Das Ende eines Weihnachtsmärchens (Heiligabend 1973)

Erzählung zum Thema Andere Welten

von  Thomas-Wiefelhaus

Das Ende eines Weihnachtsmärchens (© Thomas Wiefelhaus)

Die Weihnachtsfeierlichkeiten begannen am späten Nachmittag mit einem munteren Ratespiel, – für das aber nur Tomas Spaß und Interesse zeigte. Er bekam einen kleinen Zettel auf die Stirn gepappt. Auf dem Zettel stand der Name einer berühmten Persönlichkeit; bekannt zu Anfang der siebziger Jahre.
Nun sollte Tomas Fragen stellen und erraten, welche Persönlichkeit er just vertrat. Dies tat er auch sehr erfolgreich: In rascher Folge enträtselte er gleich mehrere Personen hintereinander, weil sich, außer dem kraushaarigen Kriegsdienstverweigerer Adam, der die Aufgabe übernommen hatte, die Fragen zu beantworteten, sonst niemand am Spiel beteiligten wollte.
„Ein Mann?“
„Ja!“
„In Deutschland?“
„Nein!“
„Mensch, wo denn dann? Vielleicht in China?“
„Ja!“
„Also ist es Mao!“
Adam nickte: „Du sagst es!” – So ging es in einem fort.

Dann endlich Heiligabend! – In Bethlehem. In Bethel. Und auch auf Tomas’ Station. Der Aufenthaltsraum war festlich geschmückt. Zur Feier waren auch Gäste aus anderen Häusern geladen worden. Körperlich Behinderte und Psychiatrie-Patienten saßen miteinander an einem langen Tisch, der sehr weihnachtlich gedeckt war. Bunte Geschenkpakete wurden verteilt.
Auch Tomas bekam ein kleines Paket. Er hatte sich für einen kleinen Betrag für 10 Mark etwas wünschen dürfen. Eine junge Frau mit fülliger Oberweite und einer, trotz der Jahreszeit, sehr durchsichtigen schwarzen Bluse war eine Woche zuvor an sein Bett gekommen (Mittlerweile arbeiteten auch Frauen im Männerschlafsaal!), sie hatte für ihn einen kleinen Wunschzettel ausgefüllt. „... bis etwa 10 Mark!“ hatte sie gesagt. Da hatte er sich eine billige Uhr für den Nachttisch, „... wenn das für das Geld möglich ist?“ und Schokolade gewünscht. Jetzt riss Tomas das Papier auf. Tatsächlich: ein kleiner, grasgrüner Wecker! Ob die hellgrünen Ziffern nachts leuchten, damit man sie auch im dunklen Schlafsaal lesen konnte? (Das er seinen neuen Wecker im großen Schlafsaal natürlich nicht nachts klingeln lassen durfte, versteht sich von alleine!) – Zudem war er ganz überrascht, wie viele Schleckersachen er für das restliche Geld bekam!
Nach dieser freudigen Bescherung und dem festlichen Abendessen las Paul Milgram ein Weihnachtsmärchen vor. Er las mit tiefer, gefühlvoller Stimme, – wie ein richtiger Märchenonkel!
Tomas hörte aufmerksam zu. Zu aufmerksam, um ein Vorgefühl zu haben, dass wieder mal die Zeit der „Extras“ nahte: Ganz allmählich kontrahierte sein rechter Bizeps, er wurde immer fester, verkrampfte sich in höchster Anspannung zwei, drei Sekunden lang. Dann löste sich die Spannung ganz plötzlich, der Arm schnellte unwillkürlich wieder nach vorne. Den Arm still zu halten, ihn willentlich gestreckt oder gebeugt zu lassen, wäre völlig utopisch.
Während Tomas andächtig dem Weihnachtsmärchen und Paul Milgrams rauchiger Stimme lauscht, beobachtet er gleichzeitig auch seinen Arm, wie sich dieser, ohne sein geringstes Zutun, im Turnus von fünf bis zehn Sekunden immer wieder streckt und beugt, streckt und beugt, streckt und beugt.
Die Nebenwirkungen der Psychopharmaka erschrecken ihn nicht mehr im gleichen Maße wie früher, als er noch nicht gewusst hatte, was mit ihm geschah. Dass sich allerdings außer seinem Kopf, auch sein Arm einfach so bewegen kann, ganz ohne eigenes Wollen, das ist ihm neu.
Aber es schmerzt nicht allzu sehr, es ist eher lustig – man kommt sich auch so merkwürdig ferngesteuert vor.
Da diese Nebenwirkungen in einer Schaltzentrale zwischen Gehirn und Wirbelsäule entstehen, ist das Gehirn selbst ja gar nicht beteiligt. Die Bewegungen kommen weder aus dem Bewusstsein, noch aus dem Unterbewusstsein: Nein, sie kommen gleich aus dem Unbewussten! Und für Tomas fühlt es sich an, als ob eine fremde Macht seinen Arm steuern würde.
Jetzt wechseln die Krämpfe der extrapyramidalen Nebenwirkungen plötzlich in den Hals: Es schmerzt! Im selben Moment haben die Armbewegungen aufgehört.
Tomas bleibt noch mit schiefem Kopf am Tisch sitzen. Er möchte die spannende Weihnachtsgeschichte gerne zu Ende hören, und nimmt den Kopf fest zwischen die Hände, um ihn abzustützen.

Ein Klick! Ein Blitz! Ein Foto wird geschossen:
Patienten aus verschiedenen Häusern vereint an einer langen feierlichen Tafel. Hier sitzen zwei fallsüchtige Patienten mit Sturzhauben. Dort sitzt Tomas, der krampfhaft bemüht ist, seinen Kopf festzuhalten. Und neben Tomas wiegt sich ein ihm fremder Rollstuhlfahrer unruhig hin und her.
Wäre diese Aufnahme nicht wie gemacht, für unsere guten Zeitschriften: „Der Ring“, oder „Bote von Bethel“?

*
Noch am selben Tag, gleich nach dem Mittagessen, hatte Tomas eine Spritze bekommen. Er wusste schon: Es war heute wieder so weit, die Woche war ist um, irgendwann im Laufe des Tages wird er eine Spritze bekommen … so, wie jede Woche ... selbst am Heiligen Abend!
Und richtig! Ein halbes Dutzend Pfleger hatten sich an einer Stelle im Saal versammelt. Sie schauten herüber, in seine Ecke, und musterten den Patienten, der nicht „vernünftig“ sein wollte. Dann waren sie näher gekommen, und hatten kichernd sein Bett umstellt. Die Meute warf sich auf ihn, sie warfen ihn auf den Bauch und hielten ihn fest. Hose und Schlüpfer wurden ihm heruntergezogen, vor den den Augen der anderen Patienten …
Und Paul Milgram hatte, höchstpersönlich und eigenhändig, ihm eine Imap-Spritze ins Hinterteil gestochen. Ein zusätzliches Weihnachtsgeschenk.

Pardon? – Hatte es da nicht eben gerade „Klick!“ gemacht? Hatte es da eben nicht gerade „Klick!“ gemacht?
Ach nein, wohl doch nicht?! Hat hier denn niemand auf den Auslöser gedrückt?
Sicher ist das auch besser so! Es wäre wohl auch kein geeignetes Bildnis für unsere schönen Zeitschriften gewesen!

Und dieselben kräftigen Hände, die vor wenige Stunden gewaltsam-brutal eine höchst überflüssige „lebensnotwendige“ Spritze in Tomas Hintern gepiekst hatten, hielten nun ein großes Buch mit Weihnachtsmärchen auf den Knien. Und darüber las ein Mund mit einer nicht unsympathisch klingenden Brummbär-Märchenonkel-Stimme. – Im Aufenthaltsraum, wo Tomas nicht mehr sein konnte, denn er hatte die Weihnachtsgeschichte doch nicht bis zu Ende hören können. Er wollte sich, mit seinen Nebenwirkungen, letztlich nicht vor der versammelten Weihnachtsfeier auf dem Fußboden wälzen müssen, und war vom festlichen Raum in den großen, nun menschenleeren, Schlafsaal geflüchtet.
Dieses Mal war es besonders schlimm, die längsten und stärksten Extrapyramidalen Störungen, die Tomas jemals hatte. Anderthalb bis zwei Stunden wälzte er sich hin und her. Sogar die Beine fingen an zu zucken und eine Wade verkrampfte sich völlig.
Aus dem festlichen Aufenthaltsraum drangen indes, durch Tür und Wände,  altbekannte Weihnachtsmelodien. Oh, du Fröhliche! Stille Nacht, Heilige Nacht! Jemand spielte auf der Heimorgel, die Patienten und Pfleger sangen dazu.
Zum ersten Mal war Tomas ganz alleine in der beengenden Weite des Schlafsaals. Zuerst hatte er sich auf sein Bett geflüchtet, dann wechselte er, wie üblich, auf den Fußboden, denn dort konnte er seinen Kopf ja noch besser abstützen.
Erst später kam kurz ein Pfleger zu ihm. „Kann durchaus sein, dass ihre „Extras“ heute stärker sind, als sonst“, sagte er, „wegen ihrer Aufregung um Weihnachten!“
Und nachher, als die Krämpfe endlich nachließen, ging auch die Weihnachtsfeier gerade zu Ende.


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Ich habe den Text hier unter Leseproben für mein Buch "Betheljugend" eingeordnet. Der Titel kommt aber erst in der Fortsetzung vor.

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