Jorin und die Unendlichkeit

Kurzgeschichte

von  ochsenbacke


Nennen wir ihn also Jorin. Wie sieht er aus? Nicht groß, nicht klein, nicht hübsch, nicht hässlich, nicht dick, nicht dünn – Durchschnitt, nichts als Durchschnitt. Zumindest, was seine Erscheinung betrifft. Also nicht besonders interessant, möchte man meinen. Doch da ist seine Art, über alles mögliche zu staunen – über die Sonne, den Mond, die Sterne; über das Licht der Glühbirne, den Fernseher, den Hund des Nachbarn, den blühenden Rosenstrauch und und und. . .

Und dieses Staunen hat es in sich. Es ist nicht das gewöhnliche Alltagsstaunen, das ihn umtreibt, wie etwa, wenn jemand sagt: Das erstaunt mich doch sehr oder: Du siehst wieder mal erstaunlich gut aus – nein, es ist mehr ein tiefes Betroffensein über die verborgenen Geheimnisse des Alltäglichen, die ihm immer wieder begegnen, die er begierig in sich einsaugt, und die ihn manchmal bis an die Grenze des Erträglichen erschüttern.

Das ist auch der Grund, warum wir uns mit ihm überhaupt befassen.

Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Schneiderspiegel . . .

Ja, der Schneiderspiegel! Ein glasig-hölzernes Monstrum mit einer riesigen Mittelscheibe und zwei schmalen Seitenteilen, eine Art profaner Hochaltar mit Predella und dreiteiligem Tafelwerk. Er steht in der Schneiderwerkstatt seines Vaters und hat viel gesehen, vor allem Liebhaberinnen ausgefallen maßgeschneiderter Kleider. Auch den Jorin sieht er oft, etwa, wenn ihm der Vater für eine Hose oder einen neuen Anzug die Maße abnimmt, oder wenn sich Jorin zum Spaß vor ihm dreht und wendet und dabei die Zunge herausstreckt.

Wie alt ist der Jorin jetzt? Na, sagen wir: In einem Alter, wo einer noch bartlos ist – nicht unbedingt ein Milchgesicht, (denn schon keimten die ersten Pubertätsknospen auf seiner Stirn), aber noch lange kein Mann.

Eines Tages fällt ihm etwas Verrücktes auf, und sein Erstaunen ist groß, stark und männlich. Als der Vater die Seitenteile vorklappt, um seinem Sohn einen Eindruck vom zukünftigen Meisterstück zu verschaffen, sieht Jorin seine Rückansicht in einem sich verkleinernden Bogen und in atemberaubender Weise vielfach gespiegelt. Ein scheinbar endloser, virtueller Klon. Als er allein ist, stellt er sich wieder vor den Spiegel und betrachtet den sich verkleinernden Bogen. Der scheint um den Spiegel herumzulaufen. Jorin dreht sich blitzschnell um. Doch da steht sein Spiegelbild und sieht ihn fragend an, und hinter ihm wieder das Gleiche: Sein Rücken, ins scheinbar Endlose verkleinert.

Sofort tauchen Fragen auf. Hat diese Reihe denn nie ein Ende? Oder setzt sie sich hinter dem Spiegel unsichtbar ins Endlose fort? Und wenn sie ein Ende hätte, wie klein wäre er dann? Und wenn sie kein Ende nähme? Was wäre dann mit ihm, dem Verursacher dieser Spiegeleien?

Ehrfürchtig tritt Jorin zurück. So ein dreiteiliger Schneiderspiegel ist doch ein unheimliches Möbel . . .

Da er selbst keine Erklärung findet, wendet er sich an seinen Mathematiklehrer. Der sieht ihn aufmerksam an; erstaunt darüber, dass sich ein so junger Mensch schon solche Gedanken macht. Dann erklärt er: Ja, man müsse davon ausgehen, dass sich die Reihe seiner Spiegelungen bis ins Unendliche fortsetzt, denn da ein Spiegelbild nicht stofflicher Natur sei unterliege es auch nicht den Naturgesetzen, die eine Untergrenze, was Anzahl und Größe betreffe, da eingesetzt haben, wo sich das Stoffliche ins Nicht-Stoffliche auflöse. Die kernphysikalischen Forschungen hätten nämlich gezeigt, dass, je tiefer man sich im Kleinen und Kleinsten verliere, alles auf eines hinauslaufe: Die Materie löst sich auf und wird reine elektromagnetische Kraft-Welle. Warum sich diese Ur-Kraft zu den greifbaren Dingen manifestiert, das sei unklar; eine innere Notwendigkeit dazu bestehe nicht.

Da habe er überhaupt eine interessante Entdeckung gemacht, fährt der Lehrer fort: Ähnlich wie mit seinen Spiegelbildern verhalte es sich mit den Zahlen; auch wenn man vermeinte, die kleinste gefunden zu haben, müsse man diese nur halbieren, und schon habe man eine noch kleinere, und so weiter und so fort; die Lösung der Frage, ob man da irgendwann einmal an ein Ende käme, sei noch einen Mathematik-Nobelpreis wert. Und er sei sich sicher, Jorin werde den Preis gewinnen.

Diese Erklärungen verwirren ihn so, dass er in der folgenden Nacht erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf findet.

Und dann, eines Tages, berührt ihn auch noch der Hauch der Unendlichkeit.

Im Mathematikunterricht geht es um die Zahl pi, mit deren Hilfe man bekanntlich Umfang und Fläche eines Kreises berechnen kann. Der Lehrer schreibt die Zahl 3,1515962 . . . an die Tafel und sagt, die Zahlenfolge gehe endlos so weiter, ohne irgendein erkennbares Muster. Bisher seien rund 62,8 Billionen Nachkommastellen bekannt, aber ein Ende der Entdeckungsreise sei noch nicht abzusehen.

Jorin blickt erstaunt auf. „Sie meinen, das geht ewig so weiter?“, fragt er.

Ewig sei das falsche Wort, belehrt der Lehrer, denn ewig bedeute ohne Anfang und Ende. Die Zahl pi habe aber einen Anfang, nämlich die Drei. Man gehe davon aus, dass die Anzahl ihrer Nachkommastellen unendlich groß ist, das heißt kein Ende habe. Das wäre dann eine unbegrenzte Unendlichkeit. Wenn man aber zum Beispiel die Nachkommastellen der Zahl pi unter einen Bruchstrich setze habe man, mathematisch gesprochen, eine begrenzte Unendlichkeit, denn ein Bruch kann nie größer als eins sein.

Jorin schwirrt der Kopf. Wieder kommt er aus dem Staunen nicht heraus. Ewig, unsterblich, unbegrenzt unendlich, begrenzt unendlich . . .

Besonders die Zahl pi hat es ihm angetan. Eine Teufelszahl! Entweder unendlich lang oder oder sndlos eingesperrt wie ein Hamster im Laufrad. Der reinste Zahlen-Kobold! Mit einer geradezu dämonischen Kraft, dass einem der Kopf brummt.

Nachdenklich schleicht er nach Hause. Es muss doch einen Weg geben, grübelt er, hinter das Geheimnis der Zahl pi zu kommen!

Doch je mehr er darüber nachdenkt, desto verwirrter wird er. Jetzt erscheint ihm die Zahl auch noch als bunter Narr und streckt ihm die Zunge heraus. Jorin macht „Bäh bäh!“ und ruft: „Na warte, ich kriege dich doch, auch wenn du noch so lang bist!“

Da sieht er etwas Eigenartiges und rennt los . . .

Der Lastwagenfahrer versucht noch zu bremsen – zu spät. Die Wucht des Aufpralls schleudert Jorin gegen die Mauer, an der er bewusstlos zusammenbricht. Leute laufen zusammen, kurz darauf trifft die Ambulanz ein.

Niemandem achtet auf das verwitterte Zeichen, das jemand wie eine okkulte Geheimbotschaft an die Mauer gesprüht hat: Es ist der griechische Buchstabe pi, groß, schwarz, leicht verschmiert . . .

Jorin stirbt noch auf dem Weg zum Krankenhaus.

____________


*

Anm.

Seit dem 14. August 2021 sind rund 62,8 Billionen Nachkommastellen der Kreiszahl bekannt. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, haben mehrere Großrechner soviel Strom verbraucht wie eine Kleinstadt im ganzen Jahr.

Das Memorieren der Zahl Pi ist die beliebteste Möglichkeit, das Merken langer Zahlen unter Beweis zu stellen. So ist aus dem Lernen von Pi ein Sport geworden. Der Inder Rajveer Meena ist offizieller Weltrekordhalter mit bestätigten 70.000 Nachkommastellen, die er am 21. März 2015 fehlerfrei in einer Zeit von 10 Stunden aufsagte.







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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (28.12.21, 15:22)
So wie Jorin mit der Irrationalzahl π, so ist es mir mit der Zahl Irrationalzahl φ (1,61803398874...) ergangen, der Proportionalzahl des Goldenen Schnitts und damit auch des Goldenen Quadrats. Die gleiche Faszination - nur die Begegnung mit dem Lastwagen steht noch aus.

 ochsenbacke meinte dazu am 28.12.21 um 20:30:
Hallo Graeculus,







nur die Begegnung mit dem Lastwagen steht noch aus.

Da sei Gott vor! Denn da diese Zahlen irrational sind, stehen sie außerhalb des Universums und sind somit genauso wie der ALTE ewig und sollten zur Erkenntnis, aber nicht zum Untergang führen.

 Dieter_Rotmund (29.12.21, 09:21)
Etwas befremdlich wirkt der Bruch, nicht nur typografisch, sondern vor allem inhaltlich: Der Protagonist interessiert sich von jetzt auf gleich nicht mehr für  Schneiderspiegel, sondern für Pi? Bindeglied soll die Unendlichkeit sein, Hmmmm, ist m.E. zu schwach.
Auch finde ich den Einstieg zu verplappert und den Schluss zu theatralisch. 
Dennoch gerne gelesen, hat Potential!

Kommentar geändert am 29.12.2021 um 09:21 Uhr
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