Zur Sprache und Konstruktion von Wirklichkeit

Text zum Thema Sprache/ Sprachen

von  SoilentPink87



Es ist verführerisch einfach, unsere unmittelbare Erfahrung der Welt nicht weiter zu hinterfragen: Die Dinge existieren außerhalb von uns und wir spiegeln sie in unserem Gehirn wider. Mit dieser scheinbaren Gewissheit sollten wir uns jedoch nicht zufriedengeben. Wir sollten stattdessen untersuchen, wie unsere Erkenntnis der Welt tatsächlich funktioniert. Diese Reflexion, durch die wir uns selbst zu erforschen versuchen, ist in der westlichen Kultur verpönt – doch ist das Nichtwissen über uns selbst nicht viel verwerflicher?


Wenn wir uns mit den biologischen Grundlagen unserer Erkenntnis auseinandersetzen, sehen wir, dass die Phänomene, wie wir sie erkennen, nicht wirklich außerhalb von uns existieren, sondern dass wir sie durch unsere spezifische Art des Erkennens erst zu dem machen, als was sie uns erscheinen. Die Welt zu erkennen, bedeutet also vor allem, die Welt hervorzubringen, zu konstruieren. Man könnte sagen: „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist ein Tun.“ Auch ein Buch, das helfen will, das Erkennen zu erkennen, ist ein solches Tun. Es findet, wie alle Reflexion, in der Sprache statt. Die Sprache macht unser spezifisches menschliches Sein aus, deshalb gilt ein zweiter Satz: 

„Alles Gesagte ist von jemandem gesagt.“


In den zeitgenössischen Wissenschaften rückt das Problem der Sprache immer stärker ins Zentrum. Gleichzeitig beginnt die Schrift ihren sekundären Charakter gegenüber der Sprache abzulegen. Sie hört auf, bloßes Hilfsmittel zu sein, und beginnt, die Definitionshoheit über die Sprache selbst zu gewinnen. Damit geht eine einflussreiche historische Epoche des Abendlands zu Ende, nämlich die Herrschaft des Logozentrismus. Der Logozentrismus ist ein metaphysisches System, das sich um den griechischen Begriff „lógos“ (Vernunft) dreht, der als Garant für Wahrheit einsteht. Durch den Logos wird die unhinterfragbare, absolut gesicherte Realität der Welt erkannt. Die im Logozentrismus privilegierte Ausdrucksart dieser Erkenntnis ist das gesprochene Wort. Schrift hingegen gilt als rein äußerliches, sekundäres Medium, das die Wahrheit des spontan gesprochenen Wortes lediglich aufbewahrt – und im schlimmsten Fall verzerrt und manipuliert.


Dieses erkenntnistheoretische Muster definiert einerseits die philosophische Tradition der Metaphysik und andererseits die moderne linguistische Vorstellung vom Zeichen. Die Linguistik teilt das Zeichen in den Signifikanten und das Signifikat auf. Der Signifikant ist etwas, das auf ein Ding oder eine Vorstellung verweist – etwa ein Wort. Das Signifikat ist dieses Bezeichnete, also das Ding oder die Vorstellung selbst. Bezüglich der Wahrheit ist der Signifikant immer defizitär, denn er ist nur Verweis, nur Spur. Anwesend, also gesichert und wahr, ist das Sein dagegen nur im Signifikat. Analog dazu gründet die abendländische Metaphysik in Dualismen wie Körper und Geist, Sinnliches und Intelligibles, Natur und Kultur, Mann und Frau, Schwarz und Weiss usw. Dabei steht stets eine Seite eines solchen Dualismus dem Signifikat, dem Sein, näher als die andere und wird daher als besser bewertet als die andere. Es besteht somit ein enger Zusammenhang zwischen der Dominanz logozentrischer Metaphysik im Abendland und einer bestimmten Idee von Sprache und Zeichen.


In de Saussures Schriften kündigt sich eine interessante Umkehrung an: dass sich nämlich die Schrift als Ursprung der Sprache entpuppen könnte. Diese Ahnung klingt in der These an, dass der Wert oder die Bedeutung jedes Zeichens nur aus seiner Differenz zu allen anderen Zeichen bestehe. Davon ausgehend lässt sich ein Begriff von Schrift als Urschrift oder Urspur entwickeln, der die Dekonstruktion des Logozentrismus, der Präsenz und damit des Bewusstseins ermöglicht. Wenn jedes (gegenwärtige) Zeichen seinen Sinn nur aus dem Bezug zu allen anderen (abwesenden) Zeichen erhält, dann ist es eher eine Spur als eine Präsenz. Der Verweis auf Abwesendes, die Differenz oder die Vermittlung ist dann die fundamentalste strukturelle Eigenschaft der Sprache und nicht Anwesenheit und Identität. 


Diese können sich nur auf dem Fundament dieser Urdifferenz bilden, indem sie nach weiteren Identitäten verlangen, die ihnen Sinn geben. Die Kategorien des Logozentrismus sind ein gutes Beispiel, denn sie erhalten nur Sinn durch Gegenteile und Entsprechungen: Körper und Geist, Theorie und Praxis, Schrift und Stimme, Mensch und Natur. Gegeben ist dabei, zum Beispiel, weder der Geist noch der Körper, sondern lediglich die Differenz zwischen beiden. Die Vorstellungen von Geist und Körper hängen voneinander ab und verändern sich permanent. Fundamental ist nur die Differenz zwischen ihnen, die Urspur, die Tatsache, dass keine Entität für sich und durch sich anwesend und signifikant ist, sondern stets nur als Spur von unendlich vielen anderen Zeichen (die selbst Spuren sind) präsent und denkbar wird.


Ein Lautbild und eine Vorstellung ergeben zusammen ein sprachliches Zeichen. Beide Bestandteile sind psychischer Natur. Das Lautbild besteht unabhängig davon, ob es tatsächlich ausgesprochen wird. Der Begriff „Zeichen“ umfasst also eine Kombination aus einem Bezeichneten (Vorstellung) und einem Bezeichnenden (Lautbild). Sprachliche Zeichen haben mehrere bemerkenswerte Eigenschaften: Erstens sind sie beliebig; die gleiche Vorstellung kann mit den unterschiedlichsten Lautbildern verbunden sein – zum Beispiel in verschiedenen Sprachen. Zweitens sind sie linear; sie werden zeitlich in einer Kette angeordnet und stehen nicht, wie Sichtzeichen, gleichzeitig nebeneinander.

Aus der Beliebigkeit folgt nicht, dass man frei wählen kann, welches Wort man (wann und wie ) benutzt – man muss sich an die Regeln seiner Sprachgemeinschaft halten, die über die Epochen vererbt wurden. Damit werden auch Kulturstiftende Machtatrukturen, Hierarchien, Ideologien vererbt. Zugleich ändert sich die Sprache ständig. Sie wird fortgeschrieben. Die Verbindungen zwischen Lautbild und Vorstellung verschieben sich, und dieser Verschiebung sind – weil das Zeichen beliebig ist – kaum Grenzen gesetzt.

Wir nutzen Zeichen, um unser Denken zu ordnen und Vorstellungen voneinander abzugrenzen. Die Sprache verbindet Laute und Vorstellungen zu Einheiten, den Zeichen, und erlaubt damit eine präzise Gliederung. In der Sprache hängt alles von den Beziehungen der Elemente zueinander ab.

Es gibt zwei Arten von Beziehungen: syntagmatische und assoziative. Im ersten Fall reihen sich Wörter aneinander und erhalten durch die vorhergehenden und folgenden ihren Wert oder ihre Geltung. Die Art und Weise, wie Wörter oder Wortbestandteile aneinandergereiht werden, ist durch Regeln festgelegt. Im zweiten Fall ruft ein Wort Assoziationen zu anderen Wörtern hervor, die im geäußerten Satz nicht vorkommen, die aber unser Gedächtnis hinzufügt und Hintergründe erzeugt. 


Damit Sprache institutionelle Tatsachen herstellen kann, muss es eine Übereinkunft über Wörter oder Symbole geben. Man braucht zum Beispiel keine Sprache, um Hunger zu verspüren, aber man braucht sie, um das Gefühl anderen mitzuteilen. Dabei gibt es sprachabhängige und sprachunabhängige Gedanken. Sprachabhängig ist der Gedanke, dass „Ich habe Hunger“ ein deutscher Satz ist. Sprachunabhängig ist das Gefühl des Hungers. Institutionelle Tatsachen sind unter anderem deshalb sprachabhängig, weil einige Gedanken so komplex sind, dass es unmöglich wäre, sie ohne Symbole zu denken. Andere Gedanken, etwa über Punkte in einem Fußballspiel, können ohne kollektive Übereinkunft gar nicht existieren. Ein Mensch kann zwar ohne Sprache wahrnehmen, dass ein Mann mit einem Ball eine Linie übertritt. Die Punkte, die er dadurch erzielt, erschließen sich ihm dadurch aber nicht.


Viele gesellschaftliche Einrichtungen, egal ob Eigentum, Staatsbürgerschaft, Ehe, Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität, Kathedralen, Führerscheine, Regierungen oder Kriege werden durch Sprechakte bzw. schriftliche Verträge geschaffen, die wiederum Menschen, Gebäuden, Objekten usw. bestimmte Funktionen zuweisen. Diese institutionellen Strukturen ermöglichen es uns, etwas zu besitzen, ohne es ständig mit uns herumtragen zu müssen, oder durch die Ehe an eine Person gebunden zu sein, ohne permanent mit ihr zusammen zu sein. Institutionelle Tatsachen funktionieren nur so lange, wie das System der Statusfunktionen und Machtbeziehungen akzeptiert wird. 


Die meisten Menschen sind sich der konstitutiven Regeln ihrer Institutionen – etwa der Sprache, des Eigentums, des Geldes, des Geschlechts, der Ehe usw. – nicht bewusst. Da aber das Unbewusste in der Philosophie nur unzureichend erklärt ist, kann dieses Phänomen als „Hintergrundfähigkeit“ bezeichnet werden. Ein Beispiel hierfür ist unsere Fähigkeit, Sprache kontextuell zu verstehen. Wenn man mir aufträgt, einen Kuchen und das Gras zu schneiden, werde ich nicht mit dem Rasenmäher über den Kuchen und mit dem Kuchenmesser über das Gras herfallen, obwohl der Satz selbst keine Anweisungen enthält, wie ich vorgehen soll. Das sagt mir schlicht meine Kenntnis darüber, wie die Welt funktioniert. Hintergrundfähigkeiten sind für institutionelle Tatsachen entscheidend.

Das Geschlecht ist ein anderes Beispiel: Dessen konstitutive Regeln sind den meisten Menschen unbekannt. Unser Denken ist durch den herrschenden Diskurs von der Binarität des Geschlechts, also der Zweigeschlechtlichkeit geprägt. Unsere Sprache ist durch die männliche oder weibliche Bestimmung des Geschlechts von Substantiven gerastert und zwingt unser Denken in eine binäre Ordnung, hinter die wir nicht zurückkönnen. In dem von Heterosexualität und Fortpflanzung bestimmten juristisch-medizinischen Diskurs ist das Subjekt überhaupt nur als ein männliches oder weibliches denkbar. Die intelligible, also denkbare oder vorstellbare Geschlechtsidentität stellt künstlich eine Kontinuität oder sogar Kausalität zwischen dem anatomischen Geschlecht, der kulturell auferlegten Geschlechtsidentität und dem sexuellen Begehren her. Alle Abweichungen von diesem Muster erscheinen als widernatürlich und nicht denkbar.


In der Nachfolge von Lévi-Strauss und Lacan gehen manche feministische Theoretikerinnen davon aus, dass es eine ursprüngliche libidinöse Vielfalt gibt, die durch die Kultur unserer Gesellschaft, durch die heraus gebildete Sprachmatrix verdrängt wurde. Gayle Rubin etwa behauptet, vor der Verwandlung eines biologisch männlichen oder weiblichen Wesens in einen Mann oder eine Frau seien im Kind alle sexuellen Möglichkeiten angelegt. Nach Julia Kristeva gibt es ein primäres weibliches Prinzip, das durch ein unsere gesamte Kultur und Sprache strukturierendes Ordnungsprinzip verdrängt wurde.

Nicht nur Geschlechtsidentität, auch der Körper mit seiner Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt und in seinen Organe ist eine Illusion, eine von Sprechakten immer wieder aufs neue konstruierte Wirklichkeit, die zum Zweck der Reproduktion gesellschaftlich aufrechterhalten wird. Körper und Geschlecht besitzen keine ontologische Realität, sondern sie sind performativ und werden durch Sprechakte, Körpergesten und Inszenierung erzeugt. Indem die Psychologie etwas Innerliches, Seelisches als Ursache erotischen Begehrens annimmt, verschleiert sie den performativen Ursprung von Geschlechtsidentität.


Unsere Sprache ist wirklich erstaunlich: Sie ist ein Erbstück unserer Vorfahren und doch außerordentlich flexibel. Man kann sie hören, sprechen, aufschreiben, lernen, erweitern. Jeder hat seine eigene Sprache und muss zugleich die der anderen verstehen, um sich in der Gemeinschaft zurechtzufinden. 

Die Sprache kann man mit einer alten Stadt vergleichen, die von Plätzen und verwinkelten Gassen sowie von alten und neuen Häusern aus ganz verschiedenen Zeiten geprägt ist, umgeben von Vororten mit geraden, regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern. Ständig verändert sie sich, neue Stadtteile entstehen, alte sterben ab. Ähnliches geschieht auch in der Sprache.


Wenn wir in der Sprache denken, dann trennen wir nicht zwischen Ausdrucksmittel und Bedeutung. Die Sprache selbst ist das Mittel, das Vehikel unseres Denkens. Denken ist nicht ein Vorgang, den man von der Sprache loslösen kann.




Anmerkung von SoilentPink87:

*Textcollage aus Sätzen folgender Arbeiten:

Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft von Ferdinand de Saussure / Philosophische Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein / Über Sinn und Bedeutung von Gottlob Frege / Sexualität und Wahrheit u. Die Ordnung der Dinge von Michel Focoult / Der Baum der Erkenntnis von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela / Gender Trouble von Judith Butler / Grammatologie von Jacques Derrida / Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit;Zur Ontologie sozialer Tatsachen
von John R. Searle

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (15.08.23, 17:10)
Der Logozentrismus ist ein metaphysisches System, das sich um den griechischen Begriff „lógos“ (Vernunft) dreht, der als Garant für Wahrheit einsteht.
Der nächste Klugscheißer ... oh Mann ...

OM MANI PEME HUNG

Kommentar geändert am 15.08.2023 um 17:13 Uhr

 SoilentPink87 meinte dazu am 17.08.23 um 10:16:
Ich verstehe nicht was du damit zum Ausdruck bringen möchtest aber ich freue mich dass der Text dir immerhin Wert war ein wenig Zeit dafür auf zu wenden ein beleidigendes Werturteil zu hinterlassen. Gerne wieder. 
Es war mir ein inneres Blumenpflücken. 🌸 
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram