Pareo & The Names Project

Kurzgeschichte zum Thema Erfahrung

von  ZwischenZeit

Anders saß auf der Terrasse, die Ruhe wie eine sanfte Decke über ihm ausgebreitet. Der Tag war voller Eindrücke gewesen, und er spürte eine angenehme Erschöpfung, die ihm erlaubte, loszulassen. Vom Meer wehte eine Brise herüber, salzig und frisch, sie streichelte seine Haut, als wolle sie die Anspannung von ihm nehmen, Schicht für Schicht.
Lina war aufgebrochen, um im Hotelshop etwas zu besorgen, das ihr ins Auge gefallen war. Anders wusste, wie sehr sie solche kleinen Entdeckungen liebte, wie sie in diesen Momenten aufblühte. Er konnte sich vorstellen, wie sie bald zurückkehren würde, mit leuchtenden Augen und einem Schatz in den Händen, den sie stolz präsentieren würde.
Das sanfte Rauschen des Meeres bildete die Kulisse für seine Gedanken, die wie Wellen kamen und gingen, ziellos umherziehend in der See. Die Terrasse bot einen ungestörten Blick auf den Ozean, dessen Oberfläche in der Nachmittagssonne glitzerte. Anders ließ sich tiefer in den Stuhl sinken, bereit, die letzten Stunden vor der Eröffnungsfeier in entspanntem Schweigen zu verbringen.

Plötzlich durchbrach Linas Stimme seine Gedanken. „Ist das nicht toll?“ rief sie, als sie mit einem großen Tuch in den Händen zurückkehrte, das im Wind flatterte, seine Farben in der Sonne lebendig.
„Es ist ein Pareo,“ erklärte sie mit einem Lächeln, das Anders sofort in seinen Bann zog. „Die Einheimischen machen daraus einen Wickelrock oder sogar ein ganzes Kleid. Es ist unglaublich vielseitig – zur Not taugt es sogar als Tischdecke für ein Picknick.“ Sie drehte sich spielerisch, das Tuch flatterte wie ein lebendiges Wesen um sie herum. „Gefällt es dir?“ fragte sie, ihre Augen auf ihn gerichtet, erwartungsvoll.
Der Stoff war in viele Quadrate unterteilt, jedes mit Motiven versehen, die die Essenz der Bahamas einfingen. Fische, Muscheln, Früchte – alle in leuchtenden, lebhaften Farben. Der Pareo war ein Kunstwerk, das die Lebendigkeit und Vielfalt der Inselwelt zum Ausdruck brachte.

Anders ließ seinen Blick über das Meer schweifen, doch die Worte wollten nicht so recht kommen. Das Bild des Tuches, das im Wind flatterte, rief in ihm eine Erinnerung hervor, tief vergraben, aber nun unaufhaltsam an die Oberfläche drängend.
„Weißt du, Lina,“ begann er, seine Stimme ruhig, aber mit einem Unterton, der auf etwas Tieferes hindeutete, „dieses Tuch… es ruft etwas in mir wach, das ich vor Jahren in San Francisco erlebt habe. Damals besuchte ich The Names Project. Eine Organisation, die Quilts herstellt – jeder Quilt ein Denkmal für jemanden, der an AIDS gestorben ist.“
Lina setzte sich neben ihn, ihre Augen auf ihn gerichtet, aufmerksam und voller Mitgefühl, während er weitersprach.
„Ich erinnere mich daran, wie ich in diesem Raum stand, umgeben von Frauen, die mit einer Hingabe arbeiteten, die ich nur selten erlebt habe. Jeder Stich, jede Naht trug die Last von Schmerz, Trauer, aber auch von Liebe und Erinnerung. Es war, als würden diese Frauen die Seelen ihrer Verstorbenen in den Stoff einweben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Es war… tief berührend, fast unerträglich, in seiner intimen Intensität.“
Er hielt inne, suchte nach Worten, die das Unsagbare beschreiben konnten. „Dieser Pareo, den du hältst, erinnert mich daran. Jedes Quadrat, jedes Motiv – es ist wie ein Fragment eines Lebens, das nicht verloren gehen darf. So wie die Quilts in San Francisco. Es ist mehr als nur ein Tuch, es ist ein Stück Geschichte, ein Geflecht von Erinnerungen.“ 


Lina sah ihn an, und ihr Griff um das Tuch wurde fester, als ob sie damit die Tiefe seiner Worte begreifen wollte. „Das klingt so intensiv,“ flüsterte sie. „Ich hätte nie gedacht, dass ein einfaches Stück Stoff so viel Bedeutung haben könnte.“
Anders seufzte tief, seine Augen wurden glasig, als die Erinnerungen an all die Freunde, die er an AIDS verloren hatte, in ihm hochkamen. „Manchmal ist es schwer, all die Verluste zu verarbeiten,“ murmelte er, die Traurigkeit schwer auf seinen Schultern lastend.
Lina bemerkte den plötzlichen Wandel in seinem Ausdruck und legte sanft ihre Hand auf seine. Sie spürte die Trauer, die ihn umgab, und ihr Griff wurde fester, als wolle sie ihm damit Kraft geben. „Anders,“ sagte sie leise, „ich kann verstehen, warum dich diese Geschichte so berührt.“

Er nickte, doch die Tränen, die in seinen Augen glitzerten, ließen ihn verstummen. Schließlich brachte er hervor: „Es ist nur… ich vermisse sie so sehr, Lina. Jedes Mal, wenn ich an diese Quilts denke, sehe ich ihre Gesichter vor mir. Es ist, als ob sie alle wieder lebendig werden, nur um mir dann erneut genommen zu werden.“
Lina zog ihn sanft in ihre Arme, und Anders ließ es geschehen, dankbar für den Trost, den sie ihm bot. „Es ist in Ordnung, sie zu vermissen,“ flüsterte sie, während sie ihm sanft über den Rücken strich. „Ihre Erinnerungen leben in dir weiter, Anders. Und sie sind stolz auf dich, weil du ihre Geschichten bewahrst.“
Anders schloss die Augen und ließ sich von Linas Worten beruhigen. Die Traurigkeit blieb, aber in ihrer Umarmung fand er einen Funken Trost. Die Last der Erinnerungen fühlte sich plötzlich leichter an, und in diesem Moment wusste er, dass er nicht alleine war.



Anmerkung von ZwischenZeit:

 The Names Project

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