Spiegelei

Glosse

von  Quoth

So sehr ich Freud schätze, aber er hat, wie sich hier jüngst an der Diskussion zeigte, dem wunderschönen Mythos von Narzissos einen Bärendienst erwiesen, als er ihn zu einem Diagnosebegriff für eine seelische Fehlentwicklung ausbaute (Narzissmus), der als solcher eigentlich neutral und medizinisch ist, aber längst zum Kampfbegriff gegen missliebige, vermeintlich zu egozentrische Zeitgenossen geworden ist. Dieses Schicksal teilt er mit anderen Begriffen der Psychologie: Wer „Frieden schaffen mittels Waffen“ sagt, wird leicht schon mal als schizo (schizophren) bezeichnet, als ich meine alte Mutter oft besuchte, wurde mir vorgeworfen, ich pflegte meinen Ödipus (Ödipuskomplex), wenn ich mich vor Wlan- und Bluetooth-Strahlen fürchtete, wurde ich als paranoid bezeichnet, auch die orale oder anale Phase wurde mir bei passender oder unpassender Gelegenheit  schon um die Ohren gehauen, gar nicht zu reden von sadistischen und masochistischen Neigungen. Diese Bedeutungsverschlechterung (Pejorisation), Umwandlung psychologischer Diagnose-Begriffe nahezu in Beschimpfungen ist ein Trauerspiel, auch dann, wenn Schüler einander herabsetzend mit „Du bist doch behindert!“ verunglimpfen, und hat ihren Gipfel, wenn selbst das edle Mitleid sich in Verachtung wandelt: „Du tust mir leid!“, heißt dann „Du armer Schwachkopf!“ – oder Schlimmeres.


Holen wir uns als Autoren den Narzissos zurück. Für mich ist er der Künstler, der seine eigene Identität und Geprägtheit zum Maßstab und zur Kraftquelle seines Schaffens macht. Beim Egoismus geht es um Haben und Beherrschen, Narziss aber will sein, bewundern und sich sehnen nach dem andern, in dem er sich selbst findet. Für mich ist es auch kein Zufall, dass einige der größten Künstler dem eigenen Geschlecht zugeneigt waren (Leonardo, Michelangelo, Winckelmann, Marcel Proust, Thomas Mann, Pasolini, Rainer Werner Fassbinder). Aus des Narzissos Blut soll ja die Narzisse gewachsen sein, und meine Frau bezeichnet eine bestimmte Art von Narzissen treffend als „Spiegelei-Narzissen“ …



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (27.06.23, 07:31)
Statt "gern gelesen"
nach dem Besuch mit dem volkseigenen Taschenspiegel gewunken. :)

 Quoth meinte dazu am 27.06.23 um 12:11:
Tummeln wir uns hier nicht in einem einzigen Spiegelkabinett? Danke für Empfehlung mit Kommentar! Quoth

 FrankReich (27.06.23, 12:43)
Im ICD-11 Schlüssel wurde jetzt sowieso von der Bezeichnung des Krankheitsbildes als Narzisstische Persönlichkeitsstörung Abstand genommen, was allerdings das Problem, Bezeichnungen psychischer Erkrankungen als Kampfbegriff zu missbrauchen und dadurch die Stigmatisierung tatsächlich Betroffener noch zu erhöhen, keinesfalls löst, zudem ändert das auch nichts an der psychischen Erkrankung, die nahezu immer, aber von Außenstehenden so gut wie nicht zu erkennen, mit einem enorm hohen Leidensdruck verbunden ist, als sei es nicht schon schlimm genug, dass Diagnosen aus dem "soziopathischen" Bereich als chronisch gehandelt werden, während bei einer überstandenen Krebserkrankung relativ zügig der Zusatz G (gesichert) durch n. Z. (nach Zustand) ausgetauscht wird, scheuen sich die meisten Psychiater vor diesem Schritt, was zwar in vielen Fällen nachvollziehbar ist, aber das Beispiel John Nash hat glasklar gezeigt, dass z. B. die paranoide Schizophrenie durchaus heilbar ist.

Ciao, Frank

 Dieter_Rotmund (07.07.23, 13:00)
Deine eínfache Formel schwul = künstlerisches Genie scheint mir doch sehr fragwürdig.

Flüssig geschrieben, aber etwas leblos.

 Quoth antwortete darauf am 10.08.23 um 17:44:
Diese Formel habe ich nicht aufgestellt, nur von "kein Zufall" gesprochen.
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