Es ist immer warm, weich und manchmal unmerklich feucht. Sanfte hügelige Landschaft, keine allzu grosse Erhebungen, ausser zwei-drei Gipfel, aber auch diese schön abgerundet, vertraulich. Nur sehr selten wirken die Gipfelspitzen aggressiv. Man mag sofort diese Gegend. Es ist als ob man nach Hause gekommen wäre. Man kann es schwer erklären, es ist einfach so. Man fühlt sich immer gut aufgehoben, fast in einer ewigen Sicherheit. Das heisst aber noch lange nicht, dass es Langweilig werden könnte. Diverse Möglichkeiten werden angeboten.
Trotzdem habe ich eine Lücke gefunden. Ein klassischen Aussichtsturm hat man schon immer gehabt, aber ich wollte da in diesem Falle einen ganz ungewöhnlichen aufbauen. Einen, der noch nie gesehenen wurde, wenigstens meines Wissens nach. Aber der Turm, der schon lange fällig, notwendig gewesen wäre - nämlich ein Aussichtsturm für Leute mit benachteiligtem Sehvermögen oder für die ganz Blinden - wollte ich aufrichten.
Für diese Attraktion brauchte es nicht den Höchsten der Gipfel. Die Lage war viel wichtiger. Nach gründlicher Beratung, erschöpfender Evaluation, Erwägung aller Pro und Kontra fiel der Entscheid zugunsten eines eher unauffälligen kleineren Hügel zwischen zwei rundlichen, sich in in die Länge ausbreitenden Kämme, die beiden verschwindend irgendwo dann, sich parallel ziehend, in der unendlichen Tiefe. Die Lage war zwar wegen der kleinen Höhe nicht gerade für einen Aussichtsturm prädestiniert, aber es hatte einen tieferen, zuerst nicht beabsichtigten Sinn: gleich hinter dem Turm öffnete sich im Dunkel eine drohende tiefe Schlucht. So diente der Turm zugleich auch als Leuchtturm, dessen Licht brauchten meine Klienten - die Blinden und die Behinderten - natürlich nicht so sehr, wie eher bräuchten sie eine Art Behinderung, eine Art Barriere, wegen ihrer eventuell unbedachten Schritte.
Die Gefahr des Versinkens in dem Abgrund war auch deswegen gross weil die ganze Atmosphäre wirkte direkt einladend, anziehend, um weiter in die Umgebung zu tauchen, diese zu erforschen, zu prüfen, geniessen und voll auskosten. Sogar für die für gute Duft empfindliche Besucher stieg manchmal ein süsser verlockender Geruch aus der Kluft zwischen den beiden Bergkämmen. Sensitive Besucher berichtete manchmal von Gefühlen von seit langem nicht empfangener Geborgenheit, die auf das Pränatale, das längst Vergessene, grenzte. Alle Besucher ausnahmslos verspüren das Bedürfnis die Sicht zu ertasten, so wie es die, für welche dieser spezielle Aussichtsturm eigentlich geplant war, machen mussten, weil sonst hätten sie kaum etwas “sehen” können. So haben es praktisch alle Leute diesen eigenen Genossen nachmachen wollen. Manchmal bekam der objektive Beobachter den Eindruck, Zeuge einer Massenextase zu sein. Das Geschehen bei dem Geniessen der Sicht bekam zuweilen fast religiösen Anstrich. Die Geräuschkulisse erinnerte an Chorgesänge irgendeiner orientaler Kirche. Man glaubte hören zu können einzelne Wörter des Lobes, wie wie “schön, wie lieb, wie entzückend, super, sehr, kaum zu aushalten, nicht zu fassen” und soweit. Heute betrachtet muss man sagen, dass mit so einem Erfolg, mit so großem Andrang, hat niemand gerechnet, hat auch niemand voraussehen können.
Einige sportliche Besucher, besonders die, der hohen Kunst des Bergkletterns eingeweiht, konnte es nicht auf sich ruhen lassen. MIt der Zeit versuchte das der Eine oder der Nächste, hinter den Aussichtsturm, trotz Warnung vor der Gefahr, des steilen Abhangs vorzustossen. Selten wurden diese Draufgänger wiedergekehrt gesehen. Wenn, dann meistens sehr erschöpft und nass, was seltsam anmutete, da dieses Hochplateau kaum Regen kannte, Bäche hat man keine und Wasserquellen hat es etwa nur zwei-drei Stücke. Man vermutete, dass diese Wagehälse sich entweder in dem wilden Gebüsch, gleich nach dem Turm, dort, bei dem Anfang der Gefälle, verfangen hatten, oder dann wegen der eigenen Körper Nässe,
wie des Saftes aus Schweiss ausgeschwitzt wegen der Anstrengung, der fast vergeblichen Mühe zurück zu gelangen, oder gar wegen der Tränen der Begeisterung, oder eher Tränen der Angst, auf den glitschigen Felsen, falls da je irgendeine Felsen zu finden wären, ausgerutscht und in die Tiefe der Schlucht abgestürzt sind.
Diese Vorfälle - der durch immer mehr zahlreichen mysteriösen Verschwinden der vor allem jüngeren Touristen - führten schlussendlich zur Schließung des Turmes. Der originelle, innovative und wohl einzigartige Aussichtsturm der Welt wurde sozusagen über Nacht klammheimlich zerlegt, die Bauteile deponiert an unbekannten oder geheim gehalten Stellen und von der lebhaften Attraktion blieb nur der einsame Hügel, verlassen als stummer Zeuge der früheren beinahe orgiastischen Freuden, auf ewige Zeiten stehend, wie Lorelei selbst, an der Verzweigung der zwei majestätischen Bergkämmen, oberhalb der süssen, verlockender, anziehender Schlucht…