Die elfte Tiefebene - Teil II -
Erzählung zum Thema Zukunft
von BerndtB
Zwei Berufsgruppen hatten sich in der Stadt herausgebildet: die „Tarner“ und die „Enttarner“. Sie standen in ständigem Wettstreit miteinander und versuchten, sich auf immer ausgeklügeltere Weise gegenseitig zu übertreffen. Während die Tarner ihre teuren Dienste anboten, um alle nur denkbaren Plätze bestmöglich gegen jede Art von Ausspähung abzuschirmen, versuchten die Enttarner genau das Gegenteil – in öffentlichem Auftrag. Die Theater gehörten der Allgemeinheit.
Die Menschen hatten sich diesen Verhältnissen weitestgehend angepasst. Fast jeder war Klient eines persönlichen Tarners, wobei sich die ganz Reichen die berühmtesten Tarner leisten konnten. War alles nur denkbar Mögliche für die Tarnung getan, dann verhielt sich die überwiegende Mehrheit der Leute so, als wären sie vollkommen unbeobachtet. Natürlich gab es einige wenige, die man als „krank“ bezeichnen konnte. Sie litten unter dem Wahn, immer und überall beobachtet zu werden und benahmen sich an den üblichen, menschlichen Aufenthaltsorten oft nahezu grotesk – zur besonderen Erheiterung der Theaterbesucher. Für solche Menschen gab es ärztliche Behandlung, auch wurden ihnen mit behördlicher Unterstützung besonders qualifizierte Tarner zur Verfügung gestellt, dies aber nur in wirklich nachgewiesenen Ausnahmefällen; denn es gab manchen Simulanten, der sich nur krank stellte, um auf billige Art und Weise einen guten Tarner „verordnet“ zu bekommen.
Eine weitere Gruppe von Außenseitern waren die so genannten „Schauspieler“, denen es besondere Freude bereitete, ihr Verhalten so einzurichten, als ob sie ständig und überall beobachtet und in irgendwelchen Theatern projiziert würden. Obwohl sie nie die Dienste eines Tarners in Anspruch nahmen, genossen sie es geradezu, im Theater „aufzutreten“, und obwohl sie in finanzieller Hinsicht recht wenig zur Entwicklung des Gemeinwesens beitrugen, stellten sie keinerlei Gefahr dar und wurden durchaus toleriert: Einerseits handelte es sich hier nur um eine kleine Gruppe, andererseits aber war die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass sie auch wirklich in einem Theater gezeigt wurden und den Zuschauern durch ihr auffälliges Gehabe den Spaß verdarben. Es gab viel zu viele Menschen in der Stadt, als dass alle projiziert werden konnten. Geriet doch einmal ein Schauspieler in die Projektion, dann wurde er mangels Interesse nicht lange im Bild festgehalten.
Schon unerwünschter war die Außenseitergruppe der sogenannten „Antis“. Infolge ihres gemeinschädlichen Verhaltens galten sie als gefährlich. In gewissem Rahmen wurde ihr Benehmen geduldet; teilweise nahmen ihre Aktivitäten aber strafwürdige Ausmaße an. Die harmloseren unter ihnen wurden noch den Schauspielern zugerechnet, die um jeden Preis auffallen wollten. Oft verhielten sich Antis an menschlichen Aufenthaltsorten im Großen und Ganzen normal, führten nur ab und zu Reden, in denen sie ihr Missfallen an der Stadt und ihrer Organisation äußerten. Schlimmer wurde es schon, wenn sie sich auch entsprechend benahmen, wenn zum Beispiel zwei Antis in einer Wohnung mitten im Gespräch (sie sprachen viel miteinander) Dinge äußerten wie „wenn uns jetzt jemand zuhört oder zusieht, dann soll er sich überlegen, ob ihm vielleicht nicht eher damit gedient wäre, zu uns zu kommen und mit uns zu reden als sich zu verstecken.“ Dergleichen wurde aus verständlichen Gründen nicht gerne gesehen – der Theaterbesucher, der seine verdiente Belustigung haben wollte, konnte hierdurch verärgert und bei labilem Charakter möglicherweise sogar verunsichert werden. Aber nur in Ausnahmefällen schritt die Administration ein. Aufenthaltsorte von als Antis bekanntgewordenen Personen wurden unter besonderer nicht öffentlicher Beobachtung gehalten und nur noch dann projiziert, wenn sich diese Menschen in unbedachten Augenblicken in einem für jeden Zuschauer klar erkennbaren ungünstigen und verabscheuungswürdigem Licht zeigten.
Unnachgiebig geahndet wurde es, wenn Antis versuchten, gewaltsam Sabotage an Beobachtungseinrichtungen zu verüben, Enttarner beschimpften oder bei der Arbeit behinderten oder anderen Menschen Gespräche aufzwangen. Immer wieder wurden Plätze entdeckt, an denen Antis in unerwünschten Gruppen versammelt waren oder miteinander sprachen. Zwar war es nicht direkt verboten, sich in Gruppen aufzuhalten, es galt aber als sittlich anstößig, und die Administration behielt es sich vor, solche Ansammlungen jederzeit aufzulösen. Diese Regelung erschien genügend, denn rechtschaffene Stadtbewohner hielten sich sowieso nie in Gruppen auf. Geschah dies doch einmal, weil es für eine Arbeit, die mehrere gemeinsam verrichten mussten, zur Herbeiführung einer Entscheidung oder dergleichen unerlässlich war, so suchte man hierfür spezielle Örtlichkeiten auf, an denen man die Allgemeinheit möglichst wenig störte und trennte sich, sobald es wieder möglich war. Auf jeden Fall trugen solche „Arbeitsgruppen“ stets Sorge dafür, dass sie nicht mit Antis zu verwechseln waren, oft schon genügten hierfür gemeinsame Arbeitskleidung, Werkzeuge, Arbeitsmappen oder ähnliches. Einigen wenigen Antis, die sich als echte Arbeitsgruppen getarnt hatten, waren in letzter Zeit größere Sabotageakte geglückt, aber man hatte sie bisher fast alle ausfindig machen und eliminieren können.
Jedenfalls trugen diese Entwicklungen der letzten Zeit mehr und mehr dazu bei, den Stimmen Recht zu geben, die für eine vollständige Beseitigung der Antis sprachen. War man bisher davon ausgegangen, dass es besser wäre zu wissen, wo Antis sich versammelten und aufhielten als sie durch administratives Einschreiten zu vertreiben und ihre neuen Verstecke erst wieder ausfindig machen zu müssen, neigte man jetzt mehr der radikaleren Meinung zu. Über die Erfolgsaussichten einer solchen Säuberungsaktion bestanden an den verantwortlichen Stellen aber mehr Zweifel, als man offiziell zugab. Antis gab es viele, und sie waren schlau. So ließ man nach außen verlauten, es gäbe momentan keinen zwingenden Grund, den Antis zu Leibe zu rücken und wies darauf hin, dass ihr widernatürliches Verhalten doch immer wieder Gelegenheit zu recht erheiternden Projektionen für die Theater gäbe, eine Perspektive, auf die die große Stadt eigentlich nicht verzichten sollte. Manchmal war auch vom notwendigen „abschreckenden Beispiel“ die Rede.
Die überwiegende Mehrzahl der Menschen jedoch lebte vollkommen normal, allein oder zu zweit, den städtischen Gepflogenheiten entsprechend, und fühlte sich wohl dabei. Man hatte seinen Tarner und ging deshalb davon aus, zu Hause, im Restaurant und im Theater nicht beobachtet zu werden. Schließlich sah man im Theater immer nur andere Menschen, nie sich selbst; denn es wurde nur gleichzeitiges Geschehen projiziert. Mit anderen Personen, die einen womöglich im Theater gesehen haben konnten, kam man so gut wie nie in Kontakt: Die Transportmittel, Restaurants, Einkaufskabinen, Arbeitsplätze und Wohnungen waren fast ausschließlich für allerhöchstens zwei Personen vorgesehen, wobei es auch Paare vorzogen, recht oft voneinander getrennt zu sein und ihre Zweisamkeit nicht allzu übermäßig zu strapazieren.
Zwar konnte es vorkommen, dass sich Menschen, insbesondere Paare, irgendwann einmal als Einzelperson gesehen hatten, aber dies geschah sehr selten und spielte schon deshalb nur eine unbedeutende Rolle für das eigene Bewusstsein, weil die andere Person nie darüber sprach. Dies war ein ehernes Gesetz.
Zur allgemeinen Beobachtung hatten die Menschen eine ähnliche Einstellung wie zum Sterben: Jeder wusste, dass er im Prinzip jederzeit projiziert werden konnte und dies sicherlich auch einmal werden würde – trotz aller Tarnanstrengungen – niemand jedoch hatte sich selbst projiziert gesehen.
*
Klaus Berger und seine Frau befanden sich in der fünften Tiefebene auf dem Wege zur Reservierungszentrale. Sie hatten eine Zweiertransportkabine bestiegen, den Zielcode eingegeben und glitten durch das Tunnelsystem, lautlos und schnell. Nachdem der kleine Personenbehälter zum Stillstand gekommen war, stiegen sie aus und betraten durch eine Schleuse einen Kasten, dessen Türen sich sogleich hinter ihnen schlossen. Hier brauchte keine neue Zielbestimmung eingegeben zu werden; er setzte sich automatisch in aufwärtiger Richtung in Bewegung, bemerkbar am Körpergewicht, das nach unten drückte, verließ aber nicht die fünfte Tiefebene, wie die Kontrollanzeige angab. Nach einigen Sekunden blieb der Transportkasten stehen. Die Türen öffneten sich nicht.
Klaus Berger beunruhigte dies keineswegs; denn dies war durchaus nicht unüblich. Bei Transportmitteln, die zu Plätzen der allgemeinen Benutzung führten, war vielfach eine Steuerung vorhanden, die dafür sorgte, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig zu diesen Plätzen gelangten. Aus der Erkenntnis früherer Zeiten, dass größere Ansammlungen von Menschen, Schlangen, Gedränge zum Ausbruch aggressiven Verhaltens führen können, hatte man dafür gesorgt, dass ankommende Kabinen meist so lange in einer Art von „Warteraum“ blieben, bis ihren Benutzern freier und ungestörter Zugang zu den gewünschten Plätzen garantiert werden konnte. In den Kabinen war dann ein entsprechender Hinweis vorhanden, so auch hier. Eine Schrift leuchtete auf: „Bitte warten – Zutrittskoordination“.
Bald verlosch die Schrift. Die Türen der Transportkabine öffneten sich und gaben den Weg auf eine lange Reihe von mannshohen, schrankenähnlichen Kästen frei, mit Zahlen, Tasten, Symbolen, Ein- und Ausgabeschlitzen, Bildschirmen und Lautsprechern – die Reservierungszentrale.
Klaus Berger nahm seine am Nachmittag besorgten Berechtigungsmarken zur Hand. Sie trugen die Aufschrift – 85-C-. Ein Blick auf die Automaten vor ihm ergab, dass diese zum Komplex „-A-„ gehörten. Ein Pfeil am Ende der Reihe von Kästen wies in die Richtung eines Ganges und trug die Aufschrift B – L. Er begab sich also in die bezeichnete Richtung. Seine Frau zog es vor, in einer kleinen Wartekabine in der Nähe des Eingangs zu bleiben; denn es genügte, wenn einer von ihnen eine Zwei-Personen-Zutrittsmarke für das Theater besorgte. Die Tür der Wartekabine schloss sich, Frau Berger setzte einen Unterhaltungskopfhörer auf, nahm auf dem bequemen Stuhl in der kleinen Kabine Platz und lauschte den aus dem Kopfhörer dringenden, heutzutage nur selten zu hörenden Klängen eines Stückes von „Beethoven“ oder wie dieser antiquierte Tontechniker hieß, erstaunt, aber nicht ohne Vergnügen.
Klaus Berger ging also bis zum Ende des A-Ganges, dem Pfeil nach, der in die Richtung B – L wies und befand sich nach wenigen Schritten vor einer Tür, die sich bei seinem Herantreten geräuschlos öffnete. Es war die Tür eines winzigen Transportbehälters, gerade groß genug für eine Person. Er dachte daran, dass seine Frau gar nicht hätte mitkommen können und sowieso in der Wartekabine hätte bleiben müssen, ging in den Transportbehälter, und die Tür schloss sich hinter ihm. Er drückte auf eine Taste mit der Aufschrift „C“. Die Kabine setzte sich in Bewegung. Klaus Berger hatte das Gefühl, dass es einen Moment lang geradeaus und dann für einige Sekunden abwärts ging. Die Kabine hielt an, die Tür öffnete sich. Wieder war eine Reihe von Kästen zu sehen, wie schon beim Eintritt in die Reservierungszentrale. Sie trugen jedoch hier die gewünschte Aufschrift „C“. Schnell war der Automat mit der Nummer 85 gefunden. Klaus Berger steckte die beiden Berechtigungsmarken in einen Schlitz, gab die persönlichen Geheimnummern von sich selbst und seiner Frau in eine Tastatur ein und erhielt an der Ausgabestelle eine größere Zutrittsmarke, die offenbar für eine bestimmte Zwei-Personen-Theaterkabine vorgesehen war, der Aufschrift nach in der elften Tiefebene.
Zurück ging es zu der winzigen Transportkabine und in Richtung der A-Reihe, wo Frau Berger wartete. Doch zunächst gab es einen Aufenthalt. Die Schrift leuchtete auf: „Bitte warten – Zutrittskoordination“. Klaus Berger wartete. Nichts geschah. Die Schrift verlosch. Jetzt hätte sich die Tür öffnen müssen. Sie blieb verschlossen. Er drückte die Störungstaste. Daraufhin setzte sich die Kabine wieder in Bewegung. Diesmal dauerte die Fahrt etwas länger. Es ging abwärts, wohin, war nicht ersichtlich. Bei den kleinen Transportbehältern, die nur der Beförderung innerhalb der Ebenen selbst dienten, war eine Positionsanzeige entbehrlich, da man ohnehin wusste, wo man sich befand.
Klaus Berger wusste es nicht mehr. Die Fahrt endete, die Tür öffnete sich. Er war in der siebten Tiefebene.
*
Horst Jansen befand sich mit seiner Freundin in einer Theaterkabine in der zehnten Tiefebene. Eigentlich fühlten sich die beiden dort etwas fehl am Platze; denn es war ein sehr teures Theater, normalerweise nur den reichen Leuten und führenden Persönlichkeiten der Stadt vorbehalten. Aber heute war der Jahrestag ihres Zusammenlebens, und dafür war Horst Jansen nichts zu teuer gewesen.
Nun verfolgten sie allerhand Geschehen. Zuerst sahen sie einen Mann in einem Restaurant, seiner Kleidung und dem Luxus der Restaurantkabine nach zu urteilen, einen vornehmen Mann, der offenbar glaubte, sich sehr gut getarnt zu haben. Nachdem er die Tür hermetisch verschlossen und alle Wände der Restaurantkabine einem prüfenden Blick unterzogen hatte, nickte er zufrieden mit dem Kopf und ließ einem inneren körperlichen Überdruck aus allen Richtungen und geräuschvoll freien Lauf. Er wählte ein Menü, das er äußerst schmatzend verzehrte, nachdem er seine Hose der Bequemlichkeit wegen geöffnet hatte, denn er war sehr dick, und dann begab er sich zur Ruhe. Anscheinend fehlte ihm aber doch noch etwas zur vollkommenen Zufriedenheit; denn er stand wieder auf, entkleidete sich gänzlich, was ganz gewiss kein appetitlicher Anblick war und – onanierte. Horst Jansen und Freundin, die das Geschehen zunächst zweidimensional auf dem Bildschirm verfolgt hatten, schalteten bei der letzten Szene auf „dreidimensional“ um und konnten nun den unappetitlichen Restaurantbesucher bei seiner einsamen Beschäftigung inmitten ihrer Theaterkabine sehen. Jansens Freundin kicherte. Nachdem sich der dicke Mann endgültig zum Verdauungsschlaf begeben hatte, blendete die Szene aus und, wieder zweidimensional, verfolgten Jansen und Freundin ein erregtes Gespräch einer Gruppe von sieben Personen, bei denen es sich offenbar um Antis handelte. Der Auftritt war widerwärtig, er zeigte nur allzu deutlich, wie wenig diese Leute doch in der Lage waren, allein mit sich selbst zurechtzukommen. Sie fingen nach kurzer Zeit einer immer erregter werdenden Diskussion an zu schreien, und für einen Moment sah es so aus, als wollten sie sich schlagen. Nichts von der Ruhe, Gelassenheit und Ausdruckslosigkeit, wie man sie bei normalen Menschen fand, war auf ihren Gesichtern zu sehen. Fast auf jede Bemerkung einer Person reagierten die anderen mit Gefühlsausbrüchen. Alle redeten durcheinander, bis niemand mehr dem anderen zuhörte. Schließlich fing eine der Frauen aus der Gruppe an zu weinen; die anderen hielten in ihrer Auseinandersetzung inne und sahen zu ihr hin – da blendete das Bild aus. Horst Jansen und seine Freundin, die sich noch nie recht Gedanken darüber gemacht hatten, empfanden beide, jeder für sich, ohne Worte gebrauchen zu müssen, Abscheu vor der gezeigten Situation; es war gut, dass nicht noch mehr von der „Anti-Versammlung“ gezeigt worden war, wer weiß, was noch an Widerwärtigkeiten gekommen wäre.
Nach dem Auftritt der Antis wurden offensichtlich irgendwelche Abwässerkanäle der Stadt in die Kabine projiziert; man sah eine riesige Anzahl von Ratten, die über einen großen Hund herfielen, der auf irgendeine Weise dorthin gelangt sein mochte. Es war anscheinend ein naturwissenschaftlicher Beitrag, interessant und lehrreich. Man konnte sehen, wie Tausende von Ratten einen lebenden Hund in Minutenschnelle bis auf die Knochen abnagten Horst Jansen war noch nie zu Ohren gekommen, dass es so etwas überhaupt gab. Von dem Vorhandensein so vieler Ratten in der modernen Stadt war er überrascht. Sehr viel Schmutz musste es in der Stadt geben.
Im Anschluss an die Rattenprojektion erschien wieder ein einzelner Mann von etwa Ende 50 Jahren auf dem Bildschirm, der sich in einer Transportkabine befand und dort offenbar mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ältere Menschen sah man ganz selten. Der Mann hielt eine Zulassungsmarke für eine Theaterkabine in der Hand, drückte einen Knopf und blieb in der Kabine gefangen, da sich ihre Tür nicht öffnete. Dann betätigte er den Störungsknopf, worauf die Kabine wieder losfuhr. Kurz darauf hielt sie nochmals, aber, wie es schien, an einem Ort, zu dem der Mann nicht hingewollt hatte. Sein Verhalten wirkte auf Horst Jansen und seine Freundin äußerst erheiternd. Es bestand ein seltsam unwirklicher Kontrast zwischen dem verkniffenen, entschlossenen Gesichtsausdruck des Mannes und seinen unbeholfenen, fahrigen Bewegungen. Er verließ die Transportkabine, blickte sich suchend um, sah eine Aufschrift „siebte Tiefebene“, schüttelte den Kopf und verharrte nachdenklich. Dann wollte er in die Transportkabine zurück, die jedoch inzwischen ohne ihn wieder abgefahren war. Der Mann lief los, ziellos einige Gänge entlang, immer schneller werdend, als suchte er etwas. Er machte den Eindruck, als habe er es aus irgendeinem Grund sehr eilig. Aufatmend hielt er inne, als er an eine Senkrechtschachtanlage kam. Er betätigte die Tastatur, eine Kabine erschien, und der Mann verschwand darin. Aber den Augen der Beobachter war er nicht verborgen. Sie konnten ihn weiter verfolgen, während sich die Kabine mit ihm abwärts bewegte und Schweißperlen auf seiner Stirn erschienen. Der Mann hatte augenscheinlich in seiner Eile einen falschen Zielcode eingegeben und nahm nun mit fliegenden Händen eine Korrektur an der Tastatur in der Kabine vor.
*
Klaus Berger zwang sich mit Gewalt zur Ruhe. Bisher hatte er sich überall in der Stadt ohne Schwierigkeiten zurechtgefunden, in allen möglichen Ebenen war er gewesen, kannte die Zielcodes von Hunderten von Plätzen auswendig und hatte sehr oft schon die Zuverlässigkeit und die Schnelligkeit der Transportmittel gelobt. So etwas wie heute war ihm noch nicht vorgekommen. Und seine Ehefrau wartete doch auf ihn, in der fünften Ebene, am Eingang der Reservierungszentrale. Sicherlich wurde sie schon ungeduldig. „Wenn doch nur jemand da wäre“, durchfuhr es seinen Kopf, ein Gedanke, der ihm bisher gänzlich fremd gewesen war.
Aber seine Korrektur schien Erfolg gehabt zu haben. Jetzt hatte er, wie es schien, den richtigen Code für die Reservierungszentrale eingegeben. Die Kabine hielt, und Klaus Berger befand sich in der fünften Ebene. Er fand eine Schleuse, die zu Transportkästen führte, betrat einen Kasten, die Türen schlossen sich, die Fahrt ging in verschiedene Richtungen, der Kasten hielt, die Türen öffneten sich, und Klaus Berger befand sich wieder in der Reservierungszentrale. Zwar war es noch nicht die A-Reihe, wo seine Frau auf ihn wartete, sondern die E-Reihe, aber das Schlimmste war geschafft. Mit hastigen Schritten ging Klaus Berger an den Kästen vorbei und stolperte fast über eine andere Person, die eine Tastatur bediente und ihm ob dieser ungewöhnlichen und belästigenden Störung vorwurfsvoll nachsah. Am Ende der Reihe von Kästen waren zwei Pfeile zu sehen. Einer deutete in Richtung F – L, der andere in Richtung A – D. Diesem folgte er, kam zu einer der kleinen Transportkabinen, betrat sie, drückte eine Taste mit der Aufschrift „A“ und wartete. Dann ging ein kleiner Ruck durch die Kabine. Sie setzte sich in Bewegung. Klaus Berger empfand die Atemluft in den winzigen Raum als stickig. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Am Hals spürte er seinen Pulsschlag. Aus irgendeiner unerklärlichen Angst, keine Luft zu bekommen, atmete er unnatürlich tief ein, fast, als wollte er die Luft trinken, hielt den Atem etwas inne und stieß ihn dann schnell und heftig wieder aus, als ob er die verbrauchte Luft umgehend wieder loswerden wollte. Ein leichtes Schwindelgefühl bemächtigte sich seiner. Doch er kam nicht dazu, über die tieferen Ursachen seines momentanen Unwohlseins weiter nachzudenken: Es hatte praktisch nur eines einzigen Atemzuges bedurft, bis die Kabine am Ziel war – der Reihe A der Reservierungszentrale.
Die Menschen hatten sich diesen Verhältnissen weitestgehend angepasst. Fast jeder war Klient eines persönlichen Tarners, wobei sich die ganz Reichen die berühmtesten Tarner leisten konnten. War alles nur denkbar Mögliche für die Tarnung getan, dann verhielt sich die überwiegende Mehrheit der Leute so, als wären sie vollkommen unbeobachtet. Natürlich gab es einige wenige, die man als „krank“ bezeichnen konnte. Sie litten unter dem Wahn, immer und überall beobachtet zu werden und benahmen sich an den üblichen, menschlichen Aufenthaltsorten oft nahezu grotesk – zur besonderen Erheiterung der Theaterbesucher. Für solche Menschen gab es ärztliche Behandlung, auch wurden ihnen mit behördlicher Unterstützung besonders qualifizierte Tarner zur Verfügung gestellt, dies aber nur in wirklich nachgewiesenen Ausnahmefällen; denn es gab manchen Simulanten, der sich nur krank stellte, um auf billige Art und Weise einen guten Tarner „verordnet“ zu bekommen.
Eine weitere Gruppe von Außenseitern waren die so genannten „Schauspieler“, denen es besondere Freude bereitete, ihr Verhalten so einzurichten, als ob sie ständig und überall beobachtet und in irgendwelchen Theatern projiziert würden. Obwohl sie nie die Dienste eines Tarners in Anspruch nahmen, genossen sie es geradezu, im Theater „aufzutreten“, und obwohl sie in finanzieller Hinsicht recht wenig zur Entwicklung des Gemeinwesens beitrugen, stellten sie keinerlei Gefahr dar und wurden durchaus toleriert: Einerseits handelte es sich hier nur um eine kleine Gruppe, andererseits aber war die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass sie auch wirklich in einem Theater gezeigt wurden und den Zuschauern durch ihr auffälliges Gehabe den Spaß verdarben. Es gab viel zu viele Menschen in der Stadt, als dass alle projiziert werden konnten. Geriet doch einmal ein Schauspieler in die Projektion, dann wurde er mangels Interesse nicht lange im Bild festgehalten.
Schon unerwünschter war die Außenseitergruppe der sogenannten „Antis“. Infolge ihres gemeinschädlichen Verhaltens galten sie als gefährlich. In gewissem Rahmen wurde ihr Benehmen geduldet; teilweise nahmen ihre Aktivitäten aber strafwürdige Ausmaße an. Die harmloseren unter ihnen wurden noch den Schauspielern zugerechnet, die um jeden Preis auffallen wollten. Oft verhielten sich Antis an menschlichen Aufenthaltsorten im Großen und Ganzen normal, führten nur ab und zu Reden, in denen sie ihr Missfallen an der Stadt und ihrer Organisation äußerten. Schlimmer wurde es schon, wenn sie sich auch entsprechend benahmen, wenn zum Beispiel zwei Antis in einer Wohnung mitten im Gespräch (sie sprachen viel miteinander) Dinge äußerten wie „wenn uns jetzt jemand zuhört oder zusieht, dann soll er sich überlegen, ob ihm vielleicht nicht eher damit gedient wäre, zu uns zu kommen und mit uns zu reden als sich zu verstecken.“ Dergleichen wurde aus verständlichen Gründen nicht gerne gesehen – der Theaterbesucher, der seine verdiente Belustigung haben wollte, konnte hierdurch verärgert und bei labilem Charakter möglicherweise sogar verunsichert werden. Aber nur in Ausnahmefällen schritt die Administration ein. Aufenthaltsorte von als Antis bekanntgewordenen Personen wurden unter besonderer nicht öffentlicher Beobachtung gehalten und nur noch dann projiziert, wenn sich diese Menschen in unbedachten Augenblicken in einem für jeden Zuschauer klar erkennbaren ungünstigen und verabscheuungswürdigem Licht zeigten.
Unnachgiebig geahndet wurde es, wenn Antis versuchten, gewaltsam Sabotage an Beobachtungseinrichtungen zu verüben, Enttarner beschimpften oder bei der Arbeit behinderten oder anderen Menschen Gespräche aufzwangen. Immer wieder wurden Plätze entdeckt, an denen Antis in unerwünschten Gruppen versammelt waren oder miteinander sprachen. Zwar war es nicht direkt verboten, sich in Gruppen aufzuhalten, es galt aber als sittlich anstößig, und die Administration behielt es sich vor, solche Ansammlungen jederzeit aufzulösen. Diese Regelung erschien genügend, denn rechtschaffene Stadtbewohner hielten sich sowieso nie in Gruppen auf. Geschah dies doch einmal, weil es für eine Arbeit, die mehrere gemeinsam verrichten mussten, zur Herbeiführung einer Entscheidung oder dergleichen unerlässlich war, so suchte man hierfür spezielle Örtlichkeiten auf, an denen man die Allgemeinheit möglichst wenig störte und trennte sich, sobald es wieder möglich war. Auf jeden Fall trugen solche „Arbeitsgruppen“ stets Sorge dafür, dass sie nicht mit Antis zu verwechseln waren, oft schon genügten hierfür gemeinsame Arbeitskleidung, Werkzeuge, Arbeitsmappen oder ähnliches. Einigen wenigen Antis, die sich als echte Arbeitsgruppen getarnt hatten, waren in letzter Zeit größere Sabotageakte geglückt, aber man hatte sie bisher fast alle ausfindig machen und eliminieren können.
Jedenfalls trugen diese Entwicklungen der letzten Zeit mehr und mehr dazu bei, den Stimmen Recht zu geben, die für eine vollständige Beseitigung der Antis sprachen. War man bisher davon ausgegangen, dass es besser wäre zu wissen, wo Antis sich versammelten und aufhielten als sie durch administratives Einschreiten zu vertreiben und ihre neuen Verstecke erst wieder ausfindig machen zu müssen, neigte man jetzt mehr der radikaleren Meinung zu. Über die Erfolgsaussichten einer solchen Säuberungsaktion bestanden an den verantwortlichen Stellen aber mehr Zweifel, als man offiziell zugab. Antis gab es viele, und sie waren schlau. So ließ man nach außen verlauten, es gäbe momentan keinen zwingenden Grund, den Antis zu Leibe zu rücken und wies darauf hin, dass ihr widernatürliches Verhalten doch immer wieder Gelegenheit zu recht erheiternden Projektionen für die Theater gäbe, eine Perspektive, auf die die große Stadt eigentlich nicht verzichten sollte. Manchmal war auch vom notwendigen „abschreckenden Beispiel“ die Rede.
Die überwiegende Mehrzahl der Menschen jedoch lebte vollkommen normal, allein oder zu zweit, den städtischen Gepflogenheiten entsprechend, und fühlte sich wohl dabei. Man hatte seinen Tarner und ging deshalb davon aus, zu Hause, im Restaurant und im Theater nicht beobachtet zu werden. Schließlich sah man im Theater immer nur andere Menschen, nie sich selbst; denn es wurde nur gleichzeitiges Geschehen projiziert. Mit anderen Personen, die einen womöglich im Theater gesehen haben konnten, kam man so gut wie nie in Kontakt: Die Transportmittel, Restaurants, Einkaufskabinen, Arbeitsplätze und Wohnungen waren fast ausschließlich für allerhöchstens zwei Personen vorgesehen, wobei es auch Paare vorzogen, recht oft voneinander getrennt zu sein und ihre Zweisamkeit nicht allzu übermäßig zu strapazieren.
Zwar konnte es vorkommen, dass sich Menschen, insbesondere Paare, irgendwann einmal als Einzelperson gesehen hatten, aber dies geschah sehr selten und spielte schon deshalb nur eine unbedeutende Rolle für das eigene Bewusstsein, weil die andere Person nie darüber sprach. Dies war ein ehernes Gesetz.
Zur allgemeinen Beobachtung hatten die Menschen eine ähnliche Einstellung wie zum Sterben: Jeder wusste, dass er im Prinzip jederzeit projiziert werden konnte und dies sicherlich auch einmal werden würde – trotz aller Tarnanstrengungen – niemand jedoch hatte sich selbst projiziert gesehen.
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Klaus Berger und seine Frau befanden sich in der fünften Tiefebene auf dem Wege zur Reservierungszentrale. Sie hatten eine Zweiertransportkabine bestiegen, den Zielcode eingegeben und glitten durch das Tunnelsystem, lautlos und schnell. Nachdem der kleine Personenbehälter zum Stillstand gekommen war, stiegen sie aus und betraten durch eine Schleuse einen Kasten, dessen Türen sich sogleich hinter ihnen schlossen. Hier brauchte keine neue Zielbestimmung eingegeben zu werden; er setzte sich automatisch in aufwärtiger Richtung in Bewegung, bemerkbar am Körpergewicht, das nach unten drückte, verließ aber nicht die fünfte Tiefebene, wie die Kontrollanzeige angab. Nach einigen Sekunden blieb der Transportkasten stehen. Die Türen öffneten sich nicht.
Klaus Berger beunruhigte dies keineswegs; denn dies war durchaus nicht unüblich. Bei Transportmitteln, die zu Plätzen der allgemeinen Benutzung führten, war vielfach eine Steuerung vorhanden, die dafür sorgte, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig zu diesen Plätzen gelangten. Aus der Erkenntnis früherer Zeiten, dass größere Ansammlungen von Menschen, Schlangen, Gedränge zum Ausbruch aggressiven Verhaltens führen können, hatte man dafür gesorgt, dass ankommende Kabinen meist so lange in einer Art von „Warteraum“ blieben, bis ihren Benutzern freier und ungestörter Zugang zu den gewünschten Plätzen garantiert werden konnte. In den Kabinen war dann ein entsprechender Hinweis vorhanden, so auch hier. Eine Schrift leuchtete auf: „Bitte warten – Zutrittskoordination“.
Bald verlosch die Schrift. Die Türen der Transportkabine öffneten sich und gaben den Weg auf eine lange Reihe von mannshohen, schrankenähnlichen Kästen frei, mit Zahlen, Tasten, Symbolen, Ein- und Ausgabeschlitzen, Bildschirmen und Lautsprechern – die Reservierungszentrale.
Klaus Berger nahm seine am Nachmittag besorgten Berechtigungsmarken zur Hand. Sie trugen die Aufschrift – 85-C-. Ein Blick auf die Automaten vor ihm ergab, dass diese zum Komplex „-A-„ gehörten. Ein Pfeil am Ende der Reihe von Kästen wies in die Richtung eines Ganges und trug die Aufschrift B – L. Er begab sich also in die bezeichnete Richtung. Seine Frau zog es vor, in einer kleinen Wartekabine in der Nähe des Eingangs zu bleiben; denn es genügte, wenn einer von ihnen eine Zwei-Personen-Zutrittsmarke für das Theater besorgte. Die Tür der Wartekabine schloss sich, Frau Berger setzte einen Unterhaltungskopfhörer auf, nahm auf dem bequemen Stuhl in der kleinen Kabine Platz und lauschte den aus dem Kopfhörer dringenden, heutzutage nur selten zu hörenden Klängen eines Stückes von „Beethoven“ oder wie dieser antiquierte Tontechniker hieß, erstaunt, aber nicht ohne Vergnügen.
Klaus Berger ging also bis zum Ende des A-Ganges, dem Pfeil nach, der in die Richtung B – L wies und befand sich nach wenigen Schritten vor einer Tür, die sich bei seinem Herantreten geräuschlos öffnete. Es war die Tür eines winzigen Transportbehälters, gerade groß genug für eine Person. Er dachte daran, dass seine Frau gar nicht hätte mitkommen können und sowieso in der Wartekabine hätte bleiben müssen, ging in den Transportbehälter, und die Tür schloss sich hinter ihm. Er drückte auf eine Taste mit der Aufschrift „C“. Die Kabine setzte sich in Bewegung. Klaus Berger hatte das Gefühl, dass es einen Moment lang geradeaus und dann für einige Sekunden abwärts ging. Die Kabine hielt an, die Tür öffnete sich. Wieder war eine Reihe von Kästen zu sehen, wie schon beim Eintritt in die Reservierungszentrale. Sie trugen jedoch hier die gewünschte Aufschrift „C“. Schnell war der Automat mit der Nummer 85 gefunden. Klaus Berger steckte die beiden Berechtigungsmarken in einen Schlitz, gab die persönlichen Geheimnummern von sich selbst und seiner Frau in eine Tastatur ein und erhielt an der Ausgabestelle eine größere Zutrittsmarke, die offenbar für eine bestimmte Zwei-Personen-Theaterkabine vorgesehen war, der Aufschrift nach in der elften Tiefebene.
Zurück ging es zu der winzigen Transportkabine und in Richtung der A-Reihe, wo Frau Berger wartete. Doch zunächst gab es einen Aufenthalt. Die Schrift leuchtete auf: „Bitte warten – Zutrittskoordination“. Klaus Berger wartete. Nichts geschah. Die Schrift verlosch. Jetzt hätte sich die Tür öffnen müssen. Sie blieb verschlossen. Er drückte die Störungstaste. Daraufhin setzte sich die Kabine wieder in Bewegung. Diesmal dauerte die Fahrt etwas länger. Es ging abwärts, wohin, war nicht ersichtlich. Bei den kleinen Transportbehältern, die nur der Beförderung innerhalb der Ebenen selbst dienten, war eine Positionsanzeige entbehrlich, da man ohnehin wusste, wo man sich befand.
Klaus Berger wusste es nicht mehr. Die Fahrt endete, die Tür öffnete sich. Er war in der siebten Tiefebene.
*
Horst Jansen befand sich mit seiner Freundin in einer Theaterkabine in der zehnten Tiefebene. Eigentlich fühlten sich die beiden dort etwas fehl am Platze; denn es war ein sehr teures Theater, normalerweise nur den reichen Leuten und führenden Persönlichkeiten der Stadt vorbehalten. Aber heute war der Jahrestag ihres Zusammenlebens, und dafür war Horst Jansen nichts zu teuer gewesen.
Nun verfolgten sie allerhand Geschehen. Zuerst sahen sie einen Mann in einem Restaurant, seiner Kleidung und dem Luxus der Restaurantkabine nach zu urteilen, einen vornehmen Mann, der offenbar glaubte, sich sehr gut getarnt zu haben. Nachdem er die Tür hermetisch verschlossen und alle Wände der Restaurantkabine einem prüfenden Blick unterzogen hatte, nickte er zufrieden mit dem Kopf und ließ einem inneren körperlichen Überdruck aus allen Richtungen und geräuschvoll freien Lauf. Er wählte ein Menü, das er äußerst schmatzend verzehrte, nachdem er seine Hose der Bequemlichkeit wegen geöffnet hatte, denn er war sehr dick, und dann begab er sich zur Ruhe. Anscheinend fehlte ihm aber doch noch etwas zur vollkommenen Zufriedenheit; denn er stand wieder auf, entkleidete sich gänzlich, was ganz gewiss kein appetitlicher Anblick war und – onanierte. Horst Jansen und Freundin, die das Geschehen zunächst zweidimensional auf dem Bildschirm verfolgt hatten, schalteten bei der letzten Szene auf „dreidimensional“ um und konnten nun den unappetitlichen Restaurantbesucher bei seiner einsamen Beschäftigung inmitten ihrer Theaterkabine sehen. Jansens Freundin kicherte. Nachdem sich der dicke Mann endgültig zum Verdauungsschlaf begeben hatte, blendete die Szene aus und, wieder zweidimensional, verfolgten Jansen und Freundin ein erregtes Gespräch einer Gruppe von sieben Personen, bei denen es sich offenbar um Antis handelte. Der Auftritt war widerwärtig, er zeigte nur allzu deutlich, wie wenig diese Leute doch in der Lage waren, allein mit sich selbst zurechtzukommen. Sie fingen nach kurzer Zeit einer immer erregter werdenden Diskussion an zu schreien, und für einen Moment sah es so aus, als wollten sie sich schlagen. Nichts von der Ruhe, Gelassenheit und Ausdruckslosigkeit, wie man sie bei normalen Menschen fand, war auf ihren Gesichtern zu sehen. Fast auf jede Bemerkung einer Person reagierten die anderen mit Gefühlsausbrüchen. Alle redeten durcheinander, bis niemand mehr dem anderen zuhörte. Schließlich fing eine der Frauen aus der Gruppe an zu weinen; die anderen hielten in ihrer Auseinandersetzung inne und sahen zu ihr hin – da blendete das Bild aus. Horst Jansen und seine Freundin, die sich noch nie recht Gedanken darüber gemacht hatten, empfanden beide, jeder für sich, ohne Worte gebrauchen zu müssen, Abscheu vor der gezeigten Situation; es war gut, dass nicht noch mehr von der „Anti-Versammlung“ gezeigt worden war, wer weiß, was noch an Widerwärtigkeiten gekommen wäre.
Nach dem Auftritt der Antis wurden offensichtlich irgendwelche Abwässerkanäle der Stadt in die Kabine projiziert; man sah eine riesige Anzahl von Ratten, die über einen großen Hund herfielen, der auf irgendeine Weise dorthin gelangt sein mochte. Es war anscheinend ein naturwissenschaftlicher Beitrag, interessant und lehrreich. Man konnte sehen, wie Tausende von Ratten einen lebenden Hund in Minutenschnelle bis auf die Knochen abnagten Horst Jansen war noch nie zu Ohren gekommen, dass es so etwas überhaupt gab. Von dem Vorhandensein so vieler Ratten in der modernen Stadt war er überrascht. Sehr viel Schmutz musste es in der Stadt geben.
Im Anschluss an die Rattenprojektion erschien wieder ein einzelner Mann von etwa Ende 50 Jahren auf dem Bildschirm, der sich in einer Transportkabine befand und dort offenbar mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ältere Menschen sah man ganz selten. Der Mann hielt eine Zulassungsmarke für eine Theaterkabine in der Hand, drückte einen Knopf und blieb in der Kabine gefangen, da sich ihre Tür nicht öffnete. Dann betätigte er den Störungsknopf, worauf die Kabine wieder losfuhr. Kurz darauf hielt sie nochmals, aber, wie es schien, an einem Ort, zu dem der Mann nicht hingewollt hatte. Sein Verhalten wirkte auf Horst Jansen und seine Freundin äußerst erheiternd. Es bestand ein seltsam unwirklicher Kontrast zwischen dem verkniffenen, entschlossenen Gesichtsausdruck des Mannes und seinen unbeholfenen, fahrigen Bewegungen. Er verließ die Transportkabine, blickte sich suchend um, sah eine Aufschrift „siebte Tiefebene“, schüttelte den Kopf und verharrte nachdenklich. Dann wollte er in die Transportkabine zurück, die jedoch inzwischen ohne ihn wieder abgefahren war. Der Mann lief los, ziellos einige Gänge entlang, immer schneller werdend, als suchte er etwas. Er machte den Eindruck, als habe er es aus irgendeinem Grund sehr eilig. Aufatmend hielt er inne, als er an eine Senkrechtschachtanlage kam. Er betätigte die Tastatur, eine Kabine erschien, und der Mann verschwand darin. Aber den Augen der Beobachter war er nicht verborgen. Sie konnten ihn weiter verfolgen, während sich die Kabine mit ihm abwärts bewegte und Schweißperlen auf seiner Stirn erschienen. Der Mann hatte augenscheinlich in seiner Eile einen falschen Zielcode eingegeben und nahm nun mit fliegenden Händen eine Korrektur an der Tastatur in der Kabine vor.
*
Klaus Berger zwang sich mit Gewalt zur Ruhe. Bisher hatte er sich überall in der Stadt ohne Schwierigkeiten zurechtgefunden, in allen möglichen Ebenen war er gewesen, kannte die Zielcodes von Hunderten von Plätzen auswendig und hatte sehr oft schon die Zuverlässigkeit und die Schnelligkeit der Transportmittel gelobt. So etwas wie heute war ihm noch nicht vorgekommen. Und seine Ehefrau wartete doch auf ihn, in der fünften Ebene, am Eingang der Reservierungszentrale. Sicherlich wurde sie schon ungeduldig. „Wenn doch nur jemand da wäre“, durchfuhr es seinen Kopf, ein Gedanke, der ihm bisher gänzlich fremd gewesen war.
Aber seine Korrektur schien Erfolg gehabt zu haben. Jetzt hatte er, wie es schien, den richtigen Code für die Reservierungszentrale eingegeben. Die Kabine hielt, und Klaus Berger befand sich in der fünften Ebene. Er fand eine Schleuse, die zu Transportkästen führte, betrat einen Kasten, die Türen schlossen sich, die Fahrt ging in verschiedene Richtungen, der Kasten hielt, die Türen öffneten sich, und Klaus Berger befand sich wieder in der Reservierungszentrale. Zwar war es noch nicht die A-Reihe, wo seine Frau auf ihn wartete, sondern die E-Reihe, aber das Schlimmste war geschafft. Mit hastigen Schritten ging Klaus Berger an den Kästen vorbei und stolperte fast über eine andere Person, die eine Tastatur bediente und ihm ob dieser ungewöhnlichen und belästigenden Störung vorwurfsvoll nachsah. Am Ende der Reihe von Kästen waren zwei Pfeile zu sehen. Einer deutete in Richtung F – L, der andere in Richtung A – D. Diesem folgte er, kam zu einer der kleinen Transportkabinen, betrat sie, drückte eine Taste mit der Aufschrift „A“ und wartete. Dann ging ein kleiner Ruck durch die Kabine. Sie setzte sich in Bewegung. Klaus Berger empfand die Atemluft in den winzigen Raum als stickig. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Am Hals spürte er seinen Pulsschlag. Aus irgendeiner unerklärlichen Angst, keine Luft zu bekommen, atmete er unnatürlich tief ein, fast, als wollte er die Luft trinken, hielt den Atem etwas inne und stieß ihn dann schnell und heftig wieder aus, als ob er die verbrauchte Luft umgehend wieder loswerden wollte. Ein leichtes Schwindelgefühl bemächtigte sich seiner. Doch er kam nicht dazu, über die tieferen Ursachen seines momentanen Unwohlseins weiter nachzudenken: Es hatte praktisch nur eines einzigen Atemzuges bedurft, bis die Kabine am Ziel war – der Reihe A der Reservierungszentrale.
Kommentare zu diesem Text
Der Eindruck wachsender Entfremdung der Menschen voneinander verstärkt sich. Das Perverse erscheint als natürlich und das Natürliche als pervers.
Du erzählst hervorragend von dieser Unterwelt, die den Menschen als normal erscheint.
Du erzählst hervorragend von dieser Unterwelt, die den Menschen als normal erscheint.
Die Fiktion wird Realität und umgekehrt. Wie im heutigen Leben.
Danke, Ekki, für Deinen Kommentar, auf den ich stolz bin.
LG
Berndt
Danke, Ekki, für Deinen Kommentar, auf den ich stolz bin.
LG
Berndt