich ehrfürchtig mit den Fingerspitzen über das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes strich.
Hugo von Payens, lautete der Name auf dem ebenfalls hinein gemeißelten Banner.
Eine junge Frau riss mich aus meiner stummen Faszination. Sie trug einen schicken Hosenanzug und hatte eine Art Headset auf ihren Ohren. In einer Hand hielt sie ein Klemmbrett.
„Hallo.“
„Oh, entschuldigen Sie, ich war eben nur so begeistert von diesen Skulpturen.“
Sie lächelte.
„So geht es vielen. Gedulden Sie sich bitte noch einen Moment, Herr Hoffmann.
Herr Harder hat gleich Zeit für Sie."
„Woher kennen Sie meinen Namen?“
Die junge Frau lächelte erneut, antwortete aber nicht darauf.
Ich hatte mich nicht angemeldet, war sogar davon ausgegangen, dass man versuchen würde mich damit abzuspeisen, Herr Harder sei auf Geschäftsreise oder in einer wichtigen Besprechung. 
Jetzt zeigte mir dieses junge Ding eindeutig, dass man mich bereits erwartet hatte.
Am Ende der Halle ging eine Tür auf. Zwei großgewachsene Männer traten heraus und kamen auf mich zu.
„Herr Harder wäre jetzt soweit“, sagte die junge Frau.
Ich weiß noch, dass ich lächelte, als mich die zwei Männer erreichten.
Ich kam mir vor wie James Bond, der Dr. No besucht. In Gedanken sah ich Simon Harder in einem runden Stuhl und mit einer Katze auf dem Schoß sitzen. Ich musste noch mehr grinsen.
„Folgen Sie uns bitte, Herr Hoffmann.“
Die Nüchternheit meiner Begleitung ließ mich jedoch nicht allzu lange Dr. No jagen.
Die Tür entpuppte sich als Fahrstuhl.
Wir stiegen ein und fuhren in den fünfzehnten und obersten Stock des Gebäudes.
Die beiden Gorillas begleiteten mich in einen weiteren Empfangsraum. Sie tasteten mich ab, fanden allerdings nichts, da ich die Waffe in meinem Wagen gelassen hatte.
„Setzen Sie sich, Herr Harder kommt sofort.“
Beide Männer verschwanden hinter einer Tür und ich nahm auf einem nach Leder stinkenden Sofa platz. Statt der Skulpturen hingen hier nun sensationelle Ölgemälde an den Wänden. Alles alte Männer mit strengem Blick.
Ich stand auf und sah mir die Gemälde etwas genauer an.
Ich zählte genau dreizehn Stück.
Als 'Jacques de Molay' entzifferte ich die verschnörkelte Schrift am unteren Bildrand eines der Werke.
Jacques de Molay. Der Name hatte einen ehrenvollen Klang, allerdings konnte ich nicht sagen, ob es sich dabei um den abgebildeten Mann oder um den Maler des Bildes handelte.
Er trug eine Art weiße, schnörkellose Uniform, die nur von einem großen roten Kreuz geschmückt war.
Seine Gesichtszüge wirkten auf mich zufrieden und gleichzeitig unnachgiebig. 
Stolz blickte er mir in die Augen, als wolle er sagen: Sieh' her, ich bin der Behüter eines uralten Geheimnisses. Eines Geheimnisses, das dir auf ewig verschlossen bleiben wird.
Hinter mir erklang eine tiefe Stimme:
„De Molay, einer der letzten großen Bewahrer.“
Ich drehte mich um und sah mich Simon Harder gegenüber.

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Er sah anders aus als auf dem Bild im Internet. Er war älter geworden. Das Haar war grauer, das Gesicht dünner. Unter den buschigen Brauen strahlten mich intelligente blaue Augen an.
„Was wollen Sie von mir, Herr Hoffmann?“
Er lief um den gewaltigen Schreibtisch herum und nahm in einem ebenso gewaltigen Stuhl platz.
Mein Stuhl war bedeutend kleiner. An den Stühlen konnte man bereits sehen, wer hier das Sagen hatte.
„Herr Harder, zunächst möchte ich ihnen mein aufrichtiges Beileid mitteilen. Ich weiß, wie schrecklich es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren“, begann ich das Gespräch.
Er senkte kurz den Blick, und sah mich dann wieder an.
„Ich komme gleich zur Sache. Ich bin auf einige Ungereimtheiten bezüglich des furchtbaren Todes ihrer Tochter gestoßen. Ich kann es bisher nicht beweisen, jedoch glaube ich, dass sie nicht von alleine auf die Geleise gesprungen ist. Ich glaube, sie wurde gestoßen.“
„Sagen Sie mir, was Sie wissen.“
„Ich glaube, der S-Bahnfahrer hat jemanden weglaufen sehen, wurde aber unter Druck gesetzt, es nicht zu verraten. Anna Hilbert, Marias Freundin, wurde ebenfalls umgebracht. Ich habe die Akte gesehen. Sie war unvollständig. An ihrem Auto wurden Lackspuren eines anderen Autos gefunden.
Ich glaube, ihre Tochter und Anna Hilbert haben irgendetwas gewusst, irgendetwas was sie letztendlich ihr Leben gekostet hat. Herr Harder, können Sie mir sagen, um was es sich bei der Organisation handelt? Ihre Tochter sprach davon.“
Er hatte mir bisher mit unbeweglicher Miene zugehört, jetzt verfinsterte sich sein Blick.
Seine Stimme war jedoch die eines ruhigen, besonnenen Mannes.
„Hat mein Anwalt ihnen nicht ausdrücklich gesagt, Sie sollen ihre Nachforschungen umgehend einstellen? Sagten Sie nicht, es wäre nicht ihr Fall?
Sie graben da nach Dingen, die Sie nichts angehen. Jetzt müssen Sie mit den Konsequenzen klarkommen.“
Er stand auf und im selben Moment öffnete sich die Tür hinter mir.
„Begleiten Sie Herr Hoffmann nach draußen.“

Im Fahrstuhl kreisten meine Gedanken darum, welche rechtlichen Grundlagen dafür nötig waren, um mich vor Gericht anzuklagen.
Ich war mir im klaren, dass man mit Geld - und davon hatte er weiß Gott genug - einige Hebel in Bewegung setzten konnte. Ich hatte jedoch Hinweise, für die sich die Polizei durchaus interessieren würde.
Meine Begleiter standen stumm hinter mir. Ich merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als der Fahrstuhl sich auf Stockwerk eins nicht öffnete sondern weiter herab fuhr, obwohl es laut Anzeige keine Kellergeschosse gab.
Ich tat so als wäre es mir nicht aufgefallen.
„Arbeitet ihr schon länger für Herr Harder?“
Als die Tür aufging, duckte ich mich blitzschnell und trat einem von ihnen in das Kniegelenk.
Ich hörte es knacken, sprang auf und versetzte dem anderen einen harten Schlag ans Kinn.
Im nächsten Moment war ich aus dem Fahrstuhl und blickte in gleißend helles Licht.
Dann traf mich etwas am Kopf, das Licht verschwand und wurde durch Dunkelheit ersetzt.

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Als ich die Augen wieder öffnete, saß ich gefesselt auf einem Stuhl.
Mir tat der Kopf weh, und in den Augenwinkeln sah ich noch kleine weiße Flecken, die aber schon zu verblassen begannen.
Ich war alleine in einem spärlich eingerichteten Raum, mit dem Blick auf eine eiserne, verschlossene Tür.
Jemand musste mir von hinten auf den Kopf geschlagen haben, nachdem ich aus dem Fahrstuhl gestürmt war. Instinktiv wollte ich die pochende Stelle an meinem Hinterkopf betasten und zurrte dadurch die Fesseln noch ein wenig enger um mein Handgelenk. Ich sah an mir herab und entdeckte kleine Spritzer Blut auf meinem Hemd, spürte aber, dass ich nicht allzu schwer verletzt war.
Von meiner Position aus waren es etwa drei Meter bis zur Eisentür. Da ich gefesselt schlecht hinter mich blicken konnte, ging ich einfach davon aus, dass sich die Räumlichkeiten dort ebenso begrenzt waren. Links von mir befand sich ein leerer Tisch. In meiner Vorstellung sah ich darauf Zangen, Klemmen, Skalpelle und jegliche Art von Schneidewerkzeugen liegen.
Rechts von mir standen zwei Stühle sauber aufgereiht an der Wand.
Die Wände selbst waren aus grauem Beton und verliehen dem Raum so die bedrückende Atmosphäre eines Verliesses.
Ich suchte nach einer Kamera, konnte aber keine entdecken, was jedoch nicht hieß, dass keine vorhanden war.

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Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich meine Augen öffnete, saß ein Mann vor mir.
Ich brauchte einem Moment, bis ich ihn erkannte.
„Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die Toten ruhen lassen.“
Es war Schmidt, der aalglatte Anwalt, der mich vor einigen Tagen besucht hatte.
Schmidt rückte mit dem Stuhl etwas näher zu mir heran.
„Jetzt sitzen Sie ganz schön tief in der Scheiße.“
„Was geht hier vor? Lassen sie mich frei. Ich bin ehemaliger Polizeibeamter, es wird ihnen noch Leid tun wenn Sie mich nicht gehen lassen.“
Seine Lippen dehnten sich zu einem breiten Grinsen aus.
„Ich glaube nicht, dass die Polizei jemals erfahren wird, dass Sie hier waren, Hoffmann.
Und selbst wenn, würde es keinen Unterschied machen.“
„Sie haben nicht das Recht, mich hier unten gefangen zu halten.“
„Oh doch, wir haben das Recht. Auch wenn Sie noch so klein und unbedeutend sind, sind Sie eine potentielle Gefahr für uns. Und mit Störfaktoren wie Ihnen haben wir eine ganz spezielle Vorgehensweise.“
Er griff in sein Jackett und legte einen Revolver auf den Tisch neben sich.
Als wäre mir erst jetzt bewusst geworden, in was für einer misslichen Lage ich mich befand, starrte ich die Waffe mit aufgerissenen Augen an.
„Sie sind verrückt“, entwich es meinen Lippen.
„Wir haben Sie im Handschuhfach ihres Wagens gefunden.“
Er schüttelte mit mahnendem Blick den Kopf.
„Tz, tz, tz.“
„Was haben Sie mit mir vor?“
„Ich möchte nur ein bisschen mit ihnen plaudern, Herr Hoffmann, ganz unbefangen.“
„Und dafür müssen Sie mich fesseln?“
Er grinste, zeigte mir erneut sein Hollywoodlächeln.
„Ich hab gesehen, was Sie mit Nick und Sven gemacht haben. Der arme Nick musste sogar ins Krankenhaus. Sie haben ihm das Bein gebrochen. 
Sie haben also schon bewiesen, dass Sie körperlich noch fit sind. Jetzt wollen wir herausfinden, wie es um ihre geistigen Fähigkeiten bestellt ist. Was glauben Sie, um was geht es hier?“
„Es ist mir Scheißegal um was es hier geht“, schrie ich ihn an. „Sie sind verrückt, wenn Sie annehmen ich spiele mit ihnen ein Ratespiel.“
„Immer mit der Ruhe, schhhhh. Sie brauchen nicht gleich zu schreien. Ich wollte nur so höflich sein, ihnen zu erklären, warum Sie sterben werden. Aber wir können das Ganze auch beschleunigen, wenn Sie es so haben wollen, Hoffmann.“
Er genoss diese Situation, ich sah es ihm deutlich an. Schmidt wollte spielen und er war eindeutig am längeren Hebel.
„Gut, wenn Sie es so wollen“, begann ich, „es geht um die Morde an Maria Harder und Anna Hilbert.“
Er warf den Kopf zurück und verzog das Gesicht theatralisch.
„Sie enttäuschen mich, Herr Hoffmann. Ich hätte mehr von ihnen erwartet.
Sie waren nur ein nötiges Opfer, genauso wie Sie eines sind. Wer nicht mitspielen will ist uns im Weg, und die beiden wollten nicht.“
„Aber Maria war Harders Tochter“, warf ich ein.
„Sicher, und Anna Ulrich Hilberts Tochter. Ich sagte ihnen doch, wer nicht mitspielt, trägt die Konsequenzen. Sie haben die Einweihung verwehrt, wollten etwas ändern, dass seit hunderten von Jahren immer weiter wächst und gedeiht. Sie trieben sich lieber auf Charityveranstaltungen herum, untergruben unsere Bemühungen für eine bessere Welt.“
Ich hatte keine Ahnung wovon er sprach, dann erinnerte ich mich an Marias Worte.
„Es geht um die Organisation, um den Rat der Dreihundert.“
„Exakt. Nennen Sie uns wie Sie wollen, Council on Foreign Relations, Club of Rome, Kappa Beta Phi. Sie alle sind der Rat. Es geht um die Bewahrung, Hoffmann, die innere Geschlossenheit. Wir dürfen uns keine Ausreißer erlauben.“
„Und dafür waren Sie bereit, ihre eigenen Töchter zu opfern? Für einen Haufen alternder Männer mit verschobener Weltsicht?“
„Sie haben keine Ahnung, wie mächtig wir bereits sind.
Ihr meint, ihr lauft mit offenen Augen durch die Welt, und könnt doch nicht sehen.
Ihr braucht uns.“
„Sie sind verrückt, tun so als wären Sie ein Superschurke, reden mich plötzlich in der dritten Person an. Sie sind größenwahnsinnig.“
Er lachte. Es war ein abgehacktes, hässliches Lachen.
„Sie verstehen nicht. Wir sind nicht die Bösen. Ihr seid die dummen Schäfchen und wir sind der Hirte. Ordnung aus dem Chaos, Hoffmann, darum geht es.“
„Das ich nicht lache, aber welche Rolle nehmen Sie in dem Ganzen ein?“
Ich hatte einen wunden Punkt getroffen. Sein überhebliches Grinsen versteinerte kurz auf seinem Gesicht.
„Leute wie ich sind der Motor, der verlängerte Arm des Rates. Wir müssen uns unseren Platz erarbeiten.“
„Sie sind also nichts weiter als ein erbärmlicher Handlanger. Opfern sich auf, bis Sie nichts mehr Wert sind. Dann werden Sie ersetzt. Sie und ihre bescheuerte Organisation seid nichts weiter als größenwahnsinnige Spinner.“
Er stand auf, griff nach der Waffe und begann ihren Lauf zu streicheln.
„Sie sind so erbärmlich, Hoffmann, so unwissend. Ich habe meinen Platz, Sie aber werden sterben.
Aber ich werde trotz ihrer Unhöflichkeit versuchen, ihren letzten Stunden auf Erden durch Erkenntnis zu bereichern. Was glauben Sie, und das ist eine rhetorische Frage, wer beherrscht das Bankwesen? Wer macht eine Krise, wer beendet sie wieder? Wer profitiert davon? 
Wir haben konkrete Ziele, Hoffmann. Der Rat hat Staaten ruiniert, Kriege inszeniert, den  internationalen Terrorismus organisiert. Um unser Ziel letztendlich zu erreichen, müssen Opfer gebracht werden. Es geht um die Zerstörung der Nationalstaaten, die Übernahme ihrer Ressourcen und letztendlich die Entwurzlung der Menschen, die für uns nicht relevant sind.“
„Wenn Sie glauben, den Menschen fiele das nicht auf, sind Sie genauso...“
Er unterbrach mich. „Ihr seid so naiv und glaubt wahrhaftig an die Medienfreiheit. Einer eurer größten Fehler.
Wir bilden eure Meinung.
Ihr denkt was wir wollen.
Wir bestimmen Aufstieg und Fall.
Wir sagen euch wer oder was das Böse ist. Wir machen den Feind, lassen euch glauben ihr seid auf der richtigen Seite.
Eure ach so geliebte Demokratie ist nichts weiter als ein ausgehöhlter Baumstamm, hinter dessen Rinde ihr nicht sehen könnt.“
Schmidt redete sich mittlerweile in einen Rausch. Es war beängstigend, wovon er sprach.
„Und das alles soll von Harder und Hilbert ausgehen“, wollte ich wissen.
Er sah mich abfällig an.
„Natürlich nicht. Herr Harder hat sich, ebenso wie Hilbert und ich es einmal werden, einen Platz erarbeitet. Es sind die zwölf großen Familien, die einst den Rat gründeten."
„Sie wollen also, dass ich glaube, dass sich diese unsichtbaren Herrscher auf einen gemeinsamen Plan für die Welt und ihren eigenen Vorteil geeinigt hätten?“
Er lachte. „Und das ist der Grund warum es funktioniert. Menschen wie Sie. Eurer blindes Vertrauen in das System. Ich sage ihnen, die Menschen wissen was passiert, doch es interessiert sie nicht.
Über uns gibt es hunderte Verschwörungstheorien. Die meisten haben wir selbst in Umlauf gebracht.“
Etwas klingelte plötzlich. Schmidt zog aus seiner Hemdtasche ein Handy und sah kurz auf das Display.
„Tja, Hoffmann, unsere Zeit ist um. Ich hoffe, ich konnte ihre letzten Stunden bereichern und Sie zum denken anregen. Sehen Sie es so, Sie sterben für einen guten Zweck.“
Er schenkte mir noch einmal ein Lächeln und öffnete dann die Tür.

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Was er behauptete war abstrus, ja regelrecht unmenschlich, und doch blieb ein bitterer Nachgeschmack.
Waren wir wirklich alle so blind und dumm, dass wir übersehen konnten, dass hinter den Kulissen bereits an einer neuen Weltstruktur, gelenkt durch eine kleine Elite, welche die vollständige Macht über alle Vorgänge auf der Erde hat, gearbeitet wurde? Das dass Abschaffen der Mittelschicht, die Verdammung der Unterschicht in ein Sklavendasein, bereits Formen annahm?
Genauso wie das Zerschlagen der Demokratie, die Auflösung des Privateigentums, des Erbrechtes, des Patriotismus, die Abschaffung jeglicher Religion. War es möglich, dass wir eines Morgens in einem globalen Polizeistaat aufwachen würden?
Maria und Annas Väter gehörten dieser Elite an. Die Bewahrung und der Schutz ihres Bundes  waren ihnen wichtiger als das Leben ihrer eigenen Töchter. Es war pervers, mit welcher Konsequenz sie ihre Ziele verfolgten.
Diese Leute arbeiteten im Schatten ihrer Abziehbilder. Politiker waren nur Pappkameraden, in Wirklichkeit zogen sie die Fäden. Ihre Ziele schienen utopisch, doch wenn man genauer hinsah, das Weltgeschehen beobachtete, verschwamm die Grenze zwischen dem, was man Menschen zutraut und dem, was sie letztendlich taten.
Glaubte man Schmidt, bedeutete es, dass sie sich für den Versuch, uns von unserer Geschichte, unseren Werten, unseren Familien und unserem Glauben zu trennen, ausgeklügelte Methoden der Propaganda und der psychologischen Kriegsführung bedienten, ja selbst vor faustdicken Lügen schienen sie nicht zurück zu schrecken.
Das alles klang so fantastisch, so surreal. Meine gegenwärtige Ausgangslage sprach jedoch deutlich gegen mich.
Ich musste mir schleunigst bewusst werden, dass man versuchen würde mich umzubringen, auch wenn alles um mich herum an einen Hollywoodstreifen erinnerte.

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Hätte man versucht, mich an Ort und Stelle zu töten, wäre ihr Vorhaben wohl geglückt.
Allein die Tatsache, dass sie einen Mord immer nach einem Unfall aussehen lassen, hat mir wohl das Leben gerettet - und die zuverlässige Nichtzuverlässigkeit meines Autos.

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„Was muss ich machen das dass Scheißding anspringt?“
Er schlug mit der flachen Hand auf die Armaturenfläche meines Wagens.
„So eine Schrottbock!“
„Los sag!“
Der andere drückte mir die Pistole in die Rippen.
„Ist ja gut. Sie dürfen die Kupplung nicht ganz durchdrücken. Erst wenn der Wagen anfängt zu ruckeln.“
Er versuchte es noch einmal, mit Erfolg, der Wagen sprang an.
„Manchmal tut’s mir um ein Auto echt leid, aber bei diesem bin ich froh wenn es in Flammen aufgeht. Wie kann man mit so was noch fahren? Also los geht’s.“
Er gab Gas. Der Wagen fuhr an, tuckerte und soff dann ab.
„Verdammte Scheiße!“
Er drehte sich zu mir nach hinten. Deutlich konnte ich das Veilchen sehen, das ich ihm vor nicht all zu langer Zeit verpasst hatte.
Ich muss gegrinst haben, denn er schlug mir unvermittelt ins Gesicht.
„Du blöder Wichser. Du fährst! Nimm ihm die Handschellen ab.“
Ich war ein wenig benebelt und spürte bereits meine Nase anschwellen. Man nahm mir die Handschellen ab und beförderte mich vor das Lenkrad meines Wagens.
„Mach keine Faxen. Ich kann dich auch einfach so abknallen. Ich sag' dir wo es lang geht, verstanden?“
Ich zog den Gurt an, nickte und startete den Wagen.
Auch ich brauchte zwei Versuche bis der Motor ansprang.
„Fahr auf die B3. Hier vorne Links.“
Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass mich jeder gefahrene Kilometer meinem Tod ein Stück näher brachte.
Wir fuhren ein gutes Stück auf der Autobahn und bogen dann auf eine Landstraße ab.
„Funktioniert dein Radio?“, wollte der auf der Rückbank wissen.
„Nein, nur der CD Player.“
„Funktioniert hier eigentlich irgendetwas an dieser Schrottkarre?“
„Wir fahren doch, oder?“, verteidigte ich mein Auto.
Ich hörte ihn verächtlich schnaufen.
Ich musste an einer Ampel halten und der Wagen tuckerte bedrohlich.
„Wenn das Ding jetzt noch mal absäuft, knall' ich dich gleich hier ab.“
Neben uns kam ein Polizeiauto zum Stehen. Ich sah kurz herüber und spürte gleich darauf den Pistolenlauf unter meiner Achsel.
„Mach' keinen Scheiß. Oder willst du, dass die auch drauf gehen?“
Die Ampel schaltete auf Grün und ich fuhr an. Das Polizeiauto bog ab.
Die Landstraße wurde zunehmend steiler und nur noch selten wurde sie von einer kleinen Ortschaft flankiert. Ich musste das Gaspedal deutlich tiefer durchdrücken, um die Geschwindigkeit zu halten.
„Wo wollt ihr mit mir hin? Wie wollt ihr erklären, dass ich hier draußen mit dem Auto unterwegs war?“
„Das lass mal unsere Sorge sein. Wir sind gleich da.“
So langsam wurde die Zeit für mich knapp. Dann sah die einzige Chance, welche ich bekommen würde. Die Straße stieg ein gutes Stück an, bevor sie wieder etwas flacher wurde. Am Ende der Steigung sah ich eine große Eiche am Straßenrand stehen.
„Ich muss etwas Schwung holen, sonst schaff ich die Kuppe nicht.“
Erneut spürte ich die Pistole unter der Achsel.
„Gib Gas, aber verarsch uns nicht.“
Ich drückte das Pedal voll durch. Der Wagen machte einen Satz und beschleunigte.
Hinter mir hörte ich den Radiofan sagen: Fuck, wo kann man sich hier eigentlich anschnallen?“
Am steilsten Punkt des Anstiegs, trat ich plötzlich mit aller Kraft auf die Bremse, gab wieder Gas und zog das Lenkrad scharf nach rechts.
Die Waffe verschwand unter meiner Achsel, dann hörte ich einen Knall neben meinem Ohr, gefolgt von einem stechenden Schmerz in meinem Oberarm.
Dann sah ich nur noch den Baum, der die ganze Frontscheibe einnahm.

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Wie ich ins Krankenhaus kam, weiß ich nicht. Irgend jemand muss uns gefunden haben.
Hat mich aus dem Wagen gezogen, bevor er ausgebrannt ist.
Sie haben mir den rechten Arm abgenommen und ich werde wohl eine Weile an Krücken gehen, auch wenn ich mir das als Einarmiger besonders schwer vorstelle.
Ansonsten hab' ich mehr Glück gehabt als meine Begleiter, ich lebe.
Der Arzt sagt, die Polizei werde morgen mit mir reden.
Morgen.
Wenn es denn ein Morgen für mich gibt. Ich habe das Gefühl, dass ich heute Nacht Besuch bekommen werde.
Eine der Schwestern hat mir diesen Block gegeben. Ich habe den ganzen Tag geschrieben. Jetzt bin ich todmüde.

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