Kunst wirkt

Betrachtung

von  C.A.Baer

Die Beziehung von Ursache und Wirkung nennt man Kausalität (lateinisch causa, „Ursache“). Nach diesem Denkschema hat jedes Ereignis eine oder mehrere Ursache(n). Es gibt also keine Wirkung (kein Ereignis) ohne Ursache (manchmal auch Bedingung genannt). Es gilt: erst die Ursache, dann die Wirkung. Dieses Gesetz scheint in Granit gemeißelt und besonders der wissenschaftlichen Betrachtungsweise immanent zu sein. Fast immer, will man meinen, sucht der Mensch nach Ursachen, weil er die Welt verstehen will.
Bezugnehmend auf das menschliche Seelenleben, wird nun versucht darzulegen, dass eine geänderte Wahrnehmung entstehen kann, wenn die oben genannte Kausalität eine Umkehr erfährt, indem man sagt: erst die Wirkung, dann die Ursache, man nicht nach Ursachen, sondern nach Wirkungen sucht. Diese Betrachtung soll außerdem zeigen, dass die genannte Umkehrung der künstlerischen Betrachtungsweise immanent ist und vielleicht ein vertieftes Verstehen der Welt ermöglicht.
Angenommen, ich wäre ein Mensch, der sich für die Malerei begeisterte und stünde vor einem Bild, das einen mächtigen Eindruck auf mich machte. Nehmen wir weiter an, das Bild, oder genauer die Wahrnehmung desselben, erzeugte in mir seelische Zustände von Bewunderung, Schönheit, Erhabenheit, kurz Sympathie. Ich würde mit diesen Eindrücken begeistert nach Hause gehen und eventuell in mir immer wieder dieses Bild vorstellen, es erinnern und erleben. Seelisch betrachtet kann man sagen, dass das Bild, beziehungsweise dessen Wahrnehmung und Erinnerung, eine Wirkung ausübt, die den genannten Gemütszustand hervorruft. Wir können also festhalten, dass ein Kunstwerk eine Wirkung auf den Betrachter ausüben und in ihm Gefühle entstehen lassen kann.
Nun könnte es passieren, dass ich über den Maler des Bildes etwas in Erfahrung brächte, dass sich meine Vorstellungen erweiterten. Angenommen, mir würde bekannt, dass er ein Blender, Dilettant, und Kopierer wäre und meinetwegen ein ganz und gar schlechter und unsympathischer Mensch. Die Gefühle der Erhabenheit und Sympathie mischten sich mit denen der Antipathie. Wenn ich nun wieder auf das Bild träfe, dann könnte es passieren, dass meine Wahrnehmung eine ganz andere wäre, dass das Bild beginnt, ganz anders auf mich zu wirken. Plötzlich würde ich vielleicht anfangen, im Bild Belege dafür zu finden, was ich über den Maler wüsste. Ich sähe, wie meinetwegen die Proportionen ganz falsch wären, dass eventuell die Farben viel zu aggressiv wirkten, würde feine Bleistiftstriche erkennen, die ich als Dilettantismus wertete und so weiter, alles Dinge, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Ich beginne anhand von Erkenntnissen, die mir zusätzlich gegeben wurden, das Bild in seiner Wirkung neu wahrzunehmen und würde vielleicht sogar meinen, dass ich als Betrachter getäuscht und geblendet worden bin. Im Innern bekräftigten sich jetzt vielleicht seelische Zustände der Ablehnung.
Das Bild ist zweifelsohne immer das gleiche geblieben, rief in mir aber unterschiedliche Empfindungen hervor, anfangs eine sympathische und später eine unsympathische. Warum? Zu der reinen Wahrnehmung mischten sich Erkenntnisse, die dazu führten, dass sich meine Sichtweise änderte. Man könnte auch sagen, ich wurde von der reinen Wahrnehmung abgelenkt. (Es hätte natürlich auch genauso gut sein können, dass sich aus einer intensiveren Wahrnehmung heraus die gleichen Erkenntnissen ergeben hätten. Beiden Erkenntnissen ist jedoch gemein, dass es sich bei ihnen um Gedanken und Vorstellungen handelt, die in die Bildbetrachtung einfließen) Wir gehen in der weiteren Betrachtung davon aus, dass es sich beim Denken und Vorstellen um etwas handelt, was der Wahrnehmung hinzugefügt wird.
Es ist nun ein Unterschied, wie ich zu einer gefühlsmäßigen Bewertung der Sache komme, die ich betrachte. Lasse ich nur die Wirkung eines Werkes zu, oder gestatte ich auch die Einmischung des Denkens und Vorstellens? In der Wahrnehmung von Kunst kann es oftmals viel interessanter sein, darauf zu achten, was wirksam ist, als gleich nach den Ursachen zu forschen, warum ein Werk so oder so wirkt. Ich schaue also darauf, wie ein Kunstwerk wirkt und halte die Frage zurück, was diese Wirkung hervor ruft. Ich halte also das Denken und Vorstellen zurück und versuche, indem ich mich auf die Wirkung konzentriere, die Wahrnehmung zu vertiefen. Ich nehme Wirkungen als gegeben hin und benutze erst später das Denken oder Vorstellen dazu, um zu beschreiben und zu charakterisieren. Ich unterlasse es, eine Kausalität herzustellen, also nach Ursachen zu forschen, denn die Wirkung hat nur für das Denken eine Ursache und steht nur für es vor der Wirkung. Wenn ich künstlerisch empfinde, steht die Wirkung vor der Ursache. Ein Bild wirkt, wie es ist, es ist einfach da. Die ganze Farbenpracht und die Formen desselben stehen vor mir und erzeugen in mir mehr oder weniger schöne Empfindungen. Und als Künstler werde ich immer versuchen, meine Wahrnehmung zu vertiefen, um Dinge zu erfahren, die der schnellen Betrachtung verborgen bleiben. Das Forschen nach Ursachen ist dagegen das Vorgehen der wissenschaftlichen Betrachtung. Wenn eine Betrachtung ausschließlich auf Ursachen fixiert ist, kann sie sogar die Wahrnehmung ganz oder teilweise aus dem Auge verlieren.
Die künstlerische Betrachtung wird immer versuchen, das Kunstwerk selbst sprechen zu lassen, wenn sie einem Werk gerecht werden will. Es stehen die Wirkungen desselben an erster Stelle. Diese Wirkungen werden im Betrachter selbst erfahren. Je tiefer diese Wirkungen erfahren werden, desto deutlicher erschließt sich der Sinn eines Kunstwerkes. Damit wird etwas im Innern erfahren, was zunächst verborgen erscheint und dessen Ursachen nur eine kunstwissenschaftliche Betrachtung oder Kritik zu interessieren hat. Genauer gesagt, stellt sich der Vorgang sogar so dar, dass der Betrachter die Wirkungen des Kunstwerkes in der eigenen Seele betrachtet. Dieses könnte der Anfang zu einer neuen wissenschaftlichen Betrachtungsweise sein, einer Wissenschaft des Forschens nach Wirkungen. Der Verfasser dieses Textes meint, in der Naturanschauung Goethes, insbesondere in dessen Farbenlehre und dessen Ausführungen zur sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe, eine solche Betrachtungsweise zu erkennen.


Anmerkung von C.A.Baer:

Der Absatz, der sich auf das soziale Leben bezog, wurde gestrichen, da das Thema als zu komplex und eine kurze Erwähnung in diesem Zusammenhang als zusätzlich verwirrend erschien.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (10.11.19)
Guter Einstieg, wenn auch etwas holperig für die meisten Leser (viele werden es eh nicht)
Kennst du die vier Causae von Aristoteles?

causa materialis - Stoffursache - materielle Erscheinung
causa efficiens - Wirkursache - Leben
causa formalis - Formursache - Geist
causa finalis - finale Ursache - Mystik

Wolfgang Döbereiner ("Münchner Rhythmenlehre") hat sie weiter entwickelt.
Sehr zu empfehlen!
(Meine Wenigkeit hat auch das eine oder andere darüber hier bei kV verzapft.)

Gruß
Lothar

 C.A.Baer meinte dazu am 10.11.19:
Vielen Dank für deine Meinung, Lothar. Ja, der Text ist holprig, oder sagen wir besser wackelig, das sehe ich genauso, und deshalb freuen mich besonders deine Anregungen. Die vier causae sind mir oberflächlich bekannt; vielleicht wäre eine intensive Beschäftigung mit ihnen hilfreich, weitere Klarheit zu erlangen. Werde mir gerne auch die Texte deiner "Wenigkeit" in nächster Zeit vornehmen.
Mein Ansatz ist es, die Dinge auch mal anders herum zu denken. Und so ein Kopfstand ist manchmal wackelig. ;)

Gruß
Chris
una (56)
(10.11.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 C.A.Baer antwortete darauf am 10.11.19:
Guten Abend una,
vielen Dank für ihre Rückmeldung. Obwohl wenige Worte mich gleichfalls beeindrucken können, will es mir bei manchen Themen nicht gelingen.
Vielleicht liegt es daran, dass ich die subjektive Betrachtung ohne sofortige Wertung für die objektivere halte. ;)
Gruß
Chris
una (56)
(11.11.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 C.A.Baer schrieb daraufhin am 17.11.19:
Hallo Una, warum schade?
In einer Schule sollten meiner Meinung nach nur diejenigen einen Lehrplan erstellen, die einen (subjektiven) Wahrnehmungseindruck von ihren Schülern haben, die also Unterrichtende sind. Es ist schade, dass das heutzutage anders gehandhabt wird, dass es Behörden gibt, die solches tun. Die Lehrer müssten auch darüber entscheiden, welchen Wortumfang solch ein Lehrplan hätte.
Viele Grüße
Chris
una (56) äußerte darauf am 17.11.19:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 C.A.Baer ergänzte dazu am 17.11.19:
Ja, Una, vielleicht Mehrarbeit, aber wirklich sinnvoll und ökonomisch eingesetzt. Es gibt, soweit ich höre, keinen größeren Stress für Lehrer, als einen Lehrplan der Behörde zu erfüllen.
una (56) meinte dazu am 17.11.19:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 C.A.Baer meinte dazu am 17.11.19:
Wenn sie Beamte sind, gewiss nicht durch Arbeitsniederlegung. Die Lehrpläne sind auch nicht alle schlecht, nur eben nicht vor Ort im pädagogischen Alltag entstanden. Was vor einem halben Jahr allgemein richtig war, kann sich vor Ort als falsch erweisen. Bleibt dann nur noch das Engagement und die Mehrarbeit, um das Richtige zu tun :)
Wer mehr Freiheiten möchte, gründet eine private Schule oder Hochschule.

Antwort geändert am 17.11.2019 um 14:37 Uhr

 Regina (15.05.20)
Das Ursache-Wirkung-Prinzip kann sich m.E. umkehren. LG Gina

 C.A.Baer meinte dazu am 16.05.20:
Danke Gina,
das war anfangs auch der Gedanke, aus dem der Text entstanden ist. Bin dann bei der Kunst gelandet. Hast Du noch ein anderes Beispiel für eine Umkehr?
Liebe Grüße, Chris
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram