Mahler #5

Kurzgeschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  ZwischenZeit

Mein Vater, ein Mann der alten Schule, orthodox bis ins Mark, hielt wenig von den leichten Dingen des Lebens. Seine Welt war streng, geordnet, von Prinzipien durchzogen, die ich als Kind nicht begreifen konnte. Aber es gab eine Ausnahme, eine einzige: Mahler.

Es war nicht so, dass Musik in unserem Haus einen großen Platz eingenommen hätte. Klassische Musik war für mich lange Zeit nur ein Begriff, ein leeres Wort, dem ich keine Bedeutung zuschreiben konnte. Doch eines Tages, ich war vielleicht sieben Jahre alt, legte mein Vater eine Kassette ein. Mahler, die Fünfte. Und auf einmal veränderte sich der Raum, die Luft, alles. Es war, als hätte jemand die Schwerkraft verändert, als würde alles um mich herum plötzlich eine Bedeutung bekommen, die es vorher nicht hatte.

Mein Vater setzte sich in seinen Sessel, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Die Musik füllte den Raum, und ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, den Moment zu zerstören. Es war, als wäre ich plötzlich Teil von etwas Größerem, als hätte ich einen Schritt in eine Welt getan, die bis dahin nur ihm gehört hatte. Die Melodien schienen eine Sprache zu sprechen, die ich nicht verstand, die aber dennoch in mir widerhallte.

Monatelang, vielleicht jahrelang, war diese Kassette sein ständiger Begleiter. Ich sah ihm oft dabei zu, wie er einfach nur da saß und hörte. Ich konnte nicht verstehen, warum er so versunken war, warum ihn diese Musik so in ihren Bann zog. Und dann, eines Morgens, war es vorbei.

„Warum hörst du sie nicht mehr?“ fragte ich, in der Unschuld meines Kindesalters. Er sah mich an, mit einem Blick, der gleichzeitig wehmütig und entschlossen war. „Ich habe sie gelöscht“, sagte er, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

„Aber warum?“ drängte ich, unfähig zu begreifen, wie man auf so etwas Schönes verzichten konnte.

„Man muss wissen, wann es genug ist“, antwortete er. „Mahler hat alles gesagt, was gesagt werden musste. Mehr zu hören, wäre ein Ertrinken.“

Diese Worte verfolgten mich. Wie konnte etwas, das so schön war, zu viel werden? Warum musste man aufhören, bevor man in der Schönheit ertrank? Aber ich verstand, dass es in seiner Welt keine halben Sachen gab, keine Kompromisse. Er wollte die Dinge in ihrer reinsten Form bewahren, bevor sie an Bedeutung verloren.

Viele Jahre später, als mein Vater längst nicht mehr unter uns war, stieß ich auf die alte Kassette. Sie lag verstaubt in einer Schublade, vergessen zwischen anderen Relikten aus der Vergangenheit. Ich zögerte lange, bevor ich sie einlegte. Die Melodien erfüllten den Raum, genauso intensiv wie damals. Ich hörte zu und begriff: Mein Vater hatte sich nicht von der Musik abgewandt, weil sie ihm nichts mehr bedeutete. Im Gegenteil, sie bedeutete ihm zu viel.

Es war nicht das Ertrinken, das er fürchtete. Es war die Idee, dass etwas so Schönes durch Gewöhnung seine Macht verlieren könnte. Er wollte es rein, unberührt lassen, in der Erinnerung, wo es immer perfekt sein würde. Und ich verstand, dass in dieser Entscheidung mehr Liebe und Respekt steckte, als ich je zuvor erkannt hatte.

So blieb Mahler für mich eine Brücke in eine andere Welt, in die Welt meines Vaters, die ich erst nach und nach begreifen lernte. Eine Welt, in der man die schönsten Dinge manchmal loslassen muss, um sie in ihrer reinsten Form zu bewahren.


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