Atmen wir schon oder schnaufen wir noch?

Essay zum Thema Individualismus

von  fritz

Zunehmend wird es Thema in Gesprächen, öffentlich und privat, dass die sozialen Bande nicht mehr fest sind und stabil. Auch in die Beziehungen, die auf ein gewisses Vertrauen setzen können, schleicht sich meiner Wahrnehmung nach schneller als noch vor ein paar Jahren ein gewisser irritierender Unterton ein – bzw. ist er wahrscheinlich stets latent vorhanden. Die Beziehungen sind ja latent immer mehr und anderes als das, was sich in den einzelnen Situationen, in denen sie wirklich sind, aktualisiert. Wie ein riesiger Drachen, schwer atmend, liegt das explosive Potenzial des Sozialen ruhig da und schläft; und dass wir über seinen Rücken wandern, vermag ihn kaum zu wecken. Schon eher, dass wir stehen bleiben, hin und her gehen, ohne Kontinuität uns bewegen, den Weg suchend, verunsichert, mal mit den Füßen stark auftreten vor Wut, mal uns hinterherrennen, aus Angst, wir würden uns verlieren – all dies lässt ihn unruhig werden und lockert seinen Schlaf. Ist er aber einmal wach, so bricht er aus und alles entlädt sich, was so lange darniederlag.
Es sind immer noch Augenpaare, in die wir blicken, und es werden immer Augenpaare sein. Und es werden immer Augenpaare sein, die blicken, denn nichts sieht außer Augen. Auch wird es stets eine gewisse Natürlichkeit haben, dass sich gerade in den intimsten Momenten Blicke nicht treffen. Aber wie, bei alledem, stiften die Blitze der Blicke wieder elektrisierende Bahnen, auf denen verlässlich Menschen gemeinsam ihre Lebenswege beschreiten, sodass diese gar in ihrer Mitte einen gemeinsamen bilden. Wann springen die Funken über, dass die Ränder der Personen ein Drittes zwischen sich entstehen lassen, an dem beide Anteil haben und das sie bei allem Eigensein doch stets, mal mehr mal weniger, aber doch gewiss im Blick behalten. Sehen wir doch hin, und nicht nur auf die offensichtlichsten Symptome einer tiefgehenden sozial-kulturellen Verunsicherung, die kaum eine Gruppe von Menschen auslässt und die bei vielen Gruppen überkompensierende Verbindungs- und Abschließungseffekte ausgelöst hat. Die Populisten sind doch, es sagt schon der Name, die Populisten einer Bevölkerung; und diese Bevölkerung ist in Aufruhr, wandelt mehr torkelnd als sicher auf dem Rücken eines Drachen.
Nicht auszumalen, wie viele kleinste bis größere Enttäuschungen an einem Tag erlebt werden. Wie viele Erwartungen verpuffen noch eh sie wirklich stark werden durften. Wie viel trüber Geist schwebt über den Köpfen wie abgestandene Luft. Fast will es mir manchmal erscheinen, als kreisten wir alle, ein jeder nur um die eigene Achse. Es ist doch bemerkenswert, wie leicht es den meisten von uns fällt, sich einer Technologie zu übergeben, dagegen im menschlichen Nahkontakt so schnell alles schon so sehr zu viel ist. Haben wir Menschen untereinander die Fähigkeit verloren, uns gegenseitig ein Boden unter den Füßen zu sein? Uns in der Welt heimisch und mit ihr verbunden zu fühlen? Das World Wide Web hat es da einfacher; und doch zeigt das nur, wie tief unser Anspruch gesunken ist. Es genügt uns, wie ein Rauschen zu existieren. Wir sind so weit, dass es uns reicht, im Hintergrund zu sein und auf dessen Fläche im Mittelpunkt so wie jeder andere auch. In der Unendlichkeit gibt es nur Mittelpunkte (und damit keine mehr), dagegen der Nahbereich des Zwischenmenschlichen eine Peripherie hat bzw. erzeugt. Verständlich, dass man als Mensch die Peripherie flieht, aber bringt man sich so auch um den Reiz und Gewinn gemeinsamer Mitte, die im Einbezug eines gegenüberhaften Augenpaares etwas wie eine Umfassenheit erzeugt, in deren geteiltem Erlebnis die Kategorien Mitte und Peripherie aufgehoben sind. In der wahrhaften Begegnung ist der Tod, seiner eingedenk, bewältigt in der Atmosphäre einer Einzeitlichkeit, dagegen online der Tod schlichter aus dem Blickfeld geschoben ist: im unendlichen Raum ist auch die Zeit unendlich; das Internet kennt den Tod gar nicht.
Mindestens seit ich achtzehn Jahre alt bin, denke ich über die Frage nach den Kommunikationsformen und Weisen des menschlichen Zusammenlebens in unseren modernen Gesellschaften intensiv nach und beobachte, was geschieht und sich verändert. Meine Intuition, dass wir uns im Zwischenmenschlichen um eigene Möglichkeiten bringen, hat nie ganz nachgelassen, obwohl ich die Distanzierungsphänomene inzwischen viel besser verstehen, erklären und partiell auch akzeptieren kann. (Es bleibt einem, pragmatisch betrachtet, das heißt im unmittelbaren Lebensvollzug, zunächst ja gar nichts anderes übrig.) Und doch – die Anthropologie als Reflexion der Moderne ruht auf deren Voraussetzungen; wenn diese nun in Kritik stehen, so mit ihr auch die Anthropologie selbst. Wir wollen, können und dürfen nicht zurückfallen in ein Zeitalter der blinden Verbundenheit (die immer auch Ausschluss bedeutete), darum kann und soll es nicht gehen. Und doch – es muss doch möglich sein, auch unter diesen (dem Anspruch nach) anspruchsvollen Voraussetzungen modernster Lebensweise dem Atomismus der Individuen und dem Essentialismus neuer Kollektive etwas entgegenzusetzen.
Wir sollten bei allem so wichtigen Einsatz für den Planeten nicht vergessen, dass wir ihn bewohnen. Wir sollten vielleicht sogar die Überlegung zulassen, ob nicht vielleicht der Sturz auf die Natur Ausdruck einer Suche nach Gegenüberhaftigkeit ist, die wir uns selbst gegenseitig, zwischenmenschlich nicht mehr zu geben vermögen. Wir sollten diese Überlegung zulassen, im Engagement, sie praktisch zu widerlegen! Die Gattung Mensch, wenn ich so reden darf, hat ein Recht auf Selbstbezüglichkeit (und darauf, es zu explizieren, wenn sie sich schon ohnehin latent stets darauf bezieht, noch es problematisierend). Ich polemisiere: Das postmoderne Individuum rettet sich in die Haustierbeziehung, weil es hier nicht in Frage steht, ja gar nicht in Frage stehen kann, weil es hier bedingungslose Liebe erfährt, die es doch kaum einschränkt. Es macht sich Natur hier ebenso unterwürfig wie es in all den Formen geschieht, die es kritisiert. Es steht eben, um noch verzerrender zu sprechen, zufällig auf der Seite, die weniger problematisch erscheint. Selbst maßregeln zu wollen, was seine Komfortzone sei und wie und wann es sie unter welchen Umständen verlässt, dies ist dem postmodernen Individuum selbst zur neuen Komfortzone geworden. (Das weiß es auch und bricht es ironisch. Ironie aber, wie Humor auch, neigt wie ein Gewürz dazu, ab einem gewissen Maß stärker ins Unglück zu treiben als es zu vermeiden, nur zu einem – und das macht sie doppelt gefährlich – Unglück, das sich seiner selbst nicht mehr, oder nur noch ironisch, vergewissert.) Es ist Ausdruck seiner Größe, seines Anspruchs wie aber auch seiner Fragilität, dass es sogar über das Vorhaben, die eigene Komfortzone zu verlassen, selbst verfügen möchte. Es begeht dabei einen Kategorienfehler, wenn ich so sagen darf. Denn gerade die eigene Komfortzone ist doch das, was man meinetwegen selbst gut kennen mag, aber doch kaum eigenständig zu verlassen vermag. Man nimmt sie gleichsam immer mit wie die Schnecke ihr Haus. Es mag einzelne Situationen geben, in denen wir bewusst eigene Grenzen überschreiten; aber in der Regel bleibt es ein außer uns bestehendes und uns forderndes Gegenüber, das uns die eigenen Grenzen, sie überschreitend, zeigt so wie sie dann selbst überschreiten (oder auch nicht überschreiten) macht. Es ist das traurigste Selbstmissverständnis des postmodernen Individuums, selbst noch bestimmen zu wollen, wann es nicht Individuum ist. Und ich vermute, den meisten wird dies auch bewusst bzw. fühlbar. Die Suche nach Verbundenheit ist ja eklatant – aber stets vermengt mit diesem starken Autonomiewunsch.
Ich habe wirklich keine Ahnung, ob und wo da eine Mitte, ein Mittelweg ist. Was muss geschehen, damit wir uns wieder näher kommen, wieder wahrscheinlicher beieinander bleiben und doch die errungenen Selbstbehauptungsansprüche und Individualitätslevels aufrecht erhalten können? Ist beides überhaupt gemeinsam möglich? Ich muss hier mit einer Frage schließen, nein öffnen: Was soll geschehen?


Anmerkung von fritz:

Ein Entwurf über Dinge, die mich gerade gedanklich und lebendig beschäftigen. Mich interessieren sehr Eure/Ihre Eindrücke, Kritik, Anregungen (zum Beispiel hadere ich noch mit dem Titel).

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (08.11.21)
Titel: Ja, das mit IKEA ist abgenudelt und ausgelutscht.
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