Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, 13.Mai 1771 – Zen in der Kunst der Juristerei

Brief

von  Elia

„Du fragst, ob Du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte Dich um Gottes Willen, laß sie mir vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst;…“

Lieber Werther,

Du willst die Bücher nicht? Nun ja, verständlich ist das schon. Gerade vor Juraexamen sitzt Du 24/7 über Büchern und lernst Dinge, die Deinem Herzen fern sind. Ich erinnere mich aber an einen Augenblick während meiner Studien. In einer Pause hatte ich das Dachfenster geöffnet und entdeckte auf der Wiese, die sich meinem Blick öffnete, blühendes Gras, das sich unter dem Sommerwind wellte. Seit wann, fragst Du jetzt vielleicht, blüht Gras? Das dachte ich bis zu diesem Augenblick ebenso, doch wirklich, ein überraschend roter Hauch lag auf den erwartbar grünen Halmen.

Ich staunte nicht nur über die botanische Entdeckung, sondern auch darüber, dass ich sie gemacht hatte. Mir wurde mit einem Mal klar, dass ich mich beim Jurastudium zwar permanent zwingen musste, meinen Geist an Strukturen zu binden, die mit mir selbst nicht das Geringste zu tun hatten, dass ich aber gleichzeitig sensibilisiert wurde für die kleinen Wunder, die man sonst schnell übersieht. Der Moment, den Du nur kurz für Dich hast, erhält dadurch einen Wert. Da ich ein Buch über Zen-Meditation gelesen hatte, wurde mir schlagartig klar, dass das Jurastudium eine Form der Zen-Meditation ist, ähnlich wie man es vom Bogenschießen sagt.

Nun weiß ich, dass auch Du spirituell interessiert bist, darum ganz kurz: In der Zen-Meditation verweilt der Geist im Hier und Jetzt und dabei hilft die Konzentration auf einen Gegenstand, der keinen Inhalt hat, zum Beispiel auf den Atem, einen Klang oder einen paradoxen Satz. Das verhindert, dass die Gedanken abschweifen und der Mensch über das Gestern grübelt oder das Morgen vorwegnimmt und so das Leben verpasst, welches aktuell geschieht. Wenn nun gerade etwas durch den Sinn treibt, das einen erfreut oder bedrückt, dann nimmt man es zwar wahr, aber identifiziert sich nicht damit. Wie Boote, die man von der Küste aus auf dem Meer treiben sieht, lässt man Gedanken und Gefühle vorüberziehen. Die Aufmerksamkeit richtet sich so auf’s Hier und Jetzt, sei es spektakulär wie ein brausendes Herz oder "trocken" wie ein juristisches Lehrbuch. Und dafür, Werther, sind Deine Bücher gut. Sie könnten Dich beruhigen.  

Ich habe übrigens nie selbst meditiert. Manchmal habe ich mein eigenes „brausendes Herz“ mit Ausdauersport über den Tag gebracht und das empfehle ich auch Dir. Aber glaube mir, auch langweilige Fachbücher nützen, fordern und fördern sie doch Deinen Geist auf das Verlässlichste.

Nun aber wünschst Du, aus dem Rad Deiner Pflicht auszusteigen und, statt Dich mit Schuld und Strafe, mit Vermögenswerten und Verträgen, mit Ansprüchen und Rechten, mit Verwaltungsvorgaben und Finanzen herumzuschlagen, Deinem Herzen Raum zu geben für Wunder, Träume Freiheit, Liebe, Glück. Ich verstehe diese Sehnsucht. Gewiss hast auch Du ein Recht auf „Urlaub“ oder, was viel schöner klingt, darauf, „die Seele baumeln zu lassen“.

So verzichte ich denn vorerst darauf, Dir Deine Bücher nachzusenden. Es war auch nur ein Angebot. Aber dennoch schwanke ich zwischen Neid und Sorge. Warum?

Das Herz des Menschen braust nicht nur in Dir und es braust auch nicht nur manchmal, es braust immer. Es ist das Schicksal des Herzens, zu brausen. Ich zitiere wieder Augustinus, der es im Gespräch mit seinem Gott so formulierte: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Wirklich, von dem Moment an, in dem wir das Licht der Welt erblicken, sind wir auf der Suche nach der verlorenen Einheit. Nur die Liebe vermag, uns noch für Augenblicke jenen Frieden zu schenken, der uns im Mutterleib umspülte. Danach suchen wir, immer in der Hoffnung, in der begrenzten Zeit, die uns bleibt, zu finden, was uns fühlen lässt: Alles ist gut.

Ich glaube, Werther, das ist, was Dich unruhig macht und ich gestehe, auch ich empfinde so. Während Du als junger Mensch noch alles vor Dir hast und das Tosen Deines Herzens Dich treibt, zu suchen und zu finden, blicke ich zurück und stelle fest, dass ich im Sturm gekentert bin. Ich habe es erlebt, damals, als der Mensch, den ich liebte, mich für Sekunden umklammerte. „Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, Ihnen zu begegnen.“, habe ich ihm gesagt. Aber dann ließ er mich los und wir kamen uns nie mehr nah. Seither braust mein Herz nicht mehr, es liegt darnieder. Die Sehnsucht entleert meine haltlos verrinnende Zeit und liefert mich ans Sterben. So wünschte ich, ich hätte diesen Augenblick nie erlebt, sondern stattdessen über verlässlichen Büchern gesessen. Gewiss hätte mein disziplinierter Geist ab und an eine Pause genutzt, zu genießen: Bild und Duft der Blumen, den Hauch des Sommerwindes, den freundlichen Gruß des alten Menschen auf der Parkbank, das wärmende Sonnenlicht, den Duft von Gras, das Tanzen der Schatten. Aber ach, die Sehnsucht macht mich krank. Hüte also Dich und verachte mir nicht die trockene Juristerei.

Ich werde Deine Bücher einstweilen zum Absenden bereitlegen. Wenn Du sie brauchst, melde Dich. Es dauert höchstens eine Woche, dann erreichen sie Dich.

Mit den friedlichen Wünschen für‘s brausende Herz,

Deine alte Freundin Wilhelmine



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Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (08.06.24, 23:13)
Warum liebe ich diesen Text nur so?❤❤❤❤
Schöne Grüße zwischen dem Hochsehen vom Verfassungsgericht und Theorie!

Kommentar geändert am 08.06.2024 um 23:16 Uhr

 Elia meinte dazu am 09.06.24 um 11:32:
Vielen Dank, ich freue mich, dass Du meinen Text gern gelesen hast.

 Augustus (09.06.24, 14:27)
Goethes juristische promotionsarbeit ist verschollen, sie soll etwa um die 35 Seiten lang sein und ketzerische Züge gegen die katholische Kirche beinhaltet haben, sodass sie nicht als Promotionarbeit akzeptiert wurde. 
Goethe und insbesondere sein Goethes vater wetterten gegen die Verantwortlichen, die nunmehr unter Druck geraten, sich schließlich auf eine Alternative einigten, wie der Sohn doch an den gewünschten Titel/Zulassung als Jurist gelangen könnte.  
Als Anwalt war seine Karriere kurzlebig, von wenig Erfolg gekrönt. Im Herzen war er gar keiner. 
Allein schon die Tatsache, dass er den poetischen Ossian oder den Homer bei sich trug, sagt aus, woran sein Herz hängt. Der Werther als sein alter Ego, ist ein Spiegelbild Goethes junger Seele. 
Bedenkt man, dass Schiller alles dafür tat Goethe gleich zu sein, dann war das nur möglich, in dem er sein ganzes Tun der Dramaturgie widmete. 
Heute können janusköpfige Dichter, Künstler genauso wenig bestehen wie Werther, wenn sie zur gegebenen Situation entsprechend die falsche Seite des Gesichtes drehen.   

Andererseits trat Werther ja als Künstler auf und weniger als Poet. Er verstand sich mehr als der Künstler, der die Natur und das einfache Leben von Bauern zeichnete. Die „verzerrten Originale“ gingen im ab. Sprich; er suchte das Einfache und fand das Komplexe. Die Komplexität steigerte sich letztlich ins Unermessliche.

Ob irgendjemand, also jemand der Werther brieflich entgegen geantwortet hätte, mit Briefen ihn hätten retten können, ist vermutlich zum scheitern verurteilt, da er keine solche Seele kannte. Diese traf der Goethe tatsächlich erst später, die Aufklärung dem brausenden Herzen als Balsam eintröpfelte.

Die Idee auf die Briefe Werthers aus heutiger Sicht zu antworten, ist durchaus interessant.

 Elia antwortete darauf am 09.06.24 um 20:11:
Vielen Dank für Deine Zeit und Deinen Kommentar.
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