Letzte Begegnung über den Dächern der Stadt

Kurzgeschichte zum Thema Abschied

von  ZwischenZeit

Der winzige Aufzug im Grindelhochhaus summte leise, als Anders ihn betrat, ein schmaler Raum, der kaum genug Platz für zwei Personen bot, die bereit waren, ihre persönliche Distanz für die Dauer der Fahrt aufzugeben. Diese Hochhäuser, Relikte der Nachkriegszeit, ragten wie stumme Zeugen über den Bezirk Eimsbüttel, umgeben von den Geschichten von Zerstörung und Wiederaufbau, die in ihren Wänden und Fluren schlummerten.

Als Anders im obersten Stockwerk ankam und die metallene Tür sich öffnete, erwartete ihn Detlev bereits. Sein Anblick ließ Anders für einen Moment innehalten. Detlevs Gesicht war von einer krankhaften Blässe gezeichnet, die das fahle Licht des Flurs nur noch deutlicher hervorhob. Als sie sich begrüßten, klang Detlevs Stimme dünn und brüchig, als ob sie jeden Moment brechen könnte.

Draußen, durch die Wände hindurch, drang das röhrende Geräusch eines Achtzylinder-Motors in den Flur. Detlev, ein Lächeln auf den Lippen, trotz seiner sichtlichen Erschöpfung, nickte in Richtung des Fensters. „Das ist der TV-Koch in seinem weißen Ford Mustang. Jeden Nachmittag fährt er in sein Restaurant auf der Schanze, um ahnungslosen Touristen seine überteuerte Currywurst zu braten.“
Anders konnte nicht anders als zu lächeln. Detlevs trockener Humor war unverändert, eine unerschütterliche Konstante in der sich verändernden Landschaft seines Krankheitsverlaufs. In diesem kleinen, geschichtsträchtigen Winkel Hamburgs, umgeben von den stummen Zeugen der Stadt, fand Anders einen bitteren Trost in der Normalität des Alltags, der draußen weiterhin pulsierte, unberührt von den persönlichen Dramen, die sich hinter anonymen Mauern abspielten.

Sie setzten sich nebeneinander auf die breite Fensterbank im Wohnzimmer, deren Kälte durch das dünne Kissen kaum gemildert wurde. Das Panorama, das sich ihnen bot, war ein lebendiges Gemälde von Hamburgs Herz. Das Rathaus stand majestätisch in der Ferne, flankiert vom Michel und der lebhaften Szenerie des Hafens, wo die Schiffe wie kleine Spielzeugboote auf dem glitzernden Wasser tanzten.
Detlev, der die Aussicht mit einem resignierten Seufzer betrachtete, wandte sich schließlich an Anders. „Barbara will nicht, dass ich weiter rauche.“ Seine Stimme trug einen Hauch von Trotz und Müdigkeit zugleich. „Hast du zufällig Zigaretten dabei?“ fragte er dann, fast als wäre es eine Herausforderung.
Anders zögerte einen Moment, bevor er schließlich eine Packung Camel ohne Filter hervorzog, ein Relikt einer anderen Zeit, ein süßes Gift, das sie beide schon zu lange kannten. Sie zündeten sich jeweils eine an und bliesen den Rauch vorsichtig in die kühle Abendluft, die durch das leicht geöffnete Fenster strich.
Gemeinsam verloren sie sich in der Betrachtung der Stadt. Der Rauch ihrer Zigaretten vermischte sich und zog wie dünne Nebelschleier vor dem Hintergrund der Stadt dahin. Es war ein Moment der Kameradschaft, in dem die Last der Welt draußen blieb und nur der atemberaubende Blick und das leise Knistern des brennenden Tabaks zwischen ihnen lag. Die Stadt unter ihnen pulsierte mit Leben und Lichtern, und doch schien die Welt hier oben, in dieser kleinen Zuflucht, still zu stehen.

„Detlev, du siehst nicht gut aus“, sagte Anders schließlich mit besorgter Stimme. „Was ist passiert?“
„Ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht“, antwortete Detlev leise, seine Augen fest auf den Horizont gerichtet. „Dr. Brinkstell aus der HIV-Schwerpunktpraxis hat mich überredet, eine Therapie mit AZT auszuprobieren. Seitdem geht es mir von Tag zu Tag schlechter. Ein Assistenzarzt von Dr. Brinkstell hat mir dann eines Tages im Vertrauen erzählt, dass sie hier die Patienten mit diesem hochdosierten AZT vergiften würden. Ich habe die Therapie natürlich sofort abgebrochen, aber mein Zustand hat sich seitdem nicht mehr verbessert.“
Anders hörte ihm aufmerksam zu, während die Schatten des Abends langsam das Zimmer erfüllten. Detlevs Bericht legte eine schwere Sorge zwischen sie, eine unausgesprochene Angst, die beide teilten. Die Zigarette in Anders’ Hand brannte unbeachtet weiter, die Asche fiel leise auf das schmale Fensterbrett.

„Detlev, das klingt ernst“, murmelte Anders, seine Stimme durchsetzt mit einer Mischung aus Sorge und Unglauben. „Warum hat Brinkstell euch das nicht erklärt? Das ist doch…“
Detlev zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Anders. Vielleicht war es Verzweiflung, vielleicht Gier nach Ergebnissen. Dieser Assistenzarzt, er sah aus, als hätte er die ganze Welt auf seinen Schultern. Er sagte, sie würden Druck bekommen, schnell Ergebnisse zu liefern, koste es, was es wolle.“
Anders setzte sich aufrechter hin, seine Augen fixierten einen unsichtbaren Punkt in der Ferne. „Und jetzt, Detlev? Was wirst du tun?“
„Ich weiß es nicht“, gestand Detlev mit brüchiger Stimme. „Ich fühle mich, als wäre ich in einer Sackgasse. Abgeschnitten von jeder Hoffnung, die ich mal hatte. Barbara weiß das noch nicht. Ich kann es ihr nicht sagen, nicht jetzt.“

Die Zigaretten glimmten in der Dämmerung wie letzte Glut eines erlöschenden Feuers. Draußen auf der Straße war das Dröhnen des Achtzylinders längst verklungen, zurückgelassen in der Kühle der Nacht. Der Duft des Rauchs vermischte sich mit dem Geruch der nahen Elbe, und in diesem Augenblick fühlten sich beide Männer verloren in einer Stadt, die unaufhörlich vor ihren Augen pulsierte und doch so fern schien.
In der Höhe des Hochhausapartments, über den Dächern der belebten Stadt, tauschten Anders und Detlev letzte Worte aus. Der schwere Duft des Tabaks hing zwischen ihnen, eine fragile Brücke über ihre beiderseits beladenen Gedanken. Sie wussten beide, dass dies mehr als nur ein alltäglicher Besuch war, dass die Worte, die sie teilten, mehr Gewicht hatten als die Zigarettenrauchwolken, die sie in die kühle Abendluft ausatmeten.
„Ich habe immer gedacht, wir hätten mehr Zeit, Detlev“, begann Anders, seine Stimme ein leises Zittern im Wind. Detlev nickte, die Linien seines Gesichts im schwindenden Licht wie in Stein gemeißelt. „Ich auch, Anders. Ich auch.“

Die Stadt unter ihnen lag ausgebreitet wie ein lebendiges Gemälde, das Lichtermeer eine ferne Erinnerung an das Leben, das draußen unermüdlich pulsierte. „Erinnerst du dich an unser erstes Treffen hier oben?“, fragte Detlev, ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. „Du hast über die Architektur der Grindelhochhäuser philosophiert, als wären sie alte Freunde von dir.“
Anders lachte leise. „Ja, das habe ich. Und du hast mir deine Theorie über die heilenden Kräfte der Musik erklärt.“ Er zog an seiner Zigarette, der Rauch eine flüchtige Skulptur in der Luft. „Ich habe so viel von dir gelernt, Detlev. Über Mut, über Widerstand, über das Leben selbst.“
„Und ich von dir, Anders.“ Detlevs Stimme war schwach, aber seine Augen glänzten mit einer Intensität, die alles sagte. „Du hast mir gezeigt, wie man trotz allem weitermacht. Wie man kämpft, auch wenn die Chancen gegen einen stehen.“
Die beiden Männer sahen sich an, ein Einverständnis zwischen ihnen. Sie teilten eine Geschichte, geprägt von Kampf und Kameradschaft, und jetzt, an diesem Abend, ein letztes Mal das Gefühl, verstanden zu werden, ohne Worte aussprechen zu müssen.

„Pass auf dich auf, mein Freund“, sagte Detlev schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Und pass auf die anderen auf, so wie du es immer getan hast.“
Anders nickte, unfähig zu sprechen, die Emotionen eng in seiner Kehle. Er half Detlev, sich hinzulegen, deckte ihn mit einer dünnen Decke zu, die Rolle des Beschützers spielend. Dann stand er auf, blickte ein letztes Mal auf Detlevs ruhendes Gesicht und ging leise hinaus in die kühle Nacht.

Die Luft im Fahrstuhl roch alt und verbraucht, als Anders auf die Taste für das Erdgeschoss drückte. Der Motor summte leise, fast zärtlich. Anders stand da, starrte auf die sich langsam ändernden Zahlen über der Tür und versuchte, die Bedeutung des Gesprächs mit Detlev abzuschütteln. Jedes Stockwerk schien ihm wie ein Schritt weiter weg von der dunklen Offenbarung oben in der Wohnung.

Als die Türen sich öffneten, traf ihn die kühle Abendluft wie ein Weckruf. Die Straßen von Hamburg waren belebt, Menschen hasteten vorbei, gefangen in ihren eigenen kleinen Dramen und Freuden. Anders spürte, wie die Stadt um ihn herum pulsierte, unberührt von dem Schmerz und der Verzweiflung, die gerade in einem der Grindelhochhäuser ihren Höhepunkt erreicht hatten.
Während er die Straße entlangging, war ihm nicht bewusst, dass er Detlev zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Irgendetwas an diesem Nachmittag hatte sich endgültig angefühlt, wie der letzte Akkord eines langen, traurigen Liedes. Doch das wahre Ende sollte er erst später erfahren. In diesem Moment war es nur eine unterbewusste Ahnung, die sich wie ein kühler Schatten in sein Bewusstsein schlich.
Die Stadt zog an ihm vorbei in einem Fluss aus Lichtern und Schatten, und Anders fühlte sich verloren in einem Netz aus Möglichkeiten und Endlichkeiten. Die Welt schien gleichzeitig riesig und erdrückend klein, als er den Heimweg antrat, nicht wissend, dass er gerade einen Abschied hinter sich gelassen hatte, der alles verändern würde.


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Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (27.08.24, 13:10)
Willkommen. Zur Textarbeit:

lang Detlevs Stimme dünn und brüchig, als ob sie jeden Moment brechen könnte.
Entweder nur: die Stimme war dünn und brüchig (brüchig impliziert, dass sie brechen könnte) oder Detlevs Stimme war dünn, hörte sich an, als ob sie jeden Moment brechen könnte.


Ist das ein Teil aus einer längeren Erzählung? 

Mir gefällt das. 
LG MSS

 Traumreisende meinte dazu am 27.08.24 um 13:18:
Dein Anders gefällt mir in seiner stillen Art, hab beide Texte gelesen, auch den mit Hella.
Anders ist ein Beobachter, manchmal wie ein Schwamm der aufsaugt. Er selbst bleibt fast anonym. Geschichten von Anders und Nichtandersein.....

 ZwischenZeit antwortete darauf am 27.08.24 um 13:27:
Vielen Dank für die Anmerkungen.

Diese Geschichte ist Teil eines autobiographischen Romans. Leider habe ich noch niemand gefunden, der Korrektur liest. Das ist notwendig, wie man bei Bemerkung von Mondscheinsonate sieht.

Der Roman hat aber schon eine eigene  Webseite.

Antwort geändert am 27.08.2024 um 13:27 Uhr

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 27.08.24 um 16:30:
Der Sound ist sehr gut, "notwendig", wegen einem Satz- na, ich weiß nicht. :-D

 ZwischenZeit äußerte darauf am 27.08.24 um 16:45:
Die Geschichte mit Detlev ist Teil eines größeren Werk. Ich bin ganz sicher, dass es etliche Fehler und Unklarheiten gibt.

 FrankReich ergänzte dazu am 27.08.24 um 17:25:
@Mss


Diese Geschichte ist Teil eines autobiographischen Romans.

Sicherlich geht es nicht nur um den einen Satz, sondern die gesamte Gestaltung der Autobiographie, mir richten sich bspw. die Nackenhaare auf, wenn ich mir die klischeehafte Namensgebung näher betrachte: Rainer Anders, Hella von Sinnen, pardon Helgoland und Detlev, ernsthaft? Meiner Ansicht nach wird dadurch der Anspruch einer Autobiographie auf Seriosität ad absurdum geführt, was einerseits gewollt sein kann, andererseits vll. aber auch bedeutet, dass dem Autor die Bedeutung dieser Form von Charakterisierung abgeht, insofern ist sein Schritt, Teile des Romans hier zur Diskussion einzustellen, durchaus begründet und begrüßenswert, da es ihm darum zu gehen scheint, evtl. Schwachstellen aufzudecken, selbst wenn es sich nur um Flüchtigkeits-, Ausdrucks-, oder Grammatikfehler handeln sollte. 👋🙂

 FrankReich meinte dazu am 27.08.24 um 17:34:
P. S.: Pardon, nicht Rainer Anders, sondern Anders Larsson, was die Namenswahl m. E. aber um keinen Deut verbessert. 🤔

 ZwischenZeit meinte dazu am 27.08.24 um 17:35:
Rainer ist  Rainer

Hella ist Hella, schau auf dem  Friedhof Ohlsdorf nach.

Für Detlev dieses:
Meike Petersen „Gedanken an Detlev“ in:
WH Lesemann · 1999 —  „Gegen das Vergessen…“ ab Seite 279


Anders ist  hier.




 FrankReich meinte dazu am 27.08.24 um 18:24:
@ZwischenZeit
Als Satiriker bin ich natürlich am allerwenigsten dagegen gefeit, in Fettnäpfchen zu treten; vll. wäre als Auftakt eine kurze Erläuterung zu den Namen, bzw. Charakteren sinnvoll gewesen, allerdings entschuldige ich mich für meine Pietätlosigkeit, da ich vorher hätte recherchieren müssen.
Letztlich verhält es sich aber doch so, dass Du von Deiner Leserschaft sowohl von der Form her als auch inhaltlich eindeutig verstanden werden möchtest und dieses Anliegen versuchte ich Mss zu verdeutlichen, leider ist mir das völlig misslungen. 👋😂

 ZwischenZeit meinte dazu am 27.08.24 um 18:30:
Der Text über Detlev ist nur ein Auszug eines autobiographischen Romans, aus den Zusammenhang heraus gerissen. Liest man die Geschichte von Anfang bis Ende sind Namen und Orte nicht wichtig, sie dienen als Anker für den Leser. 

Entschuldigung ist angenommen, das Anliegen verstanden, es sind doch nur Worte.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 27.08.24 um 19:05:
Jetzt freute ich mich schon...Ohlsdorf=Th.Bernhard, aber in Österreich

 uwesch (27.08.24, 19:02)
Herzlich willkommen hier bei KV. Ich habe ganz lange in der Nähe der Grindelhäuser (Hermann-Behn-Weg) gewohnt, bevor ich in den Süden nach Waldkirch zog. Dann waren wir ja fast Nachbarn.
Dein Text ist eindrücklich geschildert - Sehr gelungen :) 
LG Uwe

 ZwischenZeit meinte dazu am 27.08.24 um 19:08:
Ich habe in St. Georg gewohnt und war nur zu Besuch am Grindel.
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