Ich kenne die alten Säle

Innerer Monolog zum Thema Erinnerung

von  Thomas-Wiefelhaus

Ich kenne noch die alten Säle
[© Text von Thomas Wiefelhaus]

Die alten großen Schlafsäle sind unschuldig. Sie können nicht dafür. Ich jedenfalls spreche sie frei!
Auf den alten Fotos ist in Schwarzweiß zu sehen, was ich in Farbe kenne. Obwohl man für die alten Schlafsäle kaum einen Farbfilm brauchte. Viele finden sie hässlich, – na gut, meinetwegen! –,  und manche Patienten, die sie kennenlernten, bezeichnen sie generell als sehr langweilig. Ich aber nicht.

Für mich haben die alten Schlafsaal-Fotos ein wenig Nostalgie. Als ob jemand sagt: Guck mal da, ein Schwarz-Weiß-Foto vom einem alten Auto, so wie es in meiner Kindheit noch auf jeder Straße fuhr.

Ich habe erlebt, dass ein Junge sich in einem belebten Männer-Schlafsaal sehr, sehr einsam fühlen kann, vernachlässigt, ein Patientenobjekt, – von der Welt vergessen! Kaum jemand redet mit dir., (Der jüngste Patient, den man nicht ernst nimmt!)

Ich habe auch erlebt, wie es ist, im Schlafsaal im Mittelpunkt zu stehen. Jeder, oder fast jeder, kennt deinen Namen. Du findest, bei Tag und Nacht, immer jemanden, der mit dir redet. – Ich war minderjährig und suchte mir, unter den Patienten, von Woche zu Woche einen neuen „Ersatz-Vater“. –
Die Mitarbeiter verstehen dich, oder aber sie verstehen dich so sehr, als lebten sie auf einem anderen Planeten. Aber immerhin: Sie reden mit dir.
Ich habe erlebt, dass ein solcher Männerschlafsaal eine nahezu „Frauen-freie Zone“ darstellte. – Und auch erlebt, dass, wenig später, durch eben diesen Schlafsaal Frauen liefen und eine Frau die Nachtwache hatte.

Im Bethel-Archiv wollte ich mir einmal Fotos von meinem alten Schlafsaal ansehen und fand sie nicht. Eine Mitarbeiterin sagte mir: Im Haus Soundso habe es wohl nie einen Schlafsaal gegeben. Das sei ein Haus für „gut Betuchte“ gewesen! Doch ich weiß: im diesem Haus waren mindesten drei Schlafsäle! In einen habe ich nur Blicke hinein geworfen, durch einen zweiten bin ich oft gegangen und im dritten habe ich gewohnt … und jeder Schlafsaal war äußerlich ähnlich, aber im Inneren völlig anders … drei verschiedene Welten.
(Wer nur den einen gesehen hat, kann sich den anderen nicht wirklich vorstellen!)

Also zeigt mir her die alten Fotos, – ich möchte sie gerne sehen!


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Dieser Text steht nicht im Buch "Betheljugend". Er ist keine eigentliche Leseprobe. Er beschreibt meine Gedanken, wenn ich alte Fotos sehe, von einem Ort, wo ich einen Teil meiner Jugend verbrachte. Im einem 1911 erbauten Männerschlafsaal. Denn es heute (ca. seit Ende der 70iger Jahre) nicht mehr gibt.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (30.12.20)
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