Fontane und die Telegraphie (das Internet)

Essay

von  Quoth

In Theodor Fontanes Roman "Der Stechlin" lesend, fand ich die folgende Passage im 3. Kapitel bemerkenswert:

Aber erst um zwölf kam Woldemars Telegramm. Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache, manches wird besser, aber manches wird auch schlechter, und die feinere Sitte leidet nun schon ganz gewiß. Schon die Form, die Abfassung. Kürze soll eine Tugend sein, aber sich kurz fassen, heißt meistens auch, sich grob fassen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort ›Herr‹ ist beispielsweise gar nicht mehr anzutreffen. Ich hatte mal einen Freund, der ganz ernsthaft versicherte: ›Der häßlichste Mops sei der schönste‹; so läßt sich jetzt beinahe sagen: ›Das gröbste Telegramm ist das feinste‹. Wenigstens das in seiner Art vollendetste. Jeder, der wieder eine neue Fünfpfennigersparnis herausdoktert, ist ein Genie.

Mit diesen Worten entschuldigt sich der alte Dubslav von Stechlin für eine etwas zu kurzfristige Einladung. Für mich eine geradezu prophetische Bemerkung zum technischen "Fortschritt" in der Kommunikation - 125 Jahre alt. Aber redet mich jetzt bitte nicht mit "Herr Quoth" an! Hier fehlt typischerweise der Smiley mit dem Zylinder!


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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(23.10.23, 11:23)
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 Quoth meinte dazu am 23.10.23 um 19:15:
Man konnte auch lange Telegramme schreiben. Ich hätte den letzten Satz mit der Fünfpfennigersparnis weglassen sollen. Das lenkt von dem mir Wesentlichen ab. Danke für Empfehlung mit Kommentar.
Taina (39) antwortete darauf am 23.10.23 um 20:38:
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 Graeculus (23.10.23, 13:35)
Dabei kann auch ein Telegramm in all seiner Kürze große Literatur sein. So Samuel Beckett an die Redaktion von The Times, London, vom 31. Dezember 1983:

VORSÄTZE DOPPELPUNKT NULL STOP - HOFFNUNGEN DOPPELPUNKT NULL STOP BECKETT



(Samuel Beckett: Briefe 1966 - 1989 - Was bleibt, wenn die Schreie enden? Berlin 2018, S. 797)
Mondscheinsonate (48) schrieb daraufhin am 23.10.23 um 13:40:
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 Graeculus äußerte darauf am 23.10.23 um 13:57:
Die Times hatte bei einer Reihe von Schriftstellern deren Vorsätze und Erwartungen für das bevorstehende Jahr erfragt; dies war Becketts Antwort. Kürzer kann man es nicht sagen. Allerdings ist es nicht im Sinne von Fontane & Quoth höflich-verbindlich; das muß Literatur auch nicht sein.
kipper (34) ergänzte dazu am 23.10.23 um 14:45:
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kipper (34) meinte dazu am 23.10.23 um 14:45:
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 Graeculus meinte dazu am 23.10.23 um 14:52:
Lapidare Nullbotschaften sollen "Literatur" sein?

Das ist Becketts große Kunst, ja. Am Ende, in seinen spätesten Werken, sagen die Leute gar nichts mehr. Das allerdings sehr eindrucksvoll ("Quadrat I + II").
Mondscheinsonate (48) meinte dazu am 23.10.23 um 14:54:
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 Graeculus meinte dazu am 23.10.23 um 15:09:
Weshalb wir uns auch morgen aufhängen. Es sei denn, daß Godot kommt.

Man muß Kipper darin recht geben, daß die Kunst äußerster sprachlicher Minimierung schon früher in Asien verbreitet war und dort ihren Höhepunkt gefunden hat, allerdings nicht im Haiku, sondern in der "Lotospredigt" des Buddha, in der er kein Wort gesprochen und gerade dadurch Entscheidendes mitgeteilt hat.

(Wie kurios das ist, erkennt man daran, daß von keinem Religionsstifter eine unfangreichere Sammlung von Worten überliefert ist als von Buddha. Der Pali-Kanon fände kaum Platz auf einem kompletten Regalbrett.)

Aber wir, so schlage ich vor, schweigen jetzt.
Mondscheinsonate (48) meinte dazu am 23.10.23 um 15:11:
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Dieter Wal (58) meinte dazu am 23.10.23 um 15:18:
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 AchterZwerg meinte dazu am 23.10.23 um 16:01:
Fontane wird oft unterschätzt, obwohl er einer der wenigen Schriftsteller ist, der starken Frauen ein (schönes)  Gesicht gegeben hat.

Und: Willkommen zurück, Graec!
Es freut mich sehr, im Hintergrund wieder eine kluge Stimme parlieren zu hören. <3
Mondscheinsonate (48) meinte dazu am 23.10.23 um 19:20:
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 Quoth meinte dazu am 23.10.23 um 19:34:
Hallo Graeculus, welcome back. 
Um Literatur, und zudem noch um große, geht es dem alten Dubslav von Stechlin in seinem Beitrag nun überhaupt nicht, sondern allein um das "Leiden der feineren Sitte" in den technisierten Umgangsformen, und die sind nun in der Tat z.B. in den social media so verwildert, dass der Gesetzgeber eingreifen muss, um der Flut von Hass, Beleidigung und Herabsetzung Einhalt zu gebieten. Vielen Dank für Kommentare mit oder ohne Empfehlung, egal!
Dieter Wal (58)
(23.10.23, 15:23)
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 AchterZwerg meinte dazu am 23.10.23 um 16:01:
Metoo, Dieter! <3

 Quoth meinte dazu am 23.10.23 um 19:36:
Da nicht für!

 AchterZwerg (23.10.23, 16:04)
Lieber Quoth,
nix gegen Möpse *hüstel), denk nur mal an das Hündchen von Loriot! ;)
Und über Fontane zu berichten, ist allemal lobenswert.
kipper (34) meinte dazu am 23.10.23 um 19:11:
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 Quoth meinte dazu am 23.10.23 um 19:38:
Hallo AchterZwerg, man muss ihn dann aber auch genau lesen! Gruß Quoth

 EkkehartMittelberg (24.10.23, 10:46)
Hallo Quoth,
man kann die Lakonie von Telegrammen, die alle Floskeln der Höflichkeit überflüssig machen, auch als Erleichterung empfinden.

LG
Ekki

 Quoth meinte dazu am 24.10.23 um 11:21:
Hallo EkkehartM., Glückwunsch zur Genesung!

Ja, kann man, Dubslav v. Stechlin tut es nicht und ahnt in der Entpersönlichung des Kommunikationskontaktes (man schaut einander nicht ins Auge) m.E. eine Entwicklung voraus, die in der heutigen Hassschwemme kulminiert. Natürlich deute ich das in ihn hinein! Auch beim Brief schaute man einander nicht ins Auge, aber in der eigenen Handschrift abgefasst, war er ein Beweismittel. Man könnte auch vom Schwinden der Verantwortung aus der Kommunikation sprechen. Vielen Dank für Deine Empfehlung mit Kommentar! Quoth
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