Das Lob der Aufschiebung

Experimenteller Text zum Thema Selbsterkenntnis

von  Feliks Gershon Bokser

Ich bin ein Traktat und ich bin auch das Thema des Traktates. Unabhängig davon, inwieweit so eine Konstellation überhaupt möglich, oder vielleicht eher – vorstellbar, sein oder gemacht werden kann, behaupte ich das.
Ich bin ein Traktat, weil ich von einer Seminararbeit handle und das Handeln-Von meines Seins bestätigt mein Sein als ein Traktat. Ich bin aber auch gleichzeitig einer jener Ebenen des Themas, des Gegenstandes, die unter üblichen, sprich: rezeptiven, Voraussetzungen einem Leser nicht sichtbar gemacht werden soll in der Situation seiner Absorption. Denn ich bin diese genannte Seminararbeit in der Art, dass ich ihre Zwischenbilanz darstelle und auch nur als solche in Erscheinung treten mag, nicht anders, nicht mehr. Ich wurde begonnen, oder sagen wir lieber: geplant, nun mittlerweile vor mehr als einem Jahr. Unter den normalen, üblichen, erwarteten Umständen hätte meine Entstehungszeit lediglich höchstens einen Monat Zeit in Anspruch genommen. Doch die unübersehbare und unüberlesbare Tatsache, dass ich nun als ein Traktat auftrete und somit aber auch in der zeitlichen Ausdehnung nicht fertig geworden bin, soll die Ursache für die Notwendigkeit meiner jetzigen Abfassung verdeutlichen. Ich sollte das Thema Höflichkeit im DaF Unterricht – Analyse der Lehrwerke den erwähnten Umstand behandeln und untersuchen. Doch wenn mir gestattet sein sollte, eine Bestandsaufnahme meines Inhaltes an dieser Stelle vorzuführen, so hätte ich zwar ganze dreiundzwanzig Seiten eines Word-Dokuments vorzuweisen, ließe allerdings wenig Möglichkeit, dem Leser verständlich zu machen, weshalb ich angefangen wurde und was nun denn genau durch mich geklärt wurde. Mein Problem besteht darin, dass ich für eine längere Zeit liegengelassen, also vernachlässigt wurde. Zwischen dem Zeitpunkt meiner Entstehung und der Wiederaufnahme der Arbeit an mir liegt eine mir unerklärliche Kluft, die wohl mit meinem Sein – zumindest scheinbar – nichts zu tun hatte. Somit bin ich wahrscheinlich in den  ersten Schritten  meiner damals noch zarten Kindheit schon traumatisiert worden. Und doch. Ich wurde aufgenommen. Doch gerade die lange Spanne der Vernachlässigung bringt es mit sich, dass ich nun nur unter Mühe entstehen kann, da ich bereits zu lange nicht zur Welt gekommen bin, womit ich noch weniger darauf hoffen kann, die mir gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten. Ich habe aber Hoffnung, auch wenn diese kein fruchtbares Empfinden und keine progressive Geisteshaltung ist, ich empfinde sie dennoch, denn ich wachse, wenn auch nicht so schnell, wie es für mein nun, mittlerweile, hohes Alter vonnöten wäre. Noch bin ich lediglich eine Ansammlung von Zitaten kluger Bücher und Aufsätze, die nacheinander, wohl aber in der Reihenfolge der Exzerption ihrer Lektüre, in mir abgetippt und mir somit zugefügt werden. Es wird also bislang versucht, eine theoretische Basis für mein Abfassen zu erschaffen, da ich eine Erscheinung des akademischen Arbeitens bin, die einen akademisch arbeiten Wollenden auf diese kuriose und nicht ganz unmissverständliche famose akademische Arbeit vorbereiten soll. Aus diesem Standpunkt bin ich aber auch natürlich nur ein Versuch, nur ein Warm-Werden. Ich muss mich demnach mit meinem ephemeren Leben und meinem praktischen Zweck abfinden, obwohl ich an dieser durchaus nicht nur als ein Mittel zum Zweck aufzutreten bemüht bin. Um aber nun selbst zu verstehen, weshalb ich nicht fertig werde, und um gleichzeitig meinen späteren Lesern von der Reinheit meiner Art und meiner eigenen Bemühungen überzeugen zu können, bin ich erst ein Traktat geworden. Als ein Traktat lasse ich mich nämlich zeitlich dort liegen, wo ich gerade war, und möchte mich räumlich sowohl etwas von mir selbst entfernen als auch etwas tiefer an der Stelle gehen, an der ich zufälligerweise mich gerade befand. Dabei ist das Ziel, durch die so geschaffene Distanz die Struktur meines Entstehens freizulegen, damit eventuelle Prozessfehler aufgedeckt werden können.

Ich werde nämlich ziemlich oft durchgesehen, gelesen, gelegentlich auch korrigiert. Doch ich verspüre nicht den planmäßigen Tatendrang, der für meine Entstehung nötig wäre. Ich benötige nämlich großen Aufwand an Zeit, wenn ich gut sein möchte. Ich habe natürlich daher den Verdacht geschöpft, dass ich ganz besonders gut und schön werden soll. Doch angesichts der Tatsache, dass ich – wie ja oben bereits erwähnt – lediglich ein Exerzierfeld eines später (vielleicht) akademisch Arbeitenden bin, erscheint mir die von mir unterstellte erzwungene Besonderheit meines Endzustandes eher zweifelhaft, als möglich. Doch ich kann diesen Verdacht keinesfalls als unsinnig abwerfen, da seine Widerlegung mir durch Annahmen und Unterstellungen zumindest in jenen akademischen Kreisen, in denen ich mich zu bewegen habe, nicht gelingen wird. Somit muss ich die Hypothese über die Besonderheit meiner Entstehung in die Betrachtung einbringen und, ggf., auch als einen der Faktoren des Wirkungszusammenhanges berücksichtigen.

Ich bestehe aus einigen Zeilen Einleitung und den ersten Versuchen, sich meinem Thema anzunähern. Denn ich bin nicht mein Thema. Mein Thema ist nur ein Nebeneffekt. Und ich bestehe auch aus  sich im Anhang befindenden erwähnten Zitaten, die so scheinen, als seien sie die Materialien, aus denen ich gebaut werden soll. Doch ich sehe dabei keine vorher durchdachte Planmäßigkeit. Wenn ich ein Busfahrplan wäre, so blieben alle Fahrgäste nicht nur ungeduldig auf den ständig an ihnen vorbeifahrenden Bus stehen, der sie scheinbar übersieht, sondern hätten auch bei ihrem Warten überhaupt kein Dach über dem Kopf, was in Wuppertal insbesondere, wie man sich wohl vorstellen kann, ein nicht besonders positiver Begleitumstand wäre. Doch es versteht sich wohl auch genauso von selbst, dass ich trotz der Ausschweifung kein Busfahrplan bin. Ich bin, wie eingangs behauptet und unterstellt, eine Seminararbeit und ein Traktat. Und als solches bin ich leider nicht die Basis für Verlässlichkeit, die tausenden von Menschen den Alltag überhaupt ermöglicht. Die zweite Hypothese hat also genau damit zu tun: Ich scheine keine Dringlichkeit für die Regelung von menschlichem Leben aufzuweisen, als dass es nötig wäre, sich um meine Bereitstellung zu kümmern.
Somit gibt es, so meine Annahme, überhaupt keinen Grund für und keinen Bedarf an meiner Erstellung oder noch mehr: meiner Existenz.
Auch an dieser Stelle besteht die Möglichkeit, dass meine Sicht verzerrt ist, da ich nicht alle Begleitumstände meiner Erscheinung kennen kann. Doch meine Darstellung eben meiner mentalen Eindrücke veranlasst mich dennoch zu dieser Hypothese und Aussage.

Ich habe kein Skelett. Ich habe keine Zeichnung. Ich habe keine Karte. Keinen Plan. Jede mir bekannte längere Angelegenheit, die nicht im Nu entstehen kann, bedarf einer bestimmten einschlägigen Vorplanung, Skizzierung. Doch ich scheine eine angerotzte Pfütze zu sein, in die jeder Passant seine Spucke dazu geben darf und tut. Eine Müllhalde bin ich, auf die wöchentlich neuer Müll abgeworfen wird. Ein Haus ohne Wände und Fenster bin ich. Das ist meine dritte Hypothese: Ich werde nur irgendwie geflickt und gespickt und vollgespuckt, weil ich ohne einen Plan, ohne eine klare, verbalisierbare Vision zu erstellen angefangen wurde. Keine Zeit und unterschiedliche Vorgänge wie Mittel benötigende Arbeit wird aber ohne einen vorher gut durchdachten und skizzierten Plan durchgeführt, zu Ende geführt werden können.

Ich bin ein Traktat und als solches bin hiermit fast fertig, denn ich umfasse drei Seiten eines Word-Dokuments und bin ich fast nur 30 min geschrieben worden, wobei ich als Seminararbeit seit mehr als einem Jahr brachliege. Ich bin ohne Pause entstanden, ohne dass mein Entstehen durch etwas Nebensächliches, Störendes unterbrochen wurde. Daher habe ich als Traktat eine weitere Hypothese, die zwei sind: An mir ist nicht konzentriert und zeitgespannt gearbeitet worden, ich war nicht notwendig genug, um das Interesse über eine kurze und doch intensive und konzentrierte Zeitperiode auf mich richten zu können. Denn ich als Traktat bin so entstanden. Aber die vorherige Planmäßigkeit erwächst keiner obskuren Vorarbeit mit erzwungener Fragestellung und künstlicher Zielsetzung. Die Vorarbeit geschah im Kopf. Und musste nur noch ich werden.
Ich aber bin ein Traktat eine Seminararbeit und als solche habe ich den Auftrag einen Selbstbeobachtungsprozess zu tradieren, auf dass die schreibende Nachwelt von meiner kurzlebigen Existenz wissen möge.

Wuppertal, Mai 2011

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (06.03.18)
Schöne Idee, leider aber wieder mit einigen Schlampigkeiten, z.B. " weshalb ich angefangen wurde und was nun denn genau durch mich geklärt wurde" und "Ich b in ein.." und zuerst ist es 23 Seiten lang und gegen Ende nur noch 3.

 Feliks Gershon Bokser meinte dazu am 03.04.18:
Vielen Dank. Schlampigkeiten hin oder her: Beim Inhalt haben Sie dann doch ihrer Seitenzahlverwirrung zu entnehmen geschlampt

 Feliks Gershon Bokser antwortete darauf am 03.04.18:
Vielen Dank. Schlampigkeiten hin oder her: Beim Inhalt haben Sie dann doch ihrer Seitenzahlverwirrung zu entnehmen geschlampt

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 03.04.18:
Doch wenn mir gestattet sein sollte, eine Bestandaufnahme meines Inhaltes an dieser Stelle vorzuführen, so hätte ich zwar 23 Seiten eines Word-Dokuments vorzuweisen

und

Ich b in ein Traktat und als solches bin hiermit fast fertig, denn ich umfasse 3 Seiten eines Word-Dokument
,

inklusive des bereits beschriebenen Schlampigkeitsfehlers.

 Feliks Gershon Bokser äußerte darauf am 03.04.18:
Lieber Dieter,
ich weiß nicht. Ich glaube es gibt das und das. Traktat ist Traktat. Seminararbeit ist Seminararbeit. Der Traktat ist nicht die Sem inararbeit. Sie ist er geworden. Anstatt selbst sie zu werden.

Antwort geändert am 03.04.2018 um 11:19 Uhr

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 04.04.18:
Ich hätte auch noch mehr Kririkpunkte, aber ich sehe schon, das ist "vergebliche Liebesmühe", wie man so schön sagt ...

Antwort geändert am 04.04.2018 um 03:11 Uhr

 Feliks Gershon Bokser meinte dazu am 04.04.18:
Lieber Dieter,
Da unterschätzen Die aber bei weitem Ihre Wirkung.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 04.04.18:
Stimmt, da konzentriere ich mich doch lieber auf die, die für konstruktive Kritik empfänglich sind, nicht wahr, Hodscha, alter Serbe!

 Feliks Gershon Bokser meinte dazu am 18.11.18:
So, werter Herr Rotmund,
habe - Ihnen sei gedankt - mich nochmals des Textes angenommen. Vielen Dank für Anregungen!
Ihr
fgb

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 18.11.18:
Gerne geschehen.
Böhmc (29)
(22.04.19)
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