Am Abgrund

Parabel zum Thema Selbstverwirklichung

von  Quoth

Dieser Text ist Teil der Serie  Parabeln
Waren Sie schon mal am Grab von Napoleon Bonaparte in Paris? Man geht auf eine marmorne Balustrade zu, hinter der scheinbar nichts ist. Tritt man an sie heran, sieht man in der Tiefe zwei riesige Engel, die sich über einen winzigen Sarkophag beugen – alles weißer Marmor. Diese Versenkung des Sarges eines so bedeutenden Mannes in die Tiefe hat mich ungeheuer erschreckt und berührt. Und daran fühlte ich mich erinnert, als ich kürzlich durch Florenz stromerte – auf der Suche nach nichts oder besser: nach dem Zufallsfund. In Florenz kann man einfach herumlaufen und sich dem Zufall anvertrauen – immer findet man was, und oft genug eine Rarität, die noch nicht im Baedeker steht. Nun, ich fand etwas, nämlich eine marmorne Balustrade, die plötzlich meinen Weg versperrte, und hinter ihr war nichts. Schien nichts zu sein. War es auch ein Grab? Wenn, dann konnte es nur das Grab eines einzigen Mannes sein: Machiavellis. Dieser hellsichtigste aller politischen Denker verdiente es, wie Napoleon begraben zu sein – denn dieser war sein gelehrigster Schüler. Aber als ich zagend an die Balustrade herantrat, eröffnete sich mir etwas ganz anderes. Ich blickte hinab in eine riesige Bibliothek, mit zehn-, mit hunderttausenden von Büchern. Die ungeheure Fülle von Buchrücken – viele braun und golden bedruckt, zugänglich nur über Leitern, erschlug mich förmlich. Enzyklopädien, Lexika, Werk- und Einzelausgaben, darunter bestimmt hunderte von Inkunabeln, sowas gab es doch gar nicht – und das hier in dem riesigen Loch unter freiem Himmel, bestimmt einem Bombenkrater aus der Kriegszeit! Aber es kam noch schöner! Den Boden der Riesenbibliothek bildete ein Lesesaal mit hunderten von Tischen, an denen Lesende, Studierende saßen, in die nun Bewegung kam, denn einer von der Aufsicht zeigte nach oben, auf mich und rief etwas, was ich nicht verstand, aller Blicke richteten sich auf mich, die Lesesaalbenutzer*innen sprangen auf, eine ungeheure Begeisterung bemächtigte sich ihrer, sie schrien durcheinander und schließlich kristallisierte sich der Ruf „Benvenuto! Benvenuto!“ heraus, und es war offensichtlich, dass sie nur mich meinen konnten, denn außer mir stand niemand an der Balustrade. Sie erwarteten offenbar jemanden und hielten mich für diesen jemand. Mein erster Impuls war: Nichts wie weg! Das ist ein kapitales Missverständnis! Wenn das auffliegt, bist du der Blamierte! Aber dann dachte ich: Was kann schon passieren? Sie halten dich für jemand, der du nicht bist! Der Revisor von Gogol fiel mir ein – mein Bruder hatte mal den Polizeimeister darin gespielt. Und ich spielte mit! Ich winkte, gnädige Leutseligkeit vortäuschend, zurück! Endlich einmal ein Ort, an dem ich willkommen war! Ich würde bald wissen, für wen sie mich hielten! Und dem würde ich zum Verwechseln zu gleichen versuchen! Es war die Chance meines Lebens!


Anmerkung von Quoth:

Ausgelöst durch das Bühnenbild zu "Don Carlo" von der Dresdner Semperoper:
https://www.semperoper.de/spielplan/stuecke/stid/don-carlo/61447.html#video1

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