Der Rücken meiner Schwester
Kurzgeschichte
von atala
Mein Gesicht spiegelt sich in der durchsichtigen Scheibe. Die Haare und Augen, die sonst dunkel sind, haben in der Reflektion keine Farbe mehr. Ich drücke die Nase platt und hebe die Hände als Sichtschutz. Meine Schwester steht auf der anderen Seite mit dem Rücken zu mir gewandt. Ihr Haar ist im Nacken gebunden. Die Scheibe dämpft die Musik ab, die gerade angefangen hat zu erklingen. Ich stehe in einem stillen Raum, wo niemand ist. Marie hingegen hat unter den Blicken der anderen Tanzschülern, die am Rand der Spiegelfront sitzen, zu tanzen begonnen.
Ihre Bewegungen sind vom ersten Takt an fliessend. Die Arme sind rund, die Beine gestreckt, ihr Nacken lang. Sie dreht sich im Kreis, ihr Rumpf wendet sich, während ihr Kopf noch still steht, erst im letzten Augenblick schnellt er herum. Eine helle Strähne löst sich und fällt ihr ins Gesicht. Sie streicht sie zur Seite und sieht dabei sie noch viel schöner aus, als wenn sie lächelt. Sie dreht sich wieder ein und gleitet zu Boden. Die Schulterblätter wölben sich über der glatten Haut und ihre Flanken sehen aus wie die Tastatur eines Klaviers.
Ihr blasser Rücken erinnert mich an den Schulp, den ich damals an der Atlantikküste fand, als ich an diesem windigen Tag zum Meer hinunterlief. Vater hatte sich mit den Schuhen aufs Bett gelegt und den Fernsehen angemacht, Mutter und Marie wollten einkaufen gehen. Marie fragte: „Kommst du nicht mit?“, und schaute dabei auf mein Shirt, dass ich schon den vierten Tag in Folge an hatte. Ich schüttelte den Kopf. Nachdem sie gegangen waren, habe ich das Zimmer verlassen.
Der Wind hatte die Badegäste von der Küste gefegt und dunkle Wolken flogen bedrohlich gegen Osten. Ich setzte mich auf die spitzen Steine und sah den Wellen zu, wie sie gegen die steinerne Wand donnerten. Spritzendes Wasser folgte dem lauten Klatschen. Danach wurde das Wasser weggesogen, als wäre darunter ein unsichtbares Loch. Zwischen den dunklen Felsen schien etwas Helles hervor. Ich kletterte hinab und hob das Weise zwischen den Wellengängen auf. Es war oval und an den Rändern wurde es zerbrechlich dünn. Ich wog es in meiner Hand, es hatte kaum Gewicht. Es waren die Reste eines Tintenfisches. Ich strich über die merkwürdig glatte Oberfläche, die leicht porös war. Ich nahm mir vor ihn in die Windungen eines Kleides zu wickeln und mitzunehmen. Doch auf dem Weg zurück ins Hotel zerbrach ich den Schulp. Ich hatte ihn in die Jackentasche getan und hielt ihn in der einen Hand fest. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz, ich holte meine Hand hervor und betrachtete den Schnitt, aus dem Blut heraustrat. Ich sog an der Wunde, in der das abgebrochene Stück des Tintenfischskeletts gesteckt hatte.
Ich bemerke, dass ich schon lange nicht mehr Maries Rücken berührt habe. Er schimmert vom feinen Schweiss. Rote Streifen heben sich von der bleichen Haut ab. Die Rötungen wirken wie Fremdkörper auf ihrem Rücken. Ob sie vom Tanzen kommen, von den Bewegungen ihres Körpers oder von den Händen Ralfs?
Er ist an mir vorbeigefahren, als ich auf den Weg in die Tanzschule war. Er sah sich kurz nach mir um, doch als sich unsere Blicke kreuzten, starrte er angestrengt auf die Strasse und bog dann mit dem Fahrrad um die Ecke. In der Uni setze ich mich immer einige Reihen hinter ihn, damit ich in Ruhe seinen starken Nacken und das zusammengebundene Haar betrachten kann.
Wir sprechen kaum noch seit der Nacht, in der Marie Geburtstag gefeiert hat. An jenem Abend gab es in jedem Zimmer der Wohnung Häufchen von Leuten. Sie rauchten, sprachen ganz laut und hielten halbvolle Gläser in den Händen. Ein Lieblingsspiel aller war es zu verkünden, dass Marie und ich Schwestern waren und die Reaktion abzuwarten. Die Blicke der Menschen glitten dann von Marie zu mir und wieder zurück. Sie verglichen ihr schimmerndes Haar mit meinem aschenen, ihr Antlitz mit meinem Gesicht, ihre Statur mit der meinigen. Marie lächelte während dessen verschmitzt und ich blickte zur Seite.
Es konnte somit nicht an unserer Ähnlichkeit liegen, dass Ralf mich im Flur an die Wand hielt und laut atmend seinen Mund auf meinen drückte. Woran es gelegen hatte, dass Ralf mich küsste, anstatt Marie, weiss ich bis heute nicht. Doch ich merkte schnell, dass bei Tage andere Gesetze galten, als in der Dunkelheit des Flurs. Ralf hat von diesem Abend an immer etwas an mir vorbei gesehen.
Ich betrachte Marie, ihre Saugnäpfe sind stark, alle starren sie an. Die Musik bricht ab. Marie schnauft aus und wischt sich mit der Handfläche die Stirn. Sie sieht mich nicht wie ich hinter der Scheibe stehe und die Hand hebe. Sie wendet mir den Rücken zu.
Ihre Bewegungen sind vom ersten Takt an fliessend. Die Arme sind rund, die Beine gestreckt, ihr Nacken lang. Sie dreht sich im Kreis, ihr Rumpf wendet sich, während ihr Kopf noch still steht, erst im letzten Augenblick schnellt er herum. Eine helle Strähne löst sich und fällt ihr ins Gesicht. Sie streicht sie zur Seite und sieht dabei sie noch viel schöner aus, als wenn sie lächelt. Sie dreht sich wieder ein und gleitet zu Boden. Die Schulterblätter wölben sich über der glatten Haut und ihre Flanken sehen aus wie die Tastatur eines Klaviers.
Ihr blasser Rücken erinnert mich an den Schulp, den ich damals an der Atlantikküste fand, als ich an diesem windigen Tag zum Meer hinunterlief. Vater hatte sich mit den Schuhen aufs Bett gelegt und den Fernsehen angemacht, Mutter und Marie wollten einkaufen gehen. Marie fragte: „Kommst du nicht mit?“, und schaute dabei auf mein Shirt, dass ich schon den vierten Tag in Folge an hatte. Ich schüttelte den Kopf. Nachdem sie gegangen waren, habe ich das Zimmer verlassen.
Der Wind hatte die Badegäste von der Küste gefegt und dunkle Wolken flogen bedrohlich gegen Osten. Ich setzte mich auf die spitzen Steine und sah den Wellen zu, wie sie gegen die steinerne Wand donnerten. Spritzendes Wasser folgte dem lauten Klatschen. Danach wurde das Wasser weggesogen, als wäre darunter ein unsichtbares Loch. Zwischen den dunklen Felsen schien etwas Helles hervor. Ich kletterte hinab und hob das Weise zwischen den Wellengängen auf. Es war oval und an den Rändern wurde es zerbrechlich dünn. Ich wog es in meiner Hand, es hatte kaum Gewicht. Es waren die Reste eines Tintenfisches. Ich strich über die merkwürdig glatte Oberfläche, die leicht porös war. Ich nahm mir vor ihn in die Windungen eines Kleides zu wickeln und mitzunehmen. Doch auf dem Weg zurück ins Hotel zerbrach ich den Schulp. Ich hatte ihn in die Jackentasche getan und hielt ihn in der einen Hand fest. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz, ich holte meine Hand hervor und betrachtete den Schnitt, aus dem Blut heraustrat. Ich sog an der Wunde, in der das abgebrochene Stück des Tintenfischskeletts gesteckt hatte.
Ich bemerke, dass ich schon lange nicht mehr Maries Rücken berührt habe. Er schimmert vom feinen Schweiss. Rote Streifen heben sich von der bleichen Haut ab. Die Rötungen wirken wie Fremdkörper auf ihrem Rücken. Ob sie vom Tanzen kommen, von den Bewegungen ihres Körpers oder von den Händen Ralfs?
Er ist an mir vorbeigefahren, als ich auf den Weg in die Tanzschule war. Er sah sich kurz nach mir um, doch als sich unsere Blicke kreuzten, starrte er angestrengt auf die Strasse und bog dann mit dem Fahrrad um die Ecke. In der Uni setze ich mich immer einige Reihen hinter ihn, damit ich in Ruhe seinen starken Nacken und das zusammengebundene Haar betrachten kann.
Wir sprechen kaum noch seit der Nacht, in der Marie Geburtstag gefeiert hat. An jenem Abend gab es in jedem Zimmer der Wohnung Häufchen von Leuten. Sie rauchten, sprachen ganz laut und hielten halbvolle Gläser in den Händen. Ein Lieblingsspiel aller war es zu verkünden, dass Marie und ich Schwestern waren und die Reaktion abzuwarten. Die Blicke der Menschen glitten dann von Marie zu mir und wieder zurück. Sie verglichen ihr schimmerndes Haar mit meinem aschenen, ihr Antlitz mit meinem Gesicht, ihre Statur mit der meinigen. Marie lächelte während dessen verschmitzt und ich blickte zur Seite.
Es konnte somit nicht an unserer Ähnlichkeit liegen, dass Ralf mich im Flur an die Wand hielt und laut atmend seinen Mund auf meinen drückte. Woran es gelegen hatte, dass Ralf mich küsste, anstatt Marie, weiss ich bis heute nicht. Doch ich merkte schnell, dass bei Tage andere Gesetze galten, als in der Dunkelheit des Flurs. Ralf hat von diesem Abend an immer etwas an mir vorbei gesehen.
Ich betrachte Marie, ihre Saugnäpfe sind stark, alle starren sie an. Die Musik bricht ab. Marie schnauft aus und wischt sich mit der Handfläche die Stirn. Sie sieht mich nicht wie ich hinter der Scheibe stehe und die Hand hebe. Sie wendet mir den Rücken zu.