Klimmer

Parabel zum Thema Natur

von  Quoth

Dieser Text ist Teil der Serie  Parabeln
Das Haus aus rotem Backstein, das wir bewohnten, war nicht schön, ja, es ähnelte einem Kasernenbau, aber meine Mutter hatte eine Idee: „Wir machen es schön, wir lassen es mit Klimmer bewachsen!“ Sie beschaffte sich drei Pflanzen des wilden Weins in der Baumschule, je eine wurde an die Ost-, die Süd- und die Westmauer gesetzt, und dort machten sie zunächst einen ehe kümmerlichen Eindruck. Wir fragten uns, wie diese Winzlinge wohl unser Haus verschönen und ihm den Charakter einer Massenunterkunft nehmen sollte. Nach anfänglichem Zögern - sie mussten wohl erstmal Bekanntschaft mit dem neuen Boden schließen – und eifrigem Begießen unsererseits entwickelten sie jedoch eine überraschende Wüchsigkeit. Mein Vater hatte geglaubt, ihr Klettern durch ein Holzgerüst unterstützen zu müssen, aber sie wuchsen schnell über das Gerüst hinaus, klammerten sich dank ihrer Haftscheiben geckoartig an der Mauer fest, waren schon nach einem Jahr über das Parterre hinausgelangt und erfreuten uns im Herbst durch ihr leuchtendes Rot. Im zweiten Jahr klommen sie bis zur Dachtraufe, unser Haus begann, grün überwuchert, wie es war, eine Sehenswürdigkeit zu werden, Menschen blieben stehen und fachsimpelten über Bauschäden, die solch eine Pflanze anzurichten imstande ist. Da der Klimmer seine Wachstumsfreude am Dach gehemmt fand, begann er nun in die sommers immer offenstehenden Fenster hineinzuwachsen, es erschien uns grausam, ihn daran zu hindern, und übergrünt fanden wir Fensterbänke, Wände und Böden hübscher, schließlich ließen wir auch zu, dass Tische, Bücherregale, Betten und sogar das Klavier überwachsen wurden von dem kaum entfernbaren Pflanzengast, dessen Zellteilungswut vor nichts Halt machte. Der Herbst stürzte uns in einen Farbrausch, aus dem die Winterkälte bei nicht mehr schließbaren Fenstern uns jäh erweckte. Mit Äxten, die leider auch die Möbel und die Fenster schädigten, wenn nicht zerschlugen, versuchten wir uns des Eindringlings zu erwehren, aber vergebens, das wilde Gewächs gedieh auch auf uns, und bald waren wir alle verhaftet, die Pflanze umschlang uns mit ihren Ranken und winzigen Füßchen, Vater in seinem Sessel, Mutter am Herd, mich am Klavier, die erste Invention von Bach spielend.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (14.09.21)
Herrlich!

P.S.: Im letzten Satz fehlt ein Komma.

 Quoth meinte dazu am 14.09.21:
Vielen Dank, hab eins gesetzt! Gruß Quoth

 Graeculus (14.09.21)
Wer mag eigentlich auf den absurden Einfall gekommen sein, Natur sei idyllisch?

 Quoth antwortete darauf am 14.09.21:
Ich weiß es nicht - hat Vergil damit begonnen? Longus? Oder Fürst von Pückler-Muskau? Vielen Dank - Quoth

 Graeculus schrieb daraufhin am 14.09.21:
Wenn wir in die Antike zurückgehen, habe ich die Bukoliker im Verdacht. Interessanterweise war das ursprünglich der Name für eine Räuberbande am Mareotis-See bei Alexandria.

 Quoth äußerte darauf am 15.09.21:
Die Dichtung hat immer die Sehnsucht ihrer Leser und Hörer nach einer besseren, friedlicheren Welt als der, in der sie leben, zu bedienen versucht. Man mag das als Eskapismus herabsetzen, aber es ist wohl ein unausrottbares Urverlangen. Sie hat ja auch die Sehnsucht nach einer heroischeren Welt bedient (Epos), nach einer durchschaubar tragischen oder komischen (Drama) - ja, die Literatur ist ein einziger Sumpf an tröstlichen Lügen!

 Regina (14.09.21)
Da wir vom Sauerstoff leben und die Pflanzen essen, meinen wir, die Pflanze sei gut. Aber in der Pflanzenwelt gibt es den Selbstbehauptungskampf, die Konkurrenz um Licht und Wasser, Schmarotzerei, Giftanschläge und Wucher.

 Quoth ergänzte dazu am 14.09.21:
Ja, die Würgefeige ist für mich ein Musterbeispiel dafür, wie grausam Pflanzen sein können. Vielen Dank - Quoth

Antwort geändert am 14.09.2021 um 13:32 Uhr

 DanceWith1Life (14.09.21)
jetzt fehlt nur noch Ätznatron mit seinem aufsatz über wuchern, dann können wir anfangen.
ich vergass, "Led Zeppelin"
and as we wind on down the road
our shadows taller than our soul.

Kommentar geändert am 14.09.2021 um 21:17 Uhr

 AchterZwerg meinte dazu am 15.09.21:

 Quoth meinte dazu am 15.09.21:
Erklär mir den Kommentar, AchterZwerg. Wer oder was ist Ätznatron, wo finde ich den Aufsatz über wuchern?

 AchterZwerg meinte dazu am 15.09.21:
Uns' Lodda bezeichnet sich gern selbst als Ätznatron.
Die schlechte Nachricht: Noch wuchert kein Aufsatz übers Wuchern ...
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram