Ukrainische Erinnerungen, Erlebnisse und Gedanken am 24. Februar 2022

Gedanke zum Thema Reisen

von  pentz

„Du mußt Deine Eier in verschieden Nestern legen!“

Ein Sprichwort aus der Ukraine.

Przemysl, polnische Grenzstation zur Ukraine – ich sitze auf einer Bank im Jahr 1994. „Der Ort heißt: denke nach!“ - quasi, wie es mir einer erklärt hat, bevor Du in den Osten gehen willst, denke lieber darüber nach, bevor du dich entscheidest, dich in den Osten aufzumachen.

Am Bahnhof von Przemysl gehe ich einem Drahtzaun entlang, hinter dem man den Zug nach Odessa stehen sieht. Vor einer Lücke mit Eisenstange stehen eine Schlange Menschen, welche von Bahnerern kontrolliert wird, wahrscheinlich wird hier die Fahrkarte eingesehen, entwertet und die Kontrollierten weitergelassen. Als ich frage, wo ich ein Ticket bekäme, schaut man mich konsterniert an, als ob ich nach etwas Unmögliches fragen würde, ein Uniformierter lacht, packt mich am Arm und zieht mich hinter die Linie und den Eisendrahtzaun, um sich von mir 20 Dollar geben zu lassen. Darüber ist er sehr, sehr erfreut und läuft mit mir weiter bis zur Spitze des Zugs, wo ich denn einzusteigen gebeten werde und in ein Abteil geführt und eingeweist werde, das ein kleines Kabuff darstellt, viersitzig und von einer freundlich lächelnden Dame begrüßt werde.

Bereits der stark alkoholisierte Zugbegleiter war eigenartig, aber diese Frau hier mir gegenüber roch nicht minder nach Alkohol und blickte mich unermüdlich freundlich lächelnd ins Gesicht. Unterhalten konnten wir uns leider nicht mangels verschiedener Sprachhintergründe. Aber wozu auch? Sie ist gekennzeichnet vom Leben, um es mal diskret auszudrücken, mein Blick wandert weiter herunter auf ihren Körper, der nur mit einem Kleid bekleidet ist, daß die Farbe knall-rot hat und einen tiefen Einblick in ihre Brust öffnet und nur knapp bis zu den Oberschenkeln reicht. Das Bild wird komplimentiert mit dem Eindruck, daß der penetrante Geruch wohl von einem billigen Parfum herrührt.

Plötzlich kommt mir der Gedanke, daß es vielleicht nicht gut wäre, Dollars anstatt Ukrainische Währung mit mir herumzutragen. Die jeweilige Landeswährung ist doch in einem entsprechendem Land immer vorteilhaft und sollte man zumindest stets vorrätig haben, bereit halten und darauf vorbereitet sein, damit bezahlen zu können. Andernfalls würde das Fremdgeld als Zahlungsmittel verweigert werden und ich stand am Ende da und ich konnte mir nicht mal ein Mineralwasser leisten und es war Sonntag und die Banken zu und ich verspürte solch einen drückenden Durst – so meine Horrorphantasie. Das ich mich bald in dieser Annahme schwer täuschen würde, war ein interessante Lehre, die mir erteilt worden ist. Aber wer denkt an so etwas und vermutet eine Hyperinflation als normalen Zustand der Währung in einem Land wie diesem. Informationen hatte dich jedenfalls diesbezüglich mitnichten.

Zeit genug ist es, um die Sache mit dem Geldumtausch zu regeln, also packe ich abrupt meine Sieben Sachen zusammen und springe aus dem Abteil, dem Zug und tausche die Valuta um. Und rechtzeitig bin ich wieder im Zug zurück, allerdings quartiere ich mich in einem anderen Abteil, einem größeren, weil Großraumabteil ein. Das ist zwar weniger bequem, aber das ist mir egal.

Ein sehr junges russisches Ehepaar, wahrscheinlich frisch verheiratet und auf Flitterwochen-Reise, kommt mit mir ins Gespräch. Als sich herausstellt, aus welchem Land ich komme, überreicht mir der junge Ehemann feierlich ausrangierte, ungültige, alte Rubelscheine. „Ein Geschenk für Dich von uns, deren Väter in den zwei Vaterländischen Kriegen gegeneinander gekämpft und sich getötet haben.“ Er meint die beiden Weltkriege. Ich bin sichtlich gerührt über diese ansprechende Geste der Völkerverständigung. Das war ein Zeichen, daß die dunklen Zeiten in der Vergangenheit weit zurückgelassen worden ist und eine neue, friedfertige Generation es besser, weil sich nicht die Köpfe einschlagen wollend, machen würden.

Danach kommt ein anderes Paar mit mir ins Gespräch. Der Mann, der nach vorne auf mich zugetreten ist, bietet die weiter hinten stehende Frau als zu bezahlendes Sexualobjekt an. Bekleidet mit einem durchsichtigen, weißen Kleid, fast negligeeartig, erkenne ich eine sehr hübsche Frau mit viel und kantigem Holz vor der Hütte. Vom Schönheitsideal aus betrachtet ist sie eindeutig eine Steigerung gegenüber der von vorhin. Das Abteil ist voller Menschen, die sich mit Leinen-Vorhängen ihre private Atmosphäre schaffen. Hinter so einem Vorhang in aller Öffentlichkeit und wenn sie noch so attraktiv sein mag – aber bitte, ich will kein Spielverderber sein, ich sage: „Einen Dollar!“ Beide sind danach schwer beleidigt, wie es mir scheint – ein Geschäft ist ihnen durch die Lappen gegangen von einem dieser großkotzigen, reichen, geilen Westler oder was?

Jedenfalls, daß ich mich so genierte, unter diesen Umständen, einen sexuellen Aktion zu vollführen – wer hätte dies vermutet, daß dieser Westler so verklemmt und ginant war? Was? Aber zum Glück wußte nur ich das.

Irgendwann hat der Zug Aufenthalt und sehe ein Ehepaar aus dem Westen aus dem Bahnhof erregt schimpfend und wütend kommend: „Das hat man uns nicht gesagt!“ Was vorgefallen ist, interessiert mich nicht, ich denke, dies wird ein übliches Verhalten in Westenmanier sein, die der Prinzessin auf der Erbse gleicht. Aber darin sollte ich mich täuschen.


Ich schrieb in diesem Jahr 1994 in mein Tagebuch über die Ukraine: „Ich traf auf alte, schwache Mensch auf Schritt und Tritt. Nirgendwo sonst habe ich in der Tat so viele alte Frauen auf verpissten Treppen, die zur U-Bahnhof oder sonstiger Unterführung hinabliefen, trostlos und passiv herumsitzen oder verzweifelt betteln sehen. Der Osten ist gegenüber dem Westen deswegen weitaus schlimmer, weil er die Schwächsten und Ältesten erniedrigt, indem er ihnen nicht das zugesteht, was ein Mensch braucht: Essen, Wärme und ein Obdach. – Es passt dazu, dass die Jungen Putin, den Präsidenten so sehr lieben, dieser Geheimdienst-Filou und Karatetyp.“

Aus diesem Text geht hervor, daß für mich damals die Ukraine gleichbedeutend mit Russland war. Es waren quasi die Vorboten aus den tiefen Osten, denen ich dort begegnete. Dahinter steckte schließlich der Eindruck, daß es, je weiter ich nach Osten käme, desto härter werden würde und nicht nur klimatisch gesehen.

Ukraine heißt übrigens so viel wie Grenzregion, darin steckt [kraniza], ein in der südslawischen Sprache verwendeter Ausdruck für Grenze.

Aber andererseits, dies sprach wiederum für diese Region, begegnete man auch normale, ältere Menschen in Straßenbahnen und öffentlichen Plätzen, welche man bei uns schon nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen kann, wohl weil sie in sogenannten Seniorenheimen und Anstalten „weggesperrt“ werden oder sich ihrer Gebrechlichkeit schämend nicht mehr in aller Freiheit herumstaksen und sich den jugendlich-beschämenden Blicken aussetzen wollen.


In Odessa auf einem Zeltlager-Platz, an einem Strand, eine Ansammlung von Menschen allen Geschlechts und Alters, die auf Stühlen sitzen und zuschauen, wie jemand auf dem Boden von jemanden Stehendem mit Fußen traktiert wird.

Keiner, keiner rührt einen Finger für das Opfer.

Man schaut ungerührt zu, als wollte man sich einer Prüfung unterziehen, gefeit zu werden, sich von menschlichem Leid abzuhärten, aber ich konnte und wollte diesen Eindruck nicht verkraften, sprang auf und lief weg und versuchte alles zu unternehmen, diese Stadt Odessa, dieses Land Ukraine zu verlassen.

Ein Lastwagenfahrer bot sich zwar noch an, mich mit in die Krim zu nehmen. Aber dies lag ja noch weiter im Osten. Nein, danke, mein Bedarf an Eindrücken aus dem Osten war bereits gedeckt.

Als ich eine Bahn-Fahrkarte gekauft hatte, war ich froh und nahezu glücklich und ruhte ich mich an einem Straßencafé aus, aber kam dort auch nicht zur Ruhe, denn zwei mir gegenübersitzende, vermutlich russisch Sprechende, weil einen sehr imperialistisch harten Akzent artikulierte Aussprache, drohten mir unverhohlen mit den Fäusten. Warum, war mir im Moment auch nicht klar, konnten sie doch nicht wissen, woher ich kam, da ich kein Wort in meiner Muttersprache von mir gegeben hatte. Aber vielleicht hörten sie an meinem „Spaziwa“ den westlichen Spracheinschlag?

Jedenfalls springe ich wieder auf und renne hastig fort.

Als ich meinen Rucksack holen wollte, stehe ich vor den Bahnhofs-Schließfächern und kann nicht erkennen, welches Fach meins ist. Der Schlüssel hat keine Zahl, die Fächer mitnichten. Der Schließfach-Verwalter hilft mir ein paar Verhau zu öffnen, bei denen ich vermute, daß es jeweils meins ist – Pustekuchen. Er verlangt Dollars für jedes geöffnete Fach. Der Dollarpreis erhöht sich mit jedem neuen Versuch. Mir wird schwindlig, ich brauche für die Heimreise noch einiges Geld und gebe auf, außerdem ist der vordergründig freundliche Ukrainer es scheinbar mittlerweile auch Leid, heuchelt Mitleid mit mir, der sich hier in den Ruin hineinsteigert. Aber beim resignierten Weggehen siegt meine Hybris, die sich einbildet, daß ich doch ein sehr gutes Gedächtnis habe und dieses glaubt sich jetzt, recht zu erinnern und lässt sich tatsächlich das richtige Fach öffnen.

Mir reicht es von diesem Land. Schnell zurück in den Westen, nach Polen, zwischendurch noch einen Kurzen Abstecher ins Vernichtungslager Ausschwitz, im polnischen Oswiecim machen.

Im Zug komme ich in Kontakt mit einer polnischen Familien, die im selben Abteil sitzen. Die Kinder sind ganz verrückt danach, Deutsch zu lernen. Nach der Grenze in Polen kommt ein finster dreinblickender Mann daher, der uns unmissverständlich auffordert, dieses Abteil vorübergehend zu verlassen. Der Familienvater sagt zu uns, seiner Frau und seinen beiden Töchtern: „Das ist kein Pole!“ Ich darf bei ihnen eine Nacht verbringen, die ältere Großmutter, bestimmt im Krieg in Warschau schon gelebt, wiederholt lapidar, als sie erfährt, woher ich komme: „Aus Deutschland! Aus Deutschland! Naja!“ Aber keine Ressentiments sind herauszuhören, eher freudige Erwartung, na, was die inzwischen mit anderen Völkern erlebt haben dürften und ich bin sehr erstaunt, hat doch Nazi-Deutschland Warschau fast dem Erdboden gleichgemacht.


Als ich längst wieder zurück bin, 5 Jahre ist es jetzt her, erzählte ich diese Gewalttätigkeits-Szene auf dem Zeltplatz meinem ukrainisch-deutschen Automechaniker. Er zuckt die Achseln: „Was soll man da schon machen?“ Wenn einer einen anderen krankenhausreif schlägt! - aha! Kein rührt einen Finger für andere in Not geratene Menschen.


Heute, vor kurzem ein junges ukrainisches Mädchen getroffen, die hierzulande studiert. Als ich ihr dies erzähle, sagt sie: „Ach, das ist so lange her!“


Persönlich-verwandtschaftliches verbindet mich die Ukraine insofern, als beide Großväter dort im Ersten Vaterländischen Krieg, wie die Russen sagen, wir sagen im I. Weltkrieg, gekämpft haben. Sie haben es überlebt. Schlechter erging es zwei Brüdern von meiner Mutter, die am Kriegsende-Tag in diesem Land erschoßen worden sind.


Eine Strophe in der ukrainischen Nationalhymne geht so: „Wir geben Leib und Seele für die Freiheit.“

Wenn ich heute während des russischen Überfalls auf die Ukraine via Videos in die Gesichter der Menschen sehe, wird mir ganz anders, schwindlig und perplex, mit welch freudiger Sicherheit, angstlosem Stolz und Wagemut sie auf die übermächtige Invasionsarmee warten und sich wappnen.


Es war ein schwerwiegender Fehler von der derzeitigen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew nur für die Opfer des Madjans und nicht auch für die Opfer des Faschismus Blumen niedergelegt zu haben. Das hat die Russen provoziert.


Nichtsdestotrotz muß man sagen, daß die Ukrainer auch für Deutschland kämpfen. Hierzulande leben circa 6 Millionen russische Familien, die Hälfte davon sind deutschstämmig. Putin wird auch eines Tages diesen Leuten vom „Genozid“ betroffene Brüder und Schwestern helfen wollen...



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (03.03.22, 09:57)
Echte Reiseerlebnisse schlagen Spekulationen und Annahmen ohne Erfahrungen allemal.
Clara (37)
(03.03.22, 10:26)
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 EkkehartMittelberg (03.03.22, 13:05)
Solche realistischen Berichte sind wichtig in einer Zeit, in der Propaganda alles beherrscht.
Gruß
Ekki 

 pentz meinte dazu am 03.03.22 um 15:04:
ich habe noch eine wichtige Begegnung in diesem Text ergänzt, in der deutlich wird, daß man nicht russische Menschen  so behandeln soll, wie Putin und bad company andere behandelt. 
man sollte sich in eine polarisierung zwischen russen und andere hineinziehen lassen, was in den Kommentaren leider zum Ausdruck kommt.
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