Rezension zu Mel Gibsons Film Apocalypto - Eine Spiritualität der Grausamkeit
Rezension zum Thema Andere Kulturen
von Hamlet
Wenigstens für Menschen, die sich nach mehr Vitalität sehnen, als ihnen zur Verfügung steht, ist dieser Film ein mitreißendes, rauschhaftes Gedicht. Es geht um einen Indianerstamm, der von einem noch mächtigeren ausgelöscht wird, wobei die Frauen als Sklaven verkauft und die Männer, welche nicht schon im Kampf getötet worden sind, für die Götter geopfert werden, bis auf den Helden des Films (Pranke des Jaguars), welcher es letztlich schafft, auf der Flucht zurück in seinen Waldabschnitt seine Verfolger zu töten, insofern sie nicht schon selber am Dschungel gescheitert sind.
Obwohl die historischen Tatsachen im Einzelnen nicht falsch sind, scheint mir die dichte Verkettung vieler grausamer Höhepunkte unwahrscheinlich, wenngleich nicht unmöglich zu sein. Mel Gibson zeigt also im Rahmen der menschlichen und historischen Möglichkeit, wie die Vitalität in jeder Todesgefahr und überhaupt im naturverbundenen magisch-mythischen Lebenswandel glaubhaft gesteigert wird. Neben Kampfhandlungen beeindrucken hier auch Gebete, Rituale, Vater-Sohn-Transmissionen sowie die anmutige Tapferkeit der Frau des Helden. Der Film fasziniert durch eine Todes-Erotik, wobei er das heroische Lebensgefühl einiger Vitalisten verständlich macht, freilich nur aus deren Vitalität heraus, in welche der Zuschauer eingeführt wird. Fast alle Handlungen wären nur grauenhaft, wenn sie nicht in einer magisch-mythischen Kultur eingebettet sein würden, aus der die faszinierende Ausstrahlung dieser Kämpfer zu erklären ist.
Nun analysiere ich einige Szenen, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Gleich nach der ersten Jagdszene wird ein zeitloses gruppendynamisches Verhalten gezeigt. Als der Sohn des Anführers (Pranke des Jaguars) ausgewählte Stücke des geschlachteten Wildschweins verteilt, wird ein Stammesbruder, nicht ohne Humor, etwas gemobbt, indem er abermals die Hoden des Tieres fressen solle, damit er endlich seiner Frau ein Kind zeugen könne, was ihm noch nicht gelungen sei. Zurück im Dorf beschimpft auch seine Mutter den scheinbar Impotenten, während ihn die anderen auslachen.
Diese Szenen verdeutlichen, dass in einem Naturvolk neben der Tapferkeit nur noch die sexuelle Potenz den Wert eines Mannes bestimmt. Obwohl diese beiden Werte auch heutzutage gelten, kann deren Ermangelung in einer modernen Gesellschaft viel leichter versteckt oder durch Sublimierung umgangen werden, als es in einem Indianerdorf möglich war. Diese Szenen entblößen also den Großstadtneurotiker, indem sie suggerieren, dass er nur noch in einer künstlichen Welt eine Funktion und damit einen Wert habe, während er sonst dem Mobbing völlig ausgeliefert wäre und keinen Wert mehr als Mann besäße, wenn er weder tapfer noch potent wäre. Hier drängt sich ein Vergleich zweier Perspektiven auf, ob der Wert eines Mannes an seiner kämpferischen Tapferkeit und seiner sexuellen Potenz oder ob er in seinen intellektuellen Leistungen liegt. Diese Frage lässt sich erörtern, wobei mir klar wird, dass heutzutage keine Einseitigkeit befriedigen könnte, dass also unser Ideal wohl sein müsste, beide Seiten zu maximieren: Tapferkeit und sexuelle Potenz sowie eine intellektuelle Begabung, aus welcher zur Hochkultur beigetragen werden kann.
Ein weiterer Höhepunkt ist die Szene, wo Pranke des Jaguars von den Räubern getötet wird. Der Sohn muss zusehen, wie seinem Vater die Kehle aufgeschnitten wird. Für mich ist das eine Schlüsselszene zur Entwicklung des Helden, insofern der sterbende Vater Ruhe bewahrend keine Angst zeigt und seinem Sohn etwa sagt: “Habe keine Angst, mein Sohn.” Dabei bekommt der Sohn zu sehen, dass sein Vater seinen magisch-mythischen Sinnhorizont so sehr verinnerlicht hat, dass er im Höllengrauen noch Ruhe und Frieden ausstrahlt. Mel Gibson verstärkt den spirituellen Eindruck, indem er den verblutenden Vater langsam auf die Kniee sinken lässt, wonach die Kamera in die von Wind und Sonnenlicht durchflutete Baumkrone schwenkt, wobei aus dem zunächst klaren Bild der Baumkrone ein surreales, aber schönes Bild entsteht als Sinnbild für die durch das Sterben bedingte Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinsverlöschung. Hier geschieht eine Transmission vom Vater zum Sohn, wonach der Sohn in allen folgenden Handlungen nicht mehr hysterisch erscheint, sondern durch einen offenen, ruhigen Blick gekennzeichnet ist, welcher eine beeindruckende Erhabenheit verrät.
Eine weitere magische Szene folgt, als ein von der Pest gekennzeichnetes etwa siebenjähriges Mädchen den vorbeiziehenden erbarmungslosen Räubern die Geschichte des ganzen Filmes in Form eines kryptischen Mythos’ prophezeit, wobei selbst den Anführern bange wird, sodass sie schnell weiterziehen. Einmal ist ihnen bange, weil sie die Pest fliehen, andererseits ist es die Furchtlosigkeit des Mädchens, welches schon im Sterbeprozess seiend so begeistern spricht, dass es scheint, als ob sie diese Weisheit wirklich von einem Gott habe. Sie strahlt dabei vollkommene Erhabenheit, bedrohliche Ruhe und Gewissheit aus, dass es schwer wird, ihr nicht zu glauben, als sie in ihrer eingeborenen Sprache plötzlich ganz ruhig und konzentriert werdend prophezeit:
Ihr habt Angst vor mir. Das solltet ihr auch. Ihr alle seid abscheulich. Wollt ihr wissen, wie ihr sterben werdet? Die heilige Zeit ist nah. Hütet euch vor der Dunkelheit des Tages. Hütet euch vor dem Mann, der den Jaguar bringt. Erkennt den aus Schlamm und Erde Wiedergeborenen, denn er bringt euch zu dem, der den Himmel und die Erde auslöschen wird, der euch auslöscht und eure Welt beendet. [Schreiend flüstert das Mädchen dann:] Er ist jetzt bei uns. [Schließlich ruft sie mit erhobenen Armen den beängstigt Weiterziehenden zu:] Tag wird wie Nacht sein. Und der Jaguar-Mann wird euch in euer Ende führen!
Im weiteren Verlauf geht diese Prophezeiung in Erfüllung, was den Film dramatisch macht, insofern die Jäger mit aller Kraft versuchen, diesen Fluch zu vermeiden. Unser junger Held wird mit dem Jaguar kommen, insofern er im Dschungel eine kurze Strecke lang von dieser schwarzen Raubkatze verfolgt wird. Außerdem wird er zum “aus Schlamm und Erde Wiedergeborenen”, insofern er beinahe im Moor versunken wäre und nur knapp rausgekommen voll von dunklem Schlamm ist. Viertens erfüllt sich das scheinbar Unmögliche “Tag wird wie Nacht sein”, insofern eine Sonnenfinsternis auftritt. Schließlich endet die Hetzjagd, als Pranke des Jaguars völlig erschöpft am Meeresufer anlangt. Dort führt unser Held seine Verfolger an ihr Ende, insofern dort die Spanier mit riesigen Schiffen, Schusswaffen und Kreuzen ankommen, sodass die Eingeborenen glauben müssen, dass es sich um Halbgötter oder sonst etwas Erhabenes handeln müsse. Der Film bleibt also auch deshalb spannend, weil sich der Zuschauer fragt, ob und wenn ja, wie diese anfangs unverständliche Prophezeiung des besessenen Mädchens in Erfüllung gehen soll.
Der vielleicht absolute Höhepunkt bezieht sich auf die Darstellung der Sonnenfinsternis. Vorher wird ein grausames Menschenopfer-Ritual durchgeführt, bis es durch dieses unerhörte Ereignis beendet wird, sodass unser Held schon auf dem Henkertisch liegend verschont wird und einen kurzen Aufschub bekommt, weil sich der Killer-Priester die Gunst der Stunde zunutze macht, um seine angebliche spirituelle Macht zu demonstrieren. Denn als das Volk beim Eintreten der Sonnenfinsternis äußerst beunruhigt wird, ruft der schreckliche Rhetoriker inbrünstig von seiner etwa fünfzig Meter hohen Pyramide zum Volk herab:
Volk unter dem Banner der Sonne, fürchtet euch nicht. Freut euch! Kulkutan hat genug Blut getrunken. Wir haben seinen Durst gestillt. [Nun ruft er zur verfinsterten Sonne hin.] Lass dein Licht wieder auf uns scheinen!
Das Volk jubelt, da der Zauber wirkt, während der Mond schon wieder an der Sonne vorbeizieht. Der Killer-Priester hat jetzt ein noch stärkeres Vertrauen in sein abergläubisches Volk gepflanzt, indem er ja bewiesen hat, dass die beiden Menschenopfer ausgereicht hätten, einen Fluch der Götter abzuwenden. Zufällig profitiert hier unser Held (Pranke des Jaguars), indem er nun nicht auch noch geopfert werden muss, sondern einen Aufschub erhält, bis er im Kampfspiel geschlachtet werden soll.
Der Regisseur inszeniert eine großartige Magie, nicht nur durch die Kostüme, nicht nur durch die pathetisch-erhabenen Gebärden des Opfer-Priesters, nicht nur durch den Kontrast der hysterischen Umgebung mit dem im Tunnelblick verweilenden Helden, nicht nur durch das erhabene Bild der Sonnenfinsternis, sondern auch durch ein Orakel, welches neben dem Priester steht, delirierend die Augen verdreht und sich epileptisch gebärdend unverständliche Botschaften von sich gibt, während das Unerklärliche, die Sonnenfinsternis, eintritt. Alles zusammen erzeugt eine Spiritualität der Grausamkeit, welche den erkennenden Zuschauer aufs Höchste vitalisiert.
Diese Darstellung ist auch insofern meisterhaft, als dass sie mich an Rituale der buddhistischen Tantra-Meister erinnert, wie sie etwa in der Dokumentation von Arnaud Desjardins “Die Botschaft der Tibeter” zu sehen sind, bloß dass dort die Opfer symbolisch im Geist vollzogen werden, da sich bekanntlich alle Buddhisten der Gewaltlosigkeit verschrieben haben. Dazu kommt die Ähnlichkeit der Kostüme zwischen diesen Indianern und den Tibetern des Tantra-Buddhismus` sowie deren Ausstrahlung, die normalerweise erst entstehen kann, wenn das ganze Leben lang Rituale praktiziert werden, an welche auch wirklich geglaubt wird, wie es bei diesen tibetischen Meistern der Fall gewesen ist. Der Film überzeugt also auch durch seine spirituelle Authentizität.
Ich beschließe meine Betrachtungen mit der Frau des Helden, die im Sinne ihrer Möglichkeiten ebenso heldenhaft erscheint, wenn sie mit ihrem etwa vier- oder fünfjährigen Sohn in einem ungefähr zehn Meter tiefen Erdloch ohne Ausgangsmöglichkeit ausharrt, ungewiss ob ihr Mann noch am Leben sei und ob sie nicht überhaupt in diesem Erdloch mit ihrem Sohn den Hungertot sterben müsse. Zunächst pflegt die Mutter ihren Sohn, indem sie seine Wunden mit Ameisen desinfiziert, wobei sich diese schmerzhaft beißenden Insekten wie ein Nahtfaden in die Wunde einfressen. Der zunächst widerspenstige Sohn erträgt diese Schmerzen tapfer, nachdem ihm seine Mutter mit ruhigem Liebesblick in die Augen geschaut hat. Später muss sie mit einem Holzknüppel einen wilden Affen erschlagen, der im Kampf mit einem Artgenossen in dieses Erdloch gestürzt ist und schwerverletzt eine Todesgefahr für Mutter und Sohn darstellt. Schließlich beginnt der tropische Starkregen das Erdloch langsam zu fluten, während die hochschwangere Frau einen Sohn gebärt, wobei sie ihren anderen Sohn und sich selbst vorm Ertrinken bewahren muss. In einer spannenden Szene gelingt das Unwahrscheinliche, was allerdings im Rahmen der Möglichkeit bleibt, insofern die liebende Heldin ihren Sohn auf den Schultern tragend teilweise schwimmt und sich teilweise mit den Füßen am Rande des Erdloches abstützen kann, während sie in einem Tanz zwischen Tod und Leben eine glückliche Geburt vollzieht, insofern das Kind nicht querkommt, was wohl ihrer aller Tod gewesen wäre, sondern direkt aus der Gebärmutter durch das Wasser an die Luft gerät, sodass sie sich noch gerade mit dem aufgestiegenen Wasserspiegel aus dem Erdloch retten können.
Die bloße Beschreibung dieser Ereignisse könnte als typischer Hollywood-Kitsch abgewertet werden, wenn nicht die Inszenierung einen Kunstfilm daraus machte. Fasziniert hat mich am meisten das spirituelle Element: Die Überwindung der Angst und die Maximierung der letzten Kraftreserven durch Liebe und der glückliche Zufall durch Hoffnung und Glauben.
Ich komme zu dem vorläufigen Schluss, dass Mel Gibsons Film “Apocalypto” ein Meisterwerk ist, welches alle seine Filme übertrifft, in denen er als Schauspieler bekannt geworden ist. Dieses Drama lässt sich sicherlich ob seiner politischen und historischen Korrektheit kritisieren, besonders die Botschaft, dass die Indianer durch ihre Grausamkeit sowie durch ihre schlechte Organisiertheit ihren Untergang selbst verschuldet hätten. Dennoch spricht der Held des Filmes Pranke des Jaguars gegen die Grausamkeit, da er keine Menschen-Opfer durchführt und nur in seinem Waldabschnitt jagend ansonsten friedlich leben will.
Davon abgesehen werden die Menschenopfer des anderen Stammes plausibel gemacht. Eine Spiritualität der Grausamkeit lässt sich erklären, wenn ein Volk nichts als den Dschungel zum Vorbild hat, woraus zunächst schwerlich etwas anderes als ein Sozialdarwinismus folgt, wobei dieser nur insofern fasziniert, als dass er von einem magisch-mythischen Sinnhorizont verklärt und tradiert wird. Der Film ist kein Plädoyer für ein Zurück in die Natur, wenngleich er unsere Lebenskraft durch die Triebe Eros und Thanatos erregt. Letztlich fasziniert mich der Film durch die Darstellung des Wahnsinns, von dem man sich freut, frei zu sein, es aber genießt, an dessen Vitalität zu partizipieren. Der Film hat mir offenbart, dass Vitalität keineswegs bloß physisch ist, sondern ihre höchste Steigerung erst durch Spiritualität geschieht, welche hier allerdings zum Wahnsinn geworden ist. Obwohl es viele Gesichtspunkte gibt, worüber zu Apocalypto eine Rezension geschrieben werden kann, habe ich mich dieses Mal nur auf den Zusammenhang von Vitalität und Spiritualität konzentriert.
Obwohl die historischen Tatsachen im Einzelnen nicht falsch sind, scheint mir die dichte Verkettung vieler grausamer Höhepunkte unwahrscheinlich, wenngleich nicht unmöglich zu sein. Mel Gibson zeigt also im Rahmen der menschlichen und historischen Möglichkeit, wie die Vitalität in jeder Todesgefahr und überhaupt im naturverbundenen magisch-mythischen Lebenswandel glaubhaft gesteigert wird. Neben Kampfhandlungen beeindrucken hier auch Gebete, Rituale, Vater-Sohn-Transmissionen sowie die anmutige Tapferkeit der Frau des Helden. Der Film fasziniert durch eine Todes-Erotik, wobei er das heroische Lebensgefühl einiger Vitalisten verständlich macht, freilich nur aus deren Vitalität heraus, in welche der Zuschauer eingeführt wird. Fast alle Handlungen wären nur grauenhaft, wenn sie nicht in einer magisch-mythischen Kultur eingebettet sein würden, aus der die faszinierende Ausstrahlung dieser Kämpfer zu erklären ist.
Nun analysiere ich einige Szenen, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Gleich nach der ersten Jagdszene wird ein zeitloses gruppendynamisches Verhalten gezeigt. Als der Sohn des Anführers (Pranke des Jaguars) ausgewählte Stücke des geschlachteten Wildschweins verteilt, wird ein Stammesbruder, nicht ohne Humor, etwas gemobbt, indem er abermals die Hoden des Tieres fressen solle, damit er endlich seiner Frau ein Kind zeugen könne, was ihm noch nicht gelungen sei. Zurück im Dorf beschimpft auch seine Mutter den scheinbar Impotenten, während ihn die anderen auslachen.
Diese Szenen verdeutlichen, dass in einem Naturvolk neben der Tapferkeit nur noch die sexuelle Potenz den Wert eines Mannes bestimmt. Obwohl diese beiden Werte auch heutzutage gelten, kann deren Ermangelung in einer modernen Gesellschaft viel leichter versteckt oder durch Sublimierung umgangen werden, als es in einem Indianerdorf möglich war. Diese Szenen entblößen also den Großstadtneurotiker, indem sie suggerieren, dass er nur noch in einer künstlichen Welt eine Funktion und damit einen Wert habe, während er sonst dem Mobbing völlig ausgeliefert wäre und keinen Wert mehr als Mann besäße, wenn er weder tapfer noch potent wäre. Hier drängt sich ein Vergleich zweier Perspektiven auf, ob der Wert eines Mannes an seiner kämpferischen Tapferkeit und seiner sexuellen Potenz oder ob er in seinen intellektuellen Leistungen liegt. Diese Frage lässt sich erörtern, wobei mir klar wird, dass heutzutage keine Einseitigkeit befriedigen könnte, dass also unser Ideal wohl sein müsste, beide Seiten zu maximieren: Tapferkeit und sexuelle Potenz sowie eine intellektuelle Begabung, aus welcher zur Hochkultur beigetragen werden kann.
Ein weiterer Höhepunkt ist die Szene, wo Pranke des Jaguars von den Räubern getötet wird. Der Sohn muss zusehen, wie seinem Vater die Kehle aufgeschnitten wird. Für mich ist das eine Schlüsselszene zur Entwicklung des Helden, insofern der sterbende Vater Ruhe bewahrend keine Angst zeigt und seinem Sohn etwa sagt: “Habe keine Angst, mein Sohn.” Dabei bekommt der Sohn zu sehen, dass sein Vater seinen magisch-mythischen Sinnhorizont so sehr verinnerlicht hat, dass er im Höllengrauen noch Ruhe und Frieden ausstrahlt. Mel Gibson verstärkt den spirituellen Eindruck, indem er den verblutenden Vater langsam auf die Kniee sinken lässt, wonach die Kamera in die von Wind und Sonnenlicht durchflutete Baumkrone schwenkt, wobei aus dem zunächst klaren Bild der Baumkrone ein surreales, aber schönes Bild entsteht als Sinnbild für die durch das Sterben bedingte Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinsverlöschung. Hier geschieht eine Transmission vom Vater zum Sohn, wonach der Sohn in allen folgenden Handlungen nicht mehr hysterisch erscheint, sondern durch einen offenen, ruhigen Blick gekennzeichnet ist, welcher eine beeindruckende Erhabenheit verrät.
Eine weitere magische Szene folgt, als ein von der Pest gekennzeichnetes etwa siebenjähriges Mädchen den vorbeiziehenden erbarmungslosen Räubern die Geschichte des ganzen Filmes in Form eines kryptischen Mythos’ prophezeit, wobei selbst den Anführern bange wird, sodass sie schnell weiterziehen. Einmal ist ihnen bange, weil sie die Pest fliehen, andererseits ist es die Furchtlosigkeit des Mädchens, welches schon im Sterbeprozess seiend so begeistern spricht, dass es scheint, als ob sie diese Weisheit wirklich von einem Gott habe. Sie strahlt dabei vollkommene Erhabenheit, bedrohliche Ruhe und Gewissheit aus, dass es schwer wird, ihr nicht zu glauben, als sie in ihrer eingeborenen Sprache plötzlich ganz ruhig und konzentriert werdend prophezeit:
Ihr habt Angst vor mir. Das solltet ihr auch. Ihr alle seid abscheulich. Wollt ihr wissen, wie ihr sterben werdet? Die heilige Zeit ist nah. Hütet euch vor der Dunkelheit des Tages. Hütet euch vor dem Mann, der den Jaguar bringt. Erkennt den aus Schlamm und Erde Wiedergeborenen, denn er bringt euch zu dem, der den Himmel und die Erde auslöschen wird, der euch auslöscht und eure Welt beendet. [Schreiend flüstert das Mädchen dann:] Er ist jetzt bei uns. [Schließlich ruft sie mit erhobenen Armen den beängstigt Weiterziehenden zu:] Tag wird wie Nacht sein. Und der Jaguar-Mann wird euch in euer Ende führen!
Im weiteren Verlauf geht diese Prophezeiung in Erfüllung, was den Film dramatisch macht, insofern die Jäger mit aller Kraft versuchen, diesen Fluch zu vermeiden. Unser junger Held wird mit dem Jaguar kommen, insofern er im Dschungel eine kurze Strecke lang von dieser schwarzen Raubkatze verfolgt wird. Außerdem wird er zum “aus Schlamm und Erde Wiedergeborenen”, insofern er beinahe im Moor versunken wäre und nur knapp rausgekommen voll von dunklem Schlamm ist. Viertens erfüllt sich das scheinbar Unmögliche “Tag wird wie Nacht sein”, insofern eine Sonnenfinsternis auftritt. Schließlich endet die Hetzjagd, als Pranke des Jaguars völlig erschöpft am Meeresufer anlangt. Dort führt unser Held seine Verfolger an ihr Ende, insofern dort die Spanier mit riesigen Schiffen, Schusswaffen und Kreuzen ankommen, sodass die Eingeborenen glauben müssen, dass es sich um Halbgötter oder sonst etwas Erhabenes handeln müsse. Der Film bleibt also auch deshalb spannend, weil sich der Zuschauer fragt, ob und wenn ja, wie diese anfangs unverständliche Prophezeiung des besessenen Mädchens in Erfüllung gehen soll.
Der vielleicht absolute Höhepunkt bezieht sich auf die Darstellung der Sonnenfinsternis. Vorher wird ein grausames Menschenopfer-Ritual durchgeführt, bis es durch dieses unerhörte Ereignis beendet wird, sodass unser Held schon auf dem Henkertisch liegend verschont wird und einen kurzen Aufschub bekommt, weil sich der Killer-Priester die Gunst der Stunde zunutze macht, um seine angebliche spirituelle Macht zu demonstrieren. Denn als das Volk beim Eintreten der Sonnenfinsternis äußerst beunruhigt wird, ruft der schreckliche Rhetoriker inbrünstig von seiner etwa fünfzig Meter hohen Pyramide zum Volk herab:
Volk unter dem Banner der Sonne, fürchtet euch nicht. Freut euch! Kulkutan hat genug Blut getrunken. Wir haben seinen Durst gestillt. [Nun ruft er zur verfinsterten Sonne hin.] Lass dein Licht wieder auf uns scheinen!
Das Volk jubelt, da der Zauber wirkt, während der Mond schon wieder an der Sonne vorbeizieht. Der Killer-Priester hat jetzt ein noch stärkeres Vertrauen in sein abergläubisches Volk gepflanzt, indem er ja bewiesen hat, dass die beiden Menschenopfer ausgereicht hätten, einen Fluch der Götter abzuwenden. Zufällig profitiert hier unser Held (Pranke des Jaguars), indem er nun nicht auch noch geopfert werden muss, sondern einen Aufschub erhält, bis er im Kampfspiel geschlachtet werden soll.
Der Regisseur inszeniert eine großartige Magie, nicht nur durch die Kostüme, nicht nur durch die pathetisch-erhabenen Gebärden des Opfer-Priesters, nicht nur durch den Kontrast der hysterischen Umgebung mit dem im Tunnelblick verweilenden Helden, nicht nur durch das erhabene Bild der Sonnenfinsternis, sondern auch durch ein Orakel, welches neben dem Priester steht, delirierend die Augen verdreht und sich epileptisch gebärdend unverständliche Botschaften von sich gibt, während das Unerklärliche, die Sonnenfinsternis, eintritt. Alles zusammen erzeugt eine Spiritualität der Grausamkeit, welche den erkennenden Zuschauer aufs Höchste vitalisiert.
Diese Darstellung ist auch insofern meisterhaft, als dass sie mich an Rituale der buddhistischen Tantra-Meister erinnert, wie sie etwa in der Dokumentation von Arnaud Desjardins “Die Botschaft der Tibeter” zu sehen sind, bloß dass dort die Opfer symbolisch im Geist vollzogen werden, da sich bekanntlich alle Buddhisten der Gewaltlosigkeit verschrieben haben. Dazu kommt die Ähnlichkeit der Kostüme zwischen diesen Indianern und den Tibetern des Tantra-Buddhismus` sowie deren Ausstrahlung, die normalerweise erst entstehen kann, wenn das ganze Leben lang Rituale praktiziert werden, an welche auch wirklich geglaubt wird, wie es bei diesen tibetischen Meistern der Fall gewesen ist. Der Film überzeugt also auch durch seine spirituelle Authentizität.
Ich beschließe meine Betrachtungen mit der Frau des Helden, die im Sinne ihrer Möglichkeiten ebenso heldenhaft erscheint, wenn sie mit ihrem etwa vier- oder fünfjährigen Sohn in einem ungefähr zehn Meter tiefen Erdloch ohne Ausgangsmöglichkeit ausharrt, ungewiss ob ihr Mann noch am Leben sei und ob sie nicht überhaupt in diesem Erdloch mit ihrem Sohn den Hungertot sterben müsse. Zunächst pflegt die Mutter ihren Sohn, indem sie seine Wunden mit Ameisen desinfiziert, wobei sich diese schmerzhaft beißenden Insekten wie ein Nahtfaden in die Wunde einfressen. Der zunächst widerspenstige Sohn erträgt diese Schmerzen tapfer, nachdem ihm seine Mutter mit ruhigem Liebesblick in die Augen geschaut hat. Später muss sie mit einem Holzknüppel einen wilden Affen erschlagen, der im Kampf mit einem Artgenossen in dieses Erdloch gestürzt ist und schwerverletzt eine Todesgefahr für Mutter und Sohn darstellt. Schließlich beginnt der tropische Starkregen das Erdloch langsam zu fluten, während die hochschwangere Frau einen Sohn gebärt, wobei sie ihren anderen Sohn und sich selbst vorm Ertrinken bewahren muss. In einer spannenden Szene gelingt das Unwahrscheinliche, was allerdings im Rahmen der Möglichkeit bleibt, insofern die liebende Heldin ihren Sohn auf den Schultern tragend teilweise schwimmt und sich teilweise mit den Füßen am Rande des Erdloches abstützen kann, während sie in einem Tanz zwischen Tod und Leben eine glückliche Geburt vollzieht, insofern das Kind nicht querkommt, was wohl ihrer aller Tod gewesen wäre, sondern direkt aus der Gebärmutter durch das Wasser an die Luft gerät, sodass sie sich noch gerade mit dem aufgestiegenen Wasserspiegel aus dem Erdloch retten können.
Die bloße Beschreibung dieser Ereignisse könnte als typischer Hollywood-Kitsch abgewertet werden, wenn nicht die Inszenierung einen Kunstfilm daraus machte. Fasziniert hat mich am meisten das spirituelle Element: Die Überwindung der Angst und die Maximierung der letzten Kraftreserven durch Liebe und der glückliche Zufall durch Hoffnung und Glauben.
Ich komme zu dem vorläufigen Schluss, dass Mel Gibsons Film “Apocalypto” ein Meisterwerk ist, welches alle seine Filme übertrifft, in denen er als Schauspieler bekannt geworden ist. Dieses Drama lässt sich sicherlich ob seiner politischen und historischen Korrektheit kritisieren, besonders die Botschaft, dass die Indianer durch ihre Grausamkeit sowie durch ihre schlechte Organisiertheit ihren Untergang selbst verschuldet hätten. Dennoch spricht der Held des Filmes Pranke des Jaguars gegen die Grausamkeit, da er keine Menschen-Opfer durchführt und nur in seinem Waldabschnitt jagend ansonsten friedlich leben will.
Davon abgesehen werden die Menschenopfer des anderen Stammes plausibel gemacht. Eine Spiritualität der Grausamkeit lässt sich erklären, wenn ein Volk nichts als den Dschungel zum Vorbild hat, woraus zunächst schwerlich etwas anderes als ein Sozialdarwinismus folgt, wobei dieser nur insofern fasziniert, als dass er von einem magisch-mythischen Sinnhorizont verklärt und tradiert wird. Der Film ist kein Plädoyer für ein Zurück in die Natur, wenngleich er unsere Lebenskraft durch die Triebe Eros und Thanatos erregt. Letztlich fasziniert mich der Film durch die Darstellung des Wahnsinns, von dem man sich freut, frei zu sein, es aber genießt, an dessen Vitalität zu partizipieren. Der Film hat mir offenbart, dass Vitalität keineswegs bloß physisch ist, sondern ihre höchste Steigerung erst durch Spiritualität geschieht, welche hier allerdings zum Wahnsinn geworden ist. Obwohl es viele Gesichtspunkte gibt, worüber zu Apocalypto eine Rezension geschrieben werden kann, habe ich mich dieses Mal nur auf den Zusammenhang von Vitalität und Spiritualität konzentriert.