Die elfte Tiefebene - Teil I -
Erzählung zum Thema Zukunft
von BerndtB
Er hieß Klaus Berger. Er lebte in der Stadt. Dort verdiente er sein Geld, verbrachte Stunden, Tage, Jahre. Schöne Zeiten erlebte er in ihr und weniger schöne. In der Freizeit verließ er ab und zu die Stadt und träumte davon, nie mehr in sie zurückkehren zu müssen. Bald kam er aber wieder; denn er lebte in der Stadt. Er lebte nicht alleine dort. Andere waren auch da. Er sah sie. Sie sahen ihn. Einander sahen sie kaum.
Klaus Berger lebte mit seiner Frau in einer Wohnung in der Stadt. Sie befand sich, zusammen mit anderen Wohnungen, in einem großen Haus. Die Bergers waren ein Teil der Wohnung, des Hauses und der Stadt, diese jedoch keine Teile von ihnen. Sie lebten in der Stadt, die Stadt nicht in ihnen.
Die Stadt war laut, bei Tag und bei Nacht. Der Tag und die Nacht waren künstlich. Zu Weihnachten war die Stadt weniger laut. Sie war warm. Im Winter fiel dort kein Schnee. Im Sommer kam kein kühlender Wind. Auch Vögel gab es in der Stadt. Sie waren fast tot. Manchmal schrien sie in der Nacht. Hunde gab es, wenige Katzen. Scheu schlichen sie um die Ecken. Ihr Leben war schmutzig. Sie hinterließen ihren Schmutz auf Straßen und Transportwegen, konnten ihn aber nicht entfernen. Auf glattem Boden war ihr Scharren sinnlos geworden. Je tiefer man in die Stadt kam, desto weniger Tiere gab es.
Schmutz war in der Stadt. Woher kam er? Aus den Häusern, aus den Tieren? Aus den Menschen? Man fand ihn überall – über und unter der Erde, in den Straßen, den künstlichen Parks, auf Plätzen, in den Transportmitteln, in der Kanalisation und an Stellen, die kaum ein Mensch kannte. Solche Stellen gab es viele, obwohl niemand so recht daran glaubte.
Täglich wurde die Stadt gereinigt. Der Schmutz wurde gesammelt und aus der Stadt herausgefahren. Doch die Stadt wurde nicht leer. Immer mehr Schmutz entquoll ihr, wie Eiter aus einer Wunde. Die Wunde heilte nicht. Frische Waren wurden täglich in die Stadt gefahren, Lebensmittel, hygienisch und sauber. Vor den Toren der Stadt hatte man den Schmutz wieder eingepackt.
Klaus Berger und seine Frau lebten langsam. Wenn die Zeit schön war, lebten sie schnell. Auch die Stadt lebte schnell. Ihr Herzschlag raste, aber es war das beschleunigte Herzklopfen eines Kranken, der mit schnellem Atem und jagendem Puls dennoch langsam lebt, eine schöne Zeit höchstens in seinen Fieberträumen empfindend.
Die Stadt wurde von zahlreichen Adern durchzogen, die dem schnellen Transport aller Dinge dienten. Das Versorgungsnetz funktionierte gut – in der Luft, auf der Erde und unter der Erde. Da über und auf der Erde aber viel zu wenig Platz, alles allem im Wege war, was auf Kosten der gewünschten Schnelligkeit ging, verlegte man sich mehr und mehr unter die Erde. Auch dort wurde der Platz knapp. So stieß man in immer tiefere unterschiedliche Bereiche vor, in denen sich der Transport in zunehmendem Maße vollzog.
Auch die Menschen benutzten mehr und mehr die Wege unter der Erde. Angefangen hatte es vor langer Zeit mit Untergrundbahnen. Inzwischen musste man aber immer tiefer hinab und brauchte desto länger, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. So kam es, dass möglichst viele der Plätze, welche die Menschen zu erreichen hatten, ebenfalls unter die Erde verlegt wurden – Geschäfte, Behördenstellen, Büros, Banken, Restaurants, Theater. Auf diese Weise konnten die Menschen schneller die nötigen und erwünschten Dinge erledigen. Weil aber an all diesen Stellen Personen arbeiteten, so erfolgte dadurch auch eine Verlegung von immer mehr Arbeitsplätzen unter die Erde. Dies führte dazu, dass eine stets größer werdende Anzahl von Leuten die unterirdischen Bereiche am Tage so gut wie nicht mehr verlassen musste. War dies jedoch notwendig, weil irgendeine Einrichtung nach wie vor über der Erdoberfläche ihren Sitz hatte, so wurden bald Stimmen laut, die sich darüber beschwerten, den Verantwortlichen dieser Institutionen Schikane vorwarfen und verlangten, dass man ihren Sitz, zumindest, was die Anlaufstellen betraf, unter die Erde verlegen sollte, wo man auch von den Menschen erreichbar wäre.
Dennoch wurden die vorhandenen Gebäude und Anlagen über der Erdoberfläche nach wie vor genutzt, da man noch nicht so weit vorangeschritten war, als dass man ganz auf sie hätte verzichten können. Diejenigen, die dort zu tun hatten, empfanden sich aber als benachteiligt, waren sie doch sehr daran gehindert, am wirklichen Leben, das sich unterirdisch abspielte, teilzuhaben. So führten zahlreiche senkrechte Schächte von allen Gebäuden hinunter in die Stadt, in der das Leben war. Sie dienten der schnellstmöglichen Beförderung von Personen und Sachen. Diese Transportart hatte man so weit vervollkommnet, dass es einfacher und schneller war, von einem Gebäude zu einem anderen, oft nur wenige Meter entfernten zu gelangen, wenn man den Weg unter der Erde wählte, als wenn man sich mühsam oberirdisch bewegte. Daher verwahrlosten viele Wege auf der Erde, die früher von Menschen begangen worden waren. Sie wuchsen mit gelbem Gras zu, und Risse bildeten sich in ihnen.
Auch die Wohngebäude wurden nach und nach mit den unterirdischen Stadtbereichen verbunden. Daher brauchte man nicht mehr den beschwerlichen Weg über der Erde bis zum nächsten Einstieg in die Unterwelt zu nehmen, sondern konnte sich direkt, durch senkrechte Schächte, ohne Umwege und mit größtmöglicher Geschwindigkeit, nach unten begeben.
*
Klaus Berger und seine Frau benutzten immer einen solchen Weg direkt aus ihrem Haus in die unterirdischen Stadtbereiche. Er arbeitete etwa zehn Transportminuten entfernt in der dritten Tiefebene im Büro einer Versicherungsgesellschaft, seine Frau fünf Transportminuten weiter oberirdisch in der Verwaltung einer Behörde. Zwar war sie nicht ganz glücklich über diesen etwas rückständigen Arbeitsplatz, seitens ihrer Amtsleitung hatte man aber wenigstens schon durchgesetzt, dass das Behördenhaus, so wie viele andere Gebäude, teilweise an die unterirdischen Gebiete angeglichen wurde. Man hatte es zu diesem Zwecke mit einer dicken, massiven, grünlichen Verkleidungsmasse kuppelförmig überformt, so dass es vollständig vor jeder natürlichen Licht- und Luftzufuhr, die einen an primitive oberirdische Verhältnisse erinnern konnte, geschützt war und gleichsam wie eine Beule unter der Haut aus dem unterirdischen Bereich herausragte. Lediglich die Tatsache, dass sie viele Ebenen in vertikaler Richtung zu durchqueren hatte, ehe sie an ihrem Arbeitsplatz eintraf, erinnerte Frau Berger noch an alte, rückständige Verhältnisse. Aber auch dies hatte durch besondere Schnelltransportschächte weitestgehend ausgeglichen werden können. Man war sogar so weit gegangen, dass man in den kleinen Kabinen, welche in den zu den oberen Bereichen führenden Schnelltransportschächten auf- und abwärts rasten, auf die ansonsten übliche Kontrollanzeige verzichtete, mit der den Menschen während des ohnehin nur Sekunden dauernden Schnelltransports ihre jeweilige Position angezeigt wurde. Auf diese Weise fiel es kaum auf, dass man sich so weit nach „oben“ begab, und es war nicht so sehr als „außen“ zu empfinden, wo man sich abgeschieden, ungeschützt und hilflos vorkam.
In den meisten Wohngebäuden litt man in ähnlicher Weise. Viele waren zwar schon, wie das Haus, in dem Frau Berger arbeitete, durch Überformungsmasse geschützt, daher auch recht hoch in den Mietkosten; den Luxus hingegen, ganz unter der Erde zu wohnen, konnten sich bisher nur einige wenige Privilegierte leisten. Zwar gab es schon seit Jahren Pläne, allen Menschen in Bereichen unter der fünften und sechsten Tiefebene Wohnraum zu verschaffen, ihre Verwirklichung war aber bisher immer an den Kosten gescheitert.
Das Ehepaar Berger traf sich regelmäßig zur Mittagszeit, um gemeinsam das Essen einzunehmen. Treffpunkt war ein Restaurant in der vierten Tiefebene, etwa zwei Transportminuten von Herrn Berger und vier von seiner Frau entfernt. Diese Unterbrechung des Tages bedeutete ihnen sehr viel. Sie fanden hierbei etwas „zu sich selbst“, wie sie sagten. Dies ging auch vielen anderen Leuten so; denn die Restaurants vermittelten neben der Verköstigung gleichzeitig eine Atmosphäre von Geborgenheit und Freiheit, wie man sie weder am Arbeitsplatz noch zu Hause hatte.
Die Restaurants bestanden aus vielen Kabinen verschiedener Größen, die man allein, zu zweit oder, was seltener vorkam, in kleinen Gruppen aufsuchen konnte. Die weitaus größte Anzahl bildeten somit auch die Einzel- und Doppelkabinen. Hatte man sie betreten, so konnten sie von innen hermetisch verschlossen werden. Ihre Ausstattung bestand aus variablen Ruhemöbeln, Auflageflächen für die Speisen, einem Sanitärabteil sowie einem Bestell- und Unterhaltungsautomaten.
Es gab Restaurants unterschiedlicher Kategorie. Die teuersten befanden sich in den tieferen Ebenen und unterschieden sich von einfacheren im Wesentlichen dadurch, dass man sich in ihnen wirksamer von der Außenwelt abschirmen konnte. Je stärker, sicherer und raffinierter sie sich abriegeln ließen, umso geborgener und wohler fühlten sich die Menschen darin.
Herr und Frau Berger trafen sich auch heute in ihrem Stammrestaurant in der vierten Tiefebene. Es gehörte zwar keiner besonders hohen Preisklasse an, denn das konnten sie sich nicht alle Tage leisten, war aber doch sicher genug abzuschließen, dass man sich darin bis zu einem recht hohen Grade unbeobachtet und gesichert fühlen konnte.
Klaus Berger gab eine Menüwahl in die Tastatur des Bestellautomaten ein, versehen mit seinem persönlichen Code. Die Bergers aßen, danach entkleideten sie sich, legten sich auf die Ruhemöbel und entspannten. An manchen Tagen schliefen sie nach dem Essen in der Kabine miteinander, was viele Paare taten, denen die oberirdischen Wohnungen zu ungeschützt dafür erschienen. Heute aber gaben sich ganz einem gesättigten, wohligen, matten Müdigkeitsgefühl hin. Den Unterhaltungsautomaten, der über eine Geräuschautomatik verfügte, die von den verschiedensten Musikarten über Waldesrauschen, Meeresbrandung, Gewittertosen bis hin zu Menschenunterhaltung und Schmerzensschreien alles bot, was man sich vorstellen konnte, stellten sie auf "Stille". Nach einer Weile leichten Schlafes gingen sie in die kleine Sanitärkabine, erfrischten ihre Körper und zogen sich wieder an. Sie nahmen sich vor, am Abend ein Theater zu besuchen, eine Abwechslung, die eigentlich gar keine mehr war, da sie die meistverbreitete abendliche Beschäftigung für die Menschen in der Stadt darstellte.
Dennoch versprach dieser Abend außergewöhnlich zu werden. In einer neu erschlossenen Tiefebene, irgendwo am untersten Ende der allgemein bekannten Stadt, befanden sich neue Theater, die den Menschen höchste, neuartige Entspannung und Unterhaltung verschaffen sollten. So hieß es zumindest in den Nachrichtenprogrammen. Klaus Berger wollte versuchen, Zulassungsmarken für eines dieser Theater zu bekommen. Am Abend würde er dann mit seiner Frau gleich von der Arbeitsstelle in die neue Theaterebene fahren. Sie verabschiedeten sich voneinander.
Im Laufe des Nachmittages ging Klaus Berger zu einem Informationsautomaten. Er bediente einige Tasten, um die Theaternachrichten sichtbar zu machen. Auf den ersten Blick war nur das Übliche zu finden. Doch dann entdeckte er auf dem kleinen Bildschirm einen kurzen Hinweis, der einen bestimmten Code für „neue Theater“ bezeichnete. Er wählte die genannte Ziffernfolge und erhielt detailliertere Auskunft. Genannt wurden die Öffnungszeiten, die Einlassbedingungen und die Reservierungszentrale. Über das, was man dort sehen sollte, gab es entgegen der üblichen Gepflogenheit keine Auskunft. Die Sache versprach wirklich spannend zu werden. Klaus Berger wählte ein Theater in der elften Tiefebene, von dem er noch nie zuvor etwas gehört hatte. Nach Eingabe der Codes für sich und seine Frau erhielt er zwei Berechtigungsmarken für die Reservierungszentrale.
*
Am Abend traf er seine Frau. Sie war mit seiner Wahl zufrieden, und sie beschlossen, sich sofort in die fünfte Tiefebene zu begeben, wo die Reservierungszentrale für das „neue Theater“ sein sollte. Während des nur wenige Minuten dauernden Transports durch einen Senkrechtschacht in die fünfte Tiefebene und durch Tunnel innerhalb der Ebene selbst unterhielten sie sich über das bevorstehende Programm und rätselten, was dort zu sehen sein könnte. Seit langer Zeit wieder freuten sie sich so richtig auf etwas. Die üblichen Theater hatten sie schon lange satt.
In den normalen Theatern befand man sich, ähnlich wie in den Restaurants, in Kabinen, die fest verschließbar waren. Sie fassten einen oder zwei Zuschauer und in Ausnahmefällen kleine Gruppen. Es war jedoch fast verpönt, mit mehr als zwei Personen eine Kabine zu benutzen. Die Abgeschiedenheit und Sicherheit, nicht zuletzt um derentwillen man ja überhaupt ins Theater ging, hätte man ansonsten wieder aufgegeben.
Gezeigt wurde in den Theatern meist aktuelles Geschehen. Zweidimensional, selbstverständlich mit Ton, manchmal aber auch ohne, wenn es bessere Effekte versprach, erschien alles auf einem wandgroßen Farbbildschirm. Immer beliebter wurde es aber, das Geschehen dreidimensional, in die Mitte der Kabine, zu projizieren, wobei man herumgehen und es von allen Seiten betrachten konnte.
Real war das Theater. Mit dem, was in früheren Jahren darunter verstanden worden war, hatte es nichts mehr zu tun. Es wäre tödlich langweilig gewesen, irgendwelche „Stücke“ zu projizieren, von denen man genau wusste, dass sie nicht tatsächlich und zwar jetzt oder fast jetzt – kleine Zeitverschiebungen waren erlaubt, in erstklassigen Theatern aber nicht gern gesehen – geschahen. Die Menschen wollten Anteil haben an dem, was in der Welt, vor der Stadt, aber vor allem in der Stadt mit ihren vielen Tiefebenen gerade geschah. Hatte man im täglichen Leben durch die nahezu vollständige Automatisierung und persönliche Isolierung kaum eine Möglichkeit mehr zu irgendeiner Kontaktaufnahme untereinander, im Theater war man direkt bei dem, was zur Zeit vor sich ging, ohne die Risiken und Unannehmlichkeiten der persönlichen Begegnung und direkten Konfrontation. Es war also nicht verwunderlich, dass die Theaterbesucher meist menschliches Geschehen sehen und miterleben wollten. Zwar gab es auch Projizierungen von Tieren, Weltraumunternehmungen oder herausragenden technischen Ereignissen, aber wenn es sich hierbei nicht gerade um Sensationen oder gewaltige Katastrophen handelte, bestand kaum ein Interesse dafür.
Am beliebtesten war also das menschliche Theater. Zum Beispiel konnte man Einblick nehmen in Büros, wo einzelne Menschen in kleinen Arbeitskabinen saßen und ihrem Tagewerk nachgingen. Die Beschäftigten in den Büros wussten davon und bekamen dafür, dass sie während ihrer Arbeit im Theater zu sehen waren, einen Zuschlag auf ihr Gehalt. Man konnte aber auch Menschen in Transportmitteln beobachten, auf dem Weg durch die verschiedenen Ebenen. Von einer besonderen Regelzentrale wurden dabei automatisch Szenen projiziert, die irgendwie interessant erschienen; wenn zum Beispiel jemand im Transportsystem einen Herzanfall bekam, Leute in Streit gerieten oder sich im Gewirr der Tunnel und Schächte nicht zurechtfanden und verzweifelt umherirrten. Ein ganz besonderer Genuss wurde der Theaterbesuch, wenn es irgendwo zu einem Unfall oder gar zu einer Katastrophe kam. Solche Ereignisse wurden sofort in die Projektion gesteuert, und manchmal konnte man in allen Einzelheiten das Verbluten und Sterben von Menschen und die Arbeit der Hilfskräfte beobachten, während man in seiner Kabine, allein und wohlgeschützt, um die dreidimensionale Raumprojektion herumging.
Sehr gerne besucht, wenn auch sehr teuer, waren Theater, in denen das Verhalten von Menschen an Orten gezeigt wurde, an denen sie sich vollkommen abgeschirmt und unbeobachtet fühlten, zum Beispiel in ihren Wohnungen, in Restaurants und Toiletten. Wer öffentliche Toiletten aufsuchte, dem war klar, dass er dabei unter Umständen beobachtet werden konnte; erheiternd war es dennoch, jemandem zuzuschauen, der sich in einer Toilettenkabine befand, umhersuchend, wo möglicherweise eine Beobachtungsanlage installiert sein könnte. Diese aufzufinden war natürlich sehr schwierig; denn winzige Punkte irgendwo in der Kabine, kleiner als ein Stecknadelknopf, mit dem bloßen Auge kaum sichtbar, konnten Beobachtungsstellen sein. Sah dann der Theaterzuschauer, wie der Toilettenbesucher mit mitgebrachtem Klebeband eine Stelle abdeckte, die er „identifiziert“ zu haben glaubte, die aber nicht die richtige war, so erfuhr das Betrachten des sich unbeobachtet Glaubenden, den man inmitten seiner Theaterkabine hatte, die Steigerung zum wahrhaften Erlebnis.
Restaurantbesuchern ging es nicht viel anders. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dort beobachtet zu werden, umso geringer, je höher die Preisklasse gewählt wurde, aber ganz sicher konnte man nie sein. Deshalb wiesen Schilder an guten Restaurants ausdrücklich darauf hin, dass man hier „absolut unbeobachtet“ wäre. Man konnte auch nach dem Betreten und hermetischen Verschließen der Restaurantkabine noch zusätzliche Sicherungsvorrichtungen, Gleitwände, Folien und dergleichen anbringen und sich dann wirklich allein und unbeobachtet fühlen. Mancher brachte sich sogar seine eigenen Abdeckutensilien aus besonderem Material mit, von denen es hieß, sie würden alle Beobachtungsversuche vereiteln, und an die er glaubte.
In teuren Theatern wiederum wurde nun gerade versucht, in diese Räume Einblick zu bekommen, die als besonders sicher galten. Immer neuere und verfeinerte Methoden wurden gefunden, mit denen man auch bestgesicherte Plätze durchdringen konnte.
Gleiches galt für Wohnungen. Auch hier konnte man davon ausgehen, dass sie umso sicherer waren, je mehr sie kosteten. Dennoch gab es tagtäglich in den Theatern Menschen zu beobachten, wie sie in ihren Wohnungen aßen, tranken, sich an- und auszogen, sexuell verkehrten, zur Toilette gingen, schliefen – und manchmal redeten. Und nur in den teuersten, besten Theatern vermochte man in die teuersten, besten Wohnungen Einblick zu nehmen.
Klaus Berger lebte mit seiner Frau in einer Wohnung in der Stadt. Sie befand sich, zusammen mit anderen Wohnungen, in einem großen Haus. Die Bergers waren ein Teil der Wohnung, des Hauses und der Stadt, diese jedoch keine Teile von ihnen. Sie lebten in der Stadt, die Stadt nicht in ihnen.
Die Stadt war laut, bei Tag und bei Nacht. Der Tag und die Nacht waren künstlich. Zu Weihnachten war die Stadt weniger laut. Sie war warm. Im Winter fiel dort kein Schnee. Im Sommer kam kein kühlender Wind. Auch Vögel gab es in der Stadt. Sie waren fast tot. Manchmal schrien sie in der Nacht. Hunde gab es, wenige Katzen. Scheu schlichen sie um die Ecken. Ihr Leben war schmutzig. Sie hinterließen ihren Schmutz auf Straßen und Transportwegen, konnten ihn aber nicht entfernen. Auf glattem Boden war ihr Scharren sinnlos geworden. Je tiefer man in die Stadt kam, desto weniger Tiere gab es.
Schmutz war in der Stadt. Woher kam er? Aus den Häusern, aus den Tieren? Aus den Menschen? Man fand ihn überall – über und unter der Erde, in den Straßen, den künstlichen Parks, auf Plätzen, in den Transportmitteln, in der Kanalisation und an Stellen, die kaum ein Mensch kannte. Solche Stellen gab es viele, obwohl niemand so recht daran glaubte.
Täglich wurde die Stadt gereinigt. Der Schmutz wurde gesammelt und aus der Stadt herausgefahren. Doch die Stadt wurde nicht leer. Immer mehr Schmutz entquoll ihr, wie Eiter aus einer Wunde. Die Wunde heilte nicht. Frische Waren wurden täglich in die Stadt gefahren, Lebensmittel, hygienisch und sauber. Vor den Toren der Stadt hatte man den Schmutz wieder eingepackt.
Klaus Berger und seine Frau lebten langsam. Wenn die Zeit schön war, lebten sie schnell. Auch die Stadt lebte schnell. Ihr Herzschlag raste, aber es war das beschleunigte Herzklopfen eines Kranken, der mit schnellem Atem und jagendem Puls dennoch langsam lebt, eine schöne Zeit höchstens in seinen Fieberträumen empfindend.
Die Stadt wurde von zahlreichen Adern durchzogen, die dem schnellen Transport aller Dinge dienten. Das Versorgungsnetz funktionierte gut – in der Luft, auf der Erde und unter der Erde. Da über und auf der Erde aber viel zu wenig Platz, alles allem im Wege war, was auf Kosten der gewünschten Schnelligkeit ging, verlegte man sich mehr und mehr unter die Erde. Auch dort wurde der Platz knapp. So stieß man in immer tiefere unterschiedliche Bereiche vor, in denen sich der Transport in zunehmendem Maße vollzog.
Auch die Menschen benutzten mehr und mehr die Wege unter der Erde. Angefangen hatte es vor langer Zeit mit Untergrundbahnen. Inzwischen musste man aber immer tiefer hinab und brauchte desto länger, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. So kam es, dass möglichst viele der Plätze, welche die Menschen zu erreichen hatten, ebenfalls unter die Erde verlegt wurden – Geschäfte, Behördenstellen, Büros, Banken, Restaurants, Theater. Auf diese Weise konnten die Menschen schneller die nötigen und erwünschten Dinge erledigen. Weil aber an all diesen Stellen Personen arbeiteten, so erfolgte dadurch auch eine Verlegung von immer mehr Arbeitsplätzen unter die Erde. Dies führte dazu, dass eine stets größer werdende Anzahl von Leuten die unterirdischen Bereiche am Tage so gut wie nicht mehr verlassen musste. War dies jedoch notwendig, weil irgendeine Einrichtung nach wie vor über der Erdoberfläche ihren Sitz hatte, so wurden bald Stimmen laut, die sich darüber beschwerten, den Verantwortlichen dieser Institutionen Schikane vorwarfen und verlangten, dass man ihren Sitz, zumindest, was die Anlaufstellen betraf, unter die Erde verlegen sollte, wo man auch von den Menschen erreichbar wäre.
Dennoch wurden die vorhandenen Gebäude und Anlagen über der Erdoberfläche nach wie vor genutzt, da man noch nicht so weit vorangeschritten war, als dass man ganz auf sie hätte verzichten können. Diejenigen, die dort zu tun hatten, empfanden sich aber als benachteiligt, waren sie doch sehr daran gehindert, am wirklichen Leben, das sich unterirdisch abspielte, teilzuhaben. So führten zahlreiche senkrechte Schächte von allen Gebäuden hinunter in die Stadt, in der das Leben war. Sie dienten der schnellstmöglichen Beförderung von Personen und Sachen. Diese Transportart hatte man so weit vervollkommnet, dass es einfacher und schneller war, von einem Gebäude zu einem anderen, oft nur wenige Meter entfernten zu gelangen, wenn man den Weg unter der Erde wählte, als wenn man sich mühsam oberirdisch bewegte. Daher verwahrlosten viele Wege auf der Erde, die früher von Menschen begangen worden waren. Sie wuchsen mit gelbem Gras zu, und Risse bildeten sich in ihnen.
Auch die Wohngebäude wurden nach und nach mit den unterirdischen Stadtbereichen verbunden. Daher brauchte man nicht mehr den beschwerlichen Weg über der Erde bis zum nächsten Einstieg in die Unterwelt zu nehmen, sondern konnte sich direkt, durch senkrechte Schächte, ohne Umwege und mit größtmöglicher Geschwindigkeit, nach unten begeben.
*
Klaus Berger und seine Frau benutzten immer einen solchen Weg direkt aus ihrem Haus in die unterirdischen Stadtbereiche. Er arbeitete etwa zehn Transportminuten entfernt in der dritten Tiefebene im Büro einer Versicherungsgesellschaft, seine Frau fünf Transportminuten weiter oberirdisch in der Verwaltung einer Behörde. Zwar war sie nicht ganz glücklich über diesen etwas rückständigen Arbeitsplatz, seitens ihrer Amtsleitung hatte man aber wenigstens schon durchgesetzt, dass das Behördenhaus, so wie viele andere Gebäude, teilweise an die unterirdischen Gebiete angeglichen wurde. Man hatte es zu diesem Zwecke mit einer dicken, massiven, grünlichen Verkleidungsmasse kuppelförmig überformt, so dass es vollständig vor jeder natürlichen Licht- und Luftzufuhr, die einen an primitive oberirdische Verhältnisse erinnern konnte, geschützt war und gleichsam wie eine Beule unter der Haut aus dem unterirdischen Bereich herausragte. Lediglich die Tatsache, dass sie viele Ebenen in vertikaler Richtung zu durchqueren hatte, ehe sie an ihrem Arbeitsplatz eintraf, erinnerte Frau Berger noch an alte, rückständige Verhältnisse. Aber auch dies hatte durch besondere Schnelltransportschächte weitestgehend ausgeglichen werden können. Man war sogar so weit gegangen, dass man in den kleinen Kabinen, welche in den zu den oberen Bereichen führenden Schnelltransportschächten auf- und abwärts rasten, auf die ansonsten übliche Kontrollanzeige verzichtete, mit der den Menschen während des ohnehin nur Sekunden dauernden Schnelltransports ihre jeweilige Position angezeigt wurde. Auf diese Weise fiel es kaum auf, dass man sich so weit nach „oben“ begab, und es war nicht so sehr als „außen“ zu empfinden, wo man sich abgeschieden, ungeschützt und hilflos vorkam.
In den meisten Wohngebäuden litt man in ähnlicher Weise. Viele waren zwar schon, wie das Haus, in dem Frau Berger arbeitete, durch Überformungsmasse geschützt, daher auch recht hoch in den Mietkosten; den Luxus hingegen, ganz unter der Erde zu wohnen, konnten sich bisher nur einige wenige Privilegierte leisten. Zwar gab es schon seit Jahren Pläne, allen Menschen in Bereichen unter der fünften und sechsten Tiefebene Wohnraum zu verschaffen, ihre Verwirklichung war aber bisher immer an den Kosten gescheitert.
Das Ehepaar Berger traf sich regelmäßig zur Mittagszeit, um gemeinsam das Essen einzunehmen. Treffpunkt war ein Restaurant in der vierten Tiefebene, etwa zwei Transportminuten von Herrn Berger und vier von seiner Frau entfernt. Diese Unterbrechung des Tages bedeutete ihnen sehr viel. Sie fanden hierbei etwas „zu sich selbst“, wie sie sagten. Dies ging auch vielen anderen Leuten so; denn die Restaurants vermittelten neben der Verköstigung gleichzeitig eine Atmosphäre von Geborgenheit und Freiheit, wie man sie weder am Arbeitsplatz noch zu Hause hatte.
Die Restaurants bestanden aus vielen Kabinen verschiedener Größen, die man allein, zu zweit oder, was seltener vorkam, in kleinen Gruppen aufsuchen konnte. Die weitaus größte Anzahl bildeten somit auch die Einzel- und Doppelkabinen. Hatte man sie betreten, so konnten sie von innen hermetisch verschlossen werden. Ihre Ausstattung bestand aus variablen Ruhemöbeln, Auflageflächen für die Speisen, einem Sanitärabteil sowie einem Bestell- und Unterhaltungsautomaten.
Es gab Restaurants unterschiedlicher Kategorie. Die teuersten befanden sich in den tieferen Ebenen und unterschieden sich von einfacheren im Wesentlichen dadurch, dass man sich in ihnen wirksamer von der Außenwelt abschirmen konnte. Je stärker, sicherer und raffinierter sie sich abriegeln ließen, umso geborgener und wohler fühlten sich die Menschen darin.
Herr und Frau Berger trafen sich auch heute in ihrem Stammrestaurant in der vierten Tiefebene. Es gehörte zwar keiner besonders hohen Preisklasse an, denn das konnten sie sich nicht alle Tage leisten, war aber doch sicher genug abzuschließen, dass man sich darin bis zu einem recht hohen Grade unbeobachtet und gesichert fühlen konnte.
Klaus Berger gab eine Menüwahl in die Tastatur des Bestellautomaten ein, versehen mit seinem persönlichen Code. Die Bergers aßen, danach entkleideten sie sich, legten sich auf die Ruhemöbel und entspannten. An manchen Tagen schliefen sie nach dem Essen in der Kabine miteinander, was viele Paare taten, denen die oberirdischen Wohnungen zu ungeschützt dafür erschienen. Heute aber gaben sich ganz einem gesättigten, wohligen, matten Müdigkeitsgefühl hin. Den Unterhaltungsautomaten, der über eine Geräuschautomatik verfügte, die von den verschiedensten Musikarten über Waldesrauschen, Meeresbrandung, Gewittertosen bis hin zu Menschenunterhaltung und Schmerzensschreien alles bot, was man sich vorstellen konnte, stellten sie auf "Stille". Nach einer Weile leichten Schlafes gingen sie in die kleine Sanitärkabine, erfrischten ihre Körper und zogen sich wieder an. Sie nahmen sich vor, am Abend ein Theater zu besuchen, eine Abwechslung, die eigentlich gar keine mehr war, da sie die meistverbreitete abendliche Beschäftigung für die Menschen in der Stadt darstellte.
Dennoch versprach dieser Abend außergewöhnlich zu werden. In einer neu erschlossenen Tiefebene, irgendwo am untersten Ende der allgemein bekannten Stadt, befanden sich neue Theater, die den Menschen höchste, neuartige Entspannung und Unterhaltung verschaffen sollten. So hieß es zumindest in den Nachrichtenprogrammen. Klaus Berger wollte versuchen, Zulassungsmarken für eines dieser Theater zu bekommen. Am Abend würde er dann mit seiner Frau gleich von der Arbeitsstelle in die neue Theaterebene fahren. Sie verabschiedeten sich voneinander.
Im Laufe des Nachmittages ging Klaus Berger zu einem Informationsautomaten. Er bediente einige Tasten, um die Theaternachrichten sichtbar zu machen. Auf den ersten Blick war nur das Übliche zu finden. Doch dann entdeckte er auf dem kleinen Bildschirm einen kurzen Hinweis, der einen bestimmten Code für „neue Theater“ bezeichnete. Er wählte die genannte Ziffernfolge und erhielt detailliertere Auskunft. Genannt wurden die Öffnungszeiten, die Einlassbedingungen und die Reservierungszentrale. Über das, was man dort sehen sollte, gab es entgegen der üblichen Gepflogenheit keine Auskunft. Die Sache versprach wirklich spannend zu werden. Klaus Berger wählte ein Theater in der elften Tiefebene, von dem er noch nie zuvor etwas gehört hatte. Nach Eingabe der Codes für sich und seine Frau erhielt er zwei Berechtigungsmarken für die Reservierungszentrale.
*
Am Abend traf er seine Frau. Sie war mit seiner Wahl zufrieden, und sie beschlossen, sich sofort in die fünfte Tiefebene zu begeben, wo die Reservierungszentrale für das „neue Theater“ sein sollte. Während des nur wenige Minuten dauernden Transports durch einen Senkrechtschacht in die fünfte Tiefebene und durch Tunnel innerhalb der Ebene selbst unterhielten sie sich über das bevorstehende Programm und rätselten, was dort zu sehen sein könnte. Seit langer Zeit wieder freuten sie sich so richtig auf etwas. Die üblichen Theater hatten sie schon lange satt.
In den normalen Theatern befand man sich, ähnlich wie in den Restaurants, in Kabinen, die fest verschließbar waren. Sie fassten einen oder zwei Zuschauer und in Ausnahmefällen kleine Gruppen. Es war jedoch fast verpönt, mit mehr als zwei Personen eine Kabine zu benutzen. Die Abgeschiedenheit und Sicherheit, nicht zuletzt um derentwillen man ja überhaupt ins Theater ging, hätte man ansonsten wieder aufgegeben.
Gezeigt wurde in den Theatern meist aktuelles Geschehen. Zweidimensional, selbstverständlich mit Ton, manchmal aber auch ohne, wenn es bessere Effekte versprach, erschien alles auf einem wandgroßen Farbbildschirm. Immer beliebter wurde es aber, das Geschehen dreidimensional, in die Mitte der Kabine, zu projizieren, wobei man herumgehen und es von allen Seiten betrachten konnte.
Real war das Theater. Mit dem, was in früheren Jahren darunter verstanden worden war, hatte es nichts mehr zu tun. Es wäre tödlich langweilig gewesen, irgendwelche „Stücke“ zu projizieren, von denen man genau wusste, dass sie nicht tatsächlich und zwar jetzt oder fast jetzt – kleine Zeitverschiebungen waren erlaubt, in erstklassigen Theatern aber nicht gern gesehen – geschahen. Die Menschen wollten Anteil haben an dem, was in der Welt, vor der Stadt, aber vor allem in der Stadt mit ihren vielen Tiefebenen gerade geschah. Hatte man im täglichen Leben durch die nahezu vollständige Automatisierung und persönliche Isolierung kaum eine Möglichkeit mehr zu irgendeiner Kontaktaufnahme untereinander, im Theater war man direkt bei dem, was zur Zeit vor sich ging, ohne die Risiken und Unannehmlichkeiten der persönlichen Begegnung und direkten Konfrontation. Es war also nicht verwunderlich, dass die Theaterbesucher meist menschliches Geschehen sehen und miterleben wollten. Zwar gab es auch Projizierungen von Tieren, Weltraumunternehmungen oder herausragenden technischen Ereignissen, aber wenn es sich hierbei nicht gerade um Sensationen oder gewaltige Katastrophen handelte, bestand kaum ein Interesse dafür.
Am beliebtesten war also das menschliche Theater. Zum Beispiel konnte man Einblick nehmen in Büros, wo einzelne Menschen in kleinen Arbeitskabinen saßen und ihrem Tagewerk nachgingen. Die Beschäftigten in den Büros wussten davon und bekamen dafür, dass sie während ihrer Arbeit im Theater zu sehen waren, einen Zuschlag auf ihr Gehalt. Man konnte aber auch Menschen in Transportmitteln beobachten, auf dem Weg durch die verschiedenen Ebenen. Von einer besonderen Regelzentrale wurden dabei automatisch Szenen projiziert, die irgendwie interessant erschienen; wenn zum Beispiel jemand im Transportsystem einen Herzanfall bekam, Leute in Streit gerieten oder sich im Gewirr der Tunnel und Schächte nicht zurechtfanden und verzweifelt umherirrten. Ein ganz besonderer Genuss wurde der Theaterbesuch, wenn es irgendwo zu einem Unfall oder gar zu einer Katastrophe kam. Solche Ereignisse wurden sofort in die Projektion gesteuert, und manchmal konnte man in allen Einzelheiten das Verbluten und Sterben von Menschen und die Arbeit der Hilfskräfte beobachten, während man in seiner Kabine, allein und wohlgeschützt, um die dreidimensionale Raumprojektion herumging.
Sehr gerne besucht, wenn auch sehr teuer, waren Theater, in denen das Verhalten von Menschen an Orten gezeigt wurde, an denen sie sich vollkommen abgeschirmt und unbeobachtet fühlten, zum Beispiel in ihren Wohnungen, in Restaurants und Toiletten. Wer öffentliche Toiletten aufsuchte, dem war klar, dass er dabei unter Umständen beobachtet werden konnte; erheiternd war es dennoch, jemandem zuzuschauen, der sich in einer Toilettenkabine befand, umhersuchend, wo möglicherweise eine Beobachtungsanlage installiert sein könnte. Diese aufzufinden war natürlich sehr schwierig; denn winzige Punkte irgendwo in der Kabine, kleiner als ein Stecknadelknopf, mit dem bloßen Auge kaum sichtbar, konnten Beobachtungsstellen sein. Sah dann der Theaterzuschauer, wie der Toilettenbesucher mit mitgebrachtem Klebeband eine Stelle abdeckte, die er „identifiziert“ zu haben glaubte, die aber nicht die richtige war, so erfuhr das Betrachten des sich unbeobachtet Glaubenden, den man inmitten seiner Theaterkabine hatte, die Steigerung zum wahrhaften Erlebnis.
Restaurantbesuchern ging es nicht viel anders. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dort beobachtet zu werden, umso geringer, je höher die Preisklasse gewählt wurde, aber ganz sicher konnte man nie sein. Deshalb wiesen Schilder an guten Restaurants ausdrücklich darauf hin, dass man hier „absolut unbeobachtet“ wäre. Man konnte auch nach dem Betreten und hermetischen Verschließen der Restaurantkabine noch zusätzliche Sicherungsvorrichtungen, Gleitwände, Folien und dergleichen anbringen und sich dann wirklich allein und unbeobachtet fühlen. Mancher brachte sich sogar seine eigenen Abdeckutensilien aus besonderem Material mit, von denen es hieß, sie würden alle Beobachtungsversuche vereiteln, und an die er glaubte.
In teuren Theatern wiederum wurde nun gerade versucht, in diese Räume Einblick zu bekommen, die als besonders sicher galten. Immer neuere und verfeinerte Methoden wurden gefunden, mit denen man auch bestgesicherte Plätze durchdringen konnte.
Gleiches galt für Wohnungen. Auch hier konnte man davon ausgehen, dass sie umso sicherer waren, je mehr sie kosteten. Dennoch gab es tagtäglich in den Theatern Menschen zu beobachten, wie sie in ihren Wohnungen aßen, tranken, sich an- und auszogen, sexuell verkehrten, zur Toilette gingen, schliefen – und manchmal redeten. Und nur in den teuersten, besten Theatern vermochte man in die teuersten, besten Wohnungen Einblick zu nehmen.
Kommentare zu diesem Text
Du stellst eine total verfremdete Welt mit Menschen vor, die aus Sensationsgier perversen Bedürfnissen folgen, ohne dass ihnen das bewusst wäre. Ich halte eine solche Entwicklung unter dem Diktat von Sensationslust für möglich.
Ja, Du hast recht - und es wird leider noch viel schlimmer werden in den nächsten drei Folgen.
Es tut mir leid, aber ich habe es einfach mal weiterentwickelt.
Es tut mir leid, aber ich habe es einfach mal weiterentwickelt.