Vögel fallen vom Himmel

Text

von  atala

Vögel fallen vom Himmel

Im Pfirsichfleisch windet sich eine weisse Made. Zappelt mit ihrem fetten Körper hin und her. Den Bissen spucke ich in die Spüle und werfe die angebissene Frucht aus dem Küchenfenster ins Gebüsch. Dann halte ich das Telefon wieder ans Ohr. „Warst du das, die geschrien hat?“, höre ich Vater fragen.

 
Er hat angerufen, um mich nochmals daran zu erinnern, bei Grossmutter Arnika vorbeizuschauen, ihr Zustand sei nicht gut. „Es ist eine Frage der Zeit“, sagt er. Das letzte Mal als er bei ihr war, konnte sie nicht mehr aus dem Bett steigen. Kreideweich war sie im Gesicht. „Ich weiss, du hast viel um die Ohren, Karina“, meint er, „aber geh vorbei und verabschiede dich von ihr“. Ich verspreche es ihm und frage Vater, wann er wieder kommt. Wenn sich die Situation hier beruhigt habe. Niemals hätte er wegfliegen sollen, seufzt er. „Nicht in Zeiten wie diesen.“

 
In Grossmutters Hauseingang ist ein Zettel angebracht, auf dem steht, dass bei den hohen Temperaturen der Lift ausfalle. Ich steige zu Fuss in den obersten Stock. Ächze die acht Stockwerke in der brütenden Hitze. Ich bereite mich auf das Pflegepersonal vor, die prophetische Blicke austauschen, da sie gelernt haben, wie sich der Tod ankündigt. Ich bereite mich vor, an Arnikas Bett zu knien und ihre Hand in die meine zu nehmen. Ich bereite mich vor, Grossmutters schwache Stimme zu hören. Dass sie letzte Worte aufsagen wird und das in ihrer Muttersprache, weil sie vergessen hat, dass ich kein Ungarisch verstehe, so wie damals, als sie auf der vereisten Strasse fiel und sich eine Kopfverletzung zuzog.

 
Zu meiner Überraschung wartet Grossmutter bereits an der Tür. Sie krallt sich zwar am Rollator fest, aber steht aufrecht. Sogar eine Bluse trägt sie über der Trainerhose. „Kari, du lebst?“, sagt sie zur Begrüssung. Ich lächle durch mein schlechtes Gewissen hindurch. Die Wohnung wirkt wie sonst auch. Ordentlich liegen die Kissen auf dem Sofa aufgereiht. Im Flur tickt dunkel die schwere Wanduhr.

 
Sie schaut den Plastiksack prüfend an, in dem sich das Essen befindet, das ich mitgenommen habe. Eine leichte Gemüsebrühe, falls sie die Kraft findet, etwas zu essen. „Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagt sie, „Ich habe gekocht.“ Grossmutter hebt den Deckel meines Einweggeschirrs und schüttelt den Kopf. „Du musst haltbare Produkte kaufen, Kari. Dosen, Trockenfleisch“, Dinge, die man lange lagern könne, ohne dass sie schlecht werden. Für alles müsse man vorbereitet sein. Ihr Magen sei abgehärtet von damals, von der Flucht. Weil sie verunreinigtes Wasser trinken musste. Da habe sie alle Krankheiten auf einmal bekommen und dann nie wieder eine.

 
Ich nehme ihr den Suppentopf ab, er ist zu schwer für sie, und trage ihn ins Esszimmer. Grossmutter kommt mir nach, sie klappert mit den Tellern. „Nur ganz wenig“, sagt sie, als ich schöpfe. So wenig, dass sie den Teller leicht kippen muss, damit sich der Löffel füllt. Es ist eine Sauerkrautsuppe, aber auch Brocken schwimmen darin, die nach Fleischstücken aussehen. Ich lasse es, sie daran zu erinnere, dass ich Vegetarierin bin, es ist nicht der passende Moment.


Sie schlürft jetzt leise. Früher hat sie andere Geräusche gemacht beim Essen, manchmal hörte man ein Schlucken, gefolgt von einem leisen Räuspern wegen dem Paprikapulver im Hals. Ein Besuch bei Grossmutter Arnika war ein Benimmkurs. Wo die Gabel, das Messer, der Löffel, das Dessertbesteck hingehört. Welches Wasser- und welches Weinglas, wie weit sie zueinander, zum Teller stehen. Die Serviette einmal falten, aber nicht verknittern beim Essen, die kann man wiederverwenden, es wird nichts weggeschmissen. Nicht sprechen mit vollem Mund, am besten sprechen Kinder am Tisch überhaupt nicht, hören den Gesprächen der Erwachsenen zu, bemühen sich aufrecht zu sitzen und den Löffel zum Gesicht führen, nicht umgekehrt. Grossmutter Arnika nimmt sich noch einmal Suppe. Jetzt habe sie plötzlich richtig Hunger bekommen, sagt sie. Ihre Ellbogen setzt sie auf den Tisch, die Schüssel direkt an die Lippen. Die Serviette verknüllt sie im Handballen, obwohl sie gar nicht benutzt wurde.


„Wie geht es Tibor?“, fragt sie. Ich dachte, ich könne das Thema vermeiden, Vater meinte, es würde nicht mehr lange dauern. Grossmutter ist über 90. „Gut“, antworte ich. „Er hat viel zu tun“. „Jaja, wie immer“, nickt sie. Tibor ist nie gerne mitgekommen. Er fand das Essen scheusslich und das Ticken der Uhren hielt er nicht aus. „Wie in einem Horrorfilm“, hat er mir einmal zugeraunt, als wir an eben diesem Tisch sassen und eine ölige Suppe löffelten. Ich wusste damals, was er meinte. Heute ist die Suppe erstaunlich gut. Sie schmeckt wie früher, als ich klein war, als Grossmutter Arnika den ganzen Tag in der Küche gestanden ist. Mit Sauerkraut und Dill, ich löffle etwas Sauerrahm hinzu. Aber dann erwische ich ein Fleischbrocken, er muss mir unbemerkt in den Schöpflöffel gekommen sein. Der opulente Geschmack breitet sich sofort im ganzen Mundraum aus, steigt in den Kopf. Es schmeckt, wie nur das schmecken kann, das mit der Beschaffenheit unseres Körpers zu 80% identisch ist. Ohne dass Grossmutter es bemerkt, schmuggle ich das zerteilte Stück in die Innenfalte der Serviette.
Nachdem wir gegessen haben, staple ich die Teller zusammen und bringe sie in die Küche. Wenn man steht, sieht man in der Fensterecke ein Stück der Limmat, oder das was von ihr übrig ist, ein zusammengeschrumpfter Strom, sieht die braunen Ufer, trockengelegt von der Sonne. Als könnte sie meinem Blick folgen, dabei sitzt sie mit dem Rücken zu mir gewandt, sagt Grossmutter, sie wolle mir von der Donau erzählen, welche Bedeutung sie für sie habe. Ich wittere Kriegsgeschichten. Bestimmt erzählt sie wieder von den Schüssen zwischen der Buda und der Pest-Seite. Vom Pferd, das getroffen und von Anwohner innerhalb von Sekunden aufgeschnitten und aufgeteilt wurde, jeder ein Stück. Wie sie mit diesem Mädchen, das sich auch im Kloster vor den Nazis versteckt hatte und dann wegmusste, als die Russen kamen, im umkämpften Budapest von Wohnung zu Wohnung gewandelt sind auf der Suche nach Nahrung, während die früheren Bewohner, tot oder in den Kellern oder sonst wohin verschleppt. Wie sie den Stadtpark überqueren wollten, an dem sie sonst im Winter Schlittschuh laufen ging, aber das Mädchen, das etwas älter war als Grossmutter sagte ihr, sie solle ihre Hand nehmen und die Augen schliessen, sie unter keinen Umständen öffnen, sie würde sie führen. Und Grossmutter öffnete die Augen doch einmal und sah, dass das Mädchen, das nur wenig älter war als sie, sie an der Hand durch Berge von Körpern führte.
Ich möchte die Zerstörung nicht hier vor mir haben, ich habe gerade genug um die Ohren. Stattdessen rede ich vom Wetter. „Weisst du, dass es so heiss ist, dass die Vögel vom Himmel fallen?“, frage ich sie. Das stand heute in der Zeitung. „Die Vögel betrinken sich an den vergorenen Früchten und sind von der Hitze dehydriert.“ Man müsse sie aufsammeln, die, die noch lebten, in Vogelstationen bringen, wo sie aufgepäppelt werden. „Wirklich furchtbar“, antwortet Grossmutter abwesend. Erst jetzt fällt mir auf, dass in Grossmutter Arnikas Wohnung angenehme Temperatur herrscht. Ein Lüftchen weht an meinen verschwitzten Nacken. Gestern habe sie eine Sternschnuppe gesehen, erzählt Grossmutter. Es fällt mir nichts anderes ein, als zu fragen, ob sie sich was gewünscht hat. Sie lächelt und nickt.

 
Der Weg zurück führt an den Schrebergärten vorbei, mir fällt ein, dass ich schon seit Monaten keine Schnecken gesehen habe. Ich schaue in alle Beete, aber sehe nur hängende Blätter und Eingegangenes. Kurz bleibe ich stehen und schreibe Vater, Grossmutter gehe es besser, sie scheine gut zurecht zu kommen. Er antwortet sogleich, dass die Brände sich ausgebreitet haben, der Flughafen sei auf unbekannte Zeit gesperrt. Der Himmel leuchte nachts rötlich und tagsüber sei er grau, als wäre es der letzte Tag. Hoffentlich sehe ich sie noch einmal, bevor sie geht, schreibt er. Schickt noch ein trauriges Emoji-Gesicht nach. Bevor ich antworten kann, stellt mein Handy aus, obwohl es noch vollgeladen ist, es ist wohl überhitzt.

 
Zuhause lässt sich die Haustür nur einen Spaltbreit aufstossen. Ich quetsche mich hindurch, alle meine Schuhe stehen aufgereiht am Boden. Die Kommode fehlt, Stühle fehlen, im Schlafzimmer wölkt sich, wo sonst mein Bett liegt, eine Staubkolonie. Panisch stecke ich mein Handy an, drücke immer wieder auf die Anschalttaste, endlich fährt es wieder hoch. Mehrere Anrufe in Abwesenheit und eine Nachricht von Tibor, er habe noch sein letztes Zeug mitgenommen, sorry wegen dem Bett, aber ist halt meins. Schulterzucker-Emoji.

 
Im Wein schwimmen die Fruchtfliegen. Ich fische sie mit dem Zeigefinger und trinke aus. Statt zu schlafen, wälze ich mich auf dem Sofa. Es ist schon so lange so heiss, dass ich keine Decke mehr brauche. Mitten in der Nacht wandle ich in die Küche, nehme eine Galette aus dem Kühlschrank und lege sie auf eine heisse Pfanne. Dann bestreiche ich sie dick mit Marmelade und Butter, die sofort zerrinnt. Der erste Biss schmeckt nach Erde. Der Anblick des aufgefalteten Pfannkuchens lässt mich erschaudern, Mehlwürmer liegen regungslos in Reih und Glied.
Am nächsten Tag möchte ich mich erkundigen, wie es Grossmutter geht, aber aus dem Telefon scheppert Musik. Ganz laut, als wäre sie an einer Party. „Arnika? Arnika?“, schreie ich. Die Musik wird leiser. Ein Keuchen ist zu hören. „Hallo?“, höre ich schliesslich Grossmutters kratzige Stimme. Sie stelle das Radio manchmal ganz laut, damit alle hören, dass jemand zuhause sei, erklärt sie, auch mögliche Einbrecher. Heute habe sie sogar Stöckelschuhen angezogen, sei rumgetrampelt und habe mit Kochtöpfen aus dem Fenster geklatscht. Ich nicke ins Telefon. „Gut, wie du das machst“.

 
Wie die neue Grossmutter Arnika möchte ich sein und ins Leben eingreifen. Ich glaube, die leidenden Tiere brauchen ein Haus. In eine Kartonkiste schmeisse ich Erde, Steine, Hölzer, kleine Äste hinein. Ich sprühe alles mit Wasser feucht. Dann suche ich in der Erde nach Schnecken, nachts kommen sie vielleicht raus, wenn die Sonnenstrahlen sie nicht versengen. Nach ein nach ein paar Grabungen finde ich zwei Exemplare. Ich bin mir nicht sicher, ob sie leben, weil sie eine Kalkwand vor den Hauseingang errichtet haben. Auch nach Regenwürmer halte ich Ausschau, das Loch, das ich mit einer Tasse freigeschaufelt habe, reicht mir schon bis zur Hüfte, aber nur trockene, schwarze Erde ist zu sehen. Den beiden Schnecken wird’s gut gehen bei mir, hier haben sie zu essen, ich habe Salatblätter in den Karton reingelegt. Sie kommen ins Bad in die Ecke, wo es keine Fenster gibt und es feucht wird, wenn die Dusche läuft.

 
Während ich ihnen mit Hölzern und Rinde eine Bahn baue, höre ich im Radio einen Beitrag über die Kommunikation mit extraterrestrischem Leben. Ein Mann spricht über die Plakette einer Sonde, die vor rund sechzig Jahren ins All geschickt wurde und auf der sich eine Nachricht an intelligente Ausserirdische befindet. Die Symbolik von Menschen, das Sonnensystem mit den Planeten, die relative Position der Sonne und das häufigste Element im Universum, Wasserstoff, ist darauf illustriert. Vor dem Raketenstart stritt sich die Fachwelt darum, dass die Geste des gezeichneten Mannes auf der Plakette, die aufgerichtete Hand, als eine Gebärde der Feindschaft interpretiert werden könne. Auch gaben die entblössten Genitalien Grund zur Diskussion und es wurde diskutiert,  wie detailliert sie gemalt werden sollen. Aber was eigentlich seine Sorge errege, sagt der Mann im Radio, sei, dass die Darstellung, die im All herumschwirrt, eine selbsterfüllende Prophezeiung sei. „Wie ist das zu verstehen?“, hakt die Moderatorin nach. Die beiden Menschen winken ganz alleine auf der goldenen Plakette, kein Tier, keine Pflanze, kein anderes Lebewesen stehe ihnen bei. „Eine Voraussage?“, fragt die Moderatorin. „Ein Fluch“, antwortet der Mann, bevor ich zum Radio gelangen und den Sender umschalten kann.

 
Nachts träume ich, dass Grossmutter sich einen Martini einschenkt, sogar einen Zahnstocher mit Olive schwimmt im Zylinderglas. Sie sitzt auf dem grossen Sessel mit übereinandergeschlagenen Beinen. Dann beugt sie sich vor, sie möchte mir etwas erzählen, aber ich halte mir die Ohren zu und summe das Lied, das ich durchs Telefon gehört habe. Ihre Lippen bewegen sich, aber ich höre kein Wort.

 
Die Schnecken in der Kiste liegen immer noch an der gleichen Stelle wie vor drei Tagen. Die eine mit dem dunklen Streifen auf dem Gehäuse scheint sich aber ganz leicht zu bewegen. Vielleicht bilde ich es mir auch ein, weil ich wegen der Hitze nur noch für Minuten einnicken, aber nicht mehr durchschlafen kann. Das welke Salatblatt, an den Rändern schon schwarz, wurde aber noch nicht angerührt, ich tausche es mit einem frischen aus und lege es direkt vor die Tiere.

 
Die Schrebergärten sind menschenleer, diese Saison gibt es wohl nichts zu holen. Die Blätter hängen noch tiefer als das letzte Mal. Grossmutter erwartet mich strahlend an der Tür. „Wo ist denn dein Rollator?“, frage ich. „Den brauche ich nicht mehr“, sagt sie und zeigt in die Ecke. Auf der Ablagefläche steht ein Tetrapack Milch. Sie sieht mich von unten bis oben an: „Du hast abgenommen, Kind“. Ich setze mich erschöpft aufs Sofa und spüre wieder das wohltuende Lüftchen, das von der offenen Balkontür hineinweht. Ihre Geranien blühen. Wie schafft sie das bloss? Alle anderen Pflanzen sind in der Hitze verbrannt. Ich nehme mir vor, einige Blätter für meine Schnecken abzureissen, das wird sie bestimmt aus der Hitzestarre bringen. Plötzlich spüre ich etwas Warmes im Gesicht, am Hals. Ich wische mit dem Handrücken über meine Nase, sie ist voller Blut. „Macht nichts“, sage ich zu Arnika. „Von der Trockenheit bekomme ich manchmal Nasenbluten.“ Ich gehe ins Bad, wasche mein Gesicht, feuchte Toilettenpapier an, drücke es gegen meine Nase und setze mich wieder aufs Sofa. „Tibor arbeitet?“, fragt Arnika. „Jaja, die Arbeit ruft“, sage ich laut. Sie fährt mir übers Haar.


„Grossmutter, erzähl mir doch von der Donau“, sage ich schliesslich. Mein Herz klopft laut. „Von der Donau“, wiederholt sie. Grossmutter hat rosa Bäckchen bekommen, bemerke ich. Sie steht ganz behutsam auf, „Die Donau“. Ihr blickt schweift aus dem Fenster. „Ich habe sie immer angeschaut. An manchen Stellen ist sie breit und behäbig wie eine Autobahn. Aber es gibt Stellen, die sind ganz unruhig.“ Sie macht mit den Fingern Bewegungen in die Luft als würde sie Klavier spielen. „Die Donau!“ Mit den Schultern wippt sie sanft von der einen zur anderen Seite, dann streckt sie ihre Arme aus und macht eine Schlangenbewegung. „Die Donau hat Strudel und kleine Wellen“. Grossmutter Arnika schliesst die Lider, macht zwei Schritte zurück, dann zwei Schritte zur Seite, bevor sie sich einen Viertelkreis dreht. Sie tanzt behutsam alleine Walzer und sie sieht dabei so versunken und so glücklich aus und ich bin so erschöpft, dass ich nichts sage, als hinter ihr am Himmel etwas weiss aufleuchtet und feurballartig verglüht. Der Himmel verdunkelt sich und das mitten am Nachmittag. Ich lasse sie weiter ihre Kreise drehen, bleibe auf dem Sofa sitzen und warte einfach ab, was passiert.


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