Ich verkündige Euch eine große Freude!
Kurzgeschichte zum Thema Weihnachten
von Elia
Wenn man von oben in den kleinen Ort im Sauerland hineinfährt, sieht man rechts die Hügel mit den Fichtenstängeln, die nicht dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen sind. Mit letzter Kraft recken sie sich dem grauen Dezemberhimmel entgegen. Es ist der zweite Adventstag. Unten im Dorf haben sie die Lichterketten aufgehängt und selbst jetzt, um 11.20 Uhr, leuchten sie noch den dunklen und regnerischen Dienstag aus. Es klingelt leise, als sie die Tür des Bäckerladens aufdrückt, in dessen Hinterzimmer sich das Café befindet. „Nutzen wir die Zeit für einen Kaffee?“, hatte sie ihn gefragt und er war gern darauf eingegangen. „Schau mal, gefüllte Streuseltaler!“ Sie weiß, dass er die mag. Für sich selbst entdeckt sie Apfelkuchen mit Mandelsplitter und bestellt ihn mit Sahne, dazu den Streuseltaler für ihn und zwei Pott Kaffee.
Er folgt ihr ins menschenleere Café, wo sie ganz hinten in der Ecke einen Tisch unter dem Fenster, das durch das Fensterkreuz den Blick auf den Marktplatz freigibt, auswählt. Nichts ist draußen los, nur ein einsamer Fahrer entlädt seinen LKW. Mit einem Seufzer lässt sie sich in den türkissamtenen Cocktailsessel fallen und streckt die Beine aus. Er balanciert das Tablett herbei, lädt es ab und setzt sich ebenfalls. „Immer wieder schön hier“, meint er. „Ja, dabei ist es doch gar nichts Besonderes.“ Das stimmt, aber die Wände sind in warmem Gelb gestrichen, die Tische hell, die Farben der Sessel bilden einen leuchtenden Kontrast und zwischen den Fensterchen hängt ein senkrechtes Holzbrett mit der Aufschrift: „Lieblingsplatz“.
Eine Weile widmen sie sich dem Kuchen. „Ich habe mir das mit Weihnachten noch einmal durch den Kopf gehen lassen.“, sagt sie. „Wir können uns das nicht länger leisten, jedes Jahr alle zu beschenken.“ Er runzelt die Stirn. „Jetzt fang nicht wieder davon an. Du weißt doch, Lisa hat extra den Silvesterdienst übernommen, damit sie Weihnachten kommen kann.“ „Kann sein, aber sie ist achtundzwanzig. Ich weiß, sie kommt, weil sie immer wieder denselben „Film“ abspielen will. Aber sie wohnt mit ihrem Freund zusammen, sie hat einen Job, endlich, und jetzt ist es mal Zeit, Abschied zu nehmen von der Kindheit. Ich hab schon mit ihr deshalb gesprochen.“ „Und? Was hat sie gesagt?“ „Gemotzt hat sie, aber ich hab ihr erklärt, dass nicht nur wir, sondern auch ihr Bruder einfach nicht das Geld dafür haben. So richtig gefressen hat sie's nicht. Am liebsten würde ich abhauen, mit Dir irgendwohin fahren. Vielleicht merken sie es dann.“ „Das kannst Du nicht machen.“ „Warum nicht. Unsere Tochter ist achtundzwanzig, unser Sohn ist dreißig und unsere Schwiegertochter guckt den ganzen Abend auf ihr Handy.“ „Ja, aber Lisa hat doch extra ihren Dienst so gelegt, dass es nochmal klappt.“ „Klar, ich sehe ein, dass wir bleiben müssen, aber die Geschenkeschlacht ist vom Tisch.“
„Nicht mal was Kleines?“ Sie legt die Kuchengabel aus der Hand und schaut ihn an. „Das müssen wir nicht mehr versuchen. Das hatten wir schon letztes Jahr. Am Ende hatte ich achthundert Schienen für „Kleinigkeiten“ ausgegeben und dann musste ich zwischen den Jahren auf jeden Cent gucken, um ohne Minus in den Januar zu rutschen. Das ist ein Ping-Pong-Spiel, jedes kleine Geschenk wird mit einem ein wenig Größeren beantwortet und am Ende sind wir wieder da, wo wir vorher waren.“ Sie widmen sich erneut dem Kuchen, beide nicht so recht zufrieden.
Den fülligen Mann mit der seltsamen orangen Weste über dem prominenten Bauch, der unsicher sein Tablett auf den Tisch gegenüber schiebt und stöhnend in einen der gemütlichen Sessel sinkt, bemerken sie kaum, zumal er sofort eine Zeitung vor‘s Gesicht hebt und sich nur noch rührt, um von Zeit zu Zeit nach seiner Tasse zu hangeln.
„Ich hab mir allerdings gedacht, wenn wir den Abend nicht wie sonst mit Geschenkeauspacken tot schlagen, dann müssen wir uns überlegen, was wir stattdessen machen.“, sagt sie. „Und?“ „Wir spielen.“ „Ich weiß nicht, das ist doch nicht so unser Ding.“ „Du meinst, das ist nicht Dein Ding.“ „Ja, ich mach mich einfach nicht gern zum Affen. Weißt Du, ich bin einfach ein zu ernster Mensch.“ „Aber was befürchtest Du?“ „Dass Ihr über mich lacht.“ Sie bemüht sich, nicht ungeduldig zu klingen: „Beim Spielen lacht man nicht über jemanden. Das Lachen gehört zu den Regeln. Es muss gelacht werden, weil das sonst kein Spiel ist. Aber man lacht nicht über die Person. Man lacht, um zu lachen.“ „Kann ja sein, aber ich mache keine Pantomime und ich male auch nichts, wo man dann raten muss, was es ist.“ Sie lächelt. „Aber Charade spielen würdest Du schon, oder?“ „Was ist das nochmal?“ „Da kriegt jeder so ein Stück Kreppband vor die Stirn geklebt und da steht dann drauf, wer er ist. Er weiß nicht, was da draufsteht, muss es aber erraten, indem er Fragen stellt, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden dürfen. Kennst Du doch, ähnlich wie "Wer bin ich" mit Robert Lemke. Dabei kannst Du Dich überhaupt nicht blamieren und es wird wohl niemand auf die Idee kommen, Dir den Namen eines Pornostars – nicht, dass ich jetzt einen kennen würde – auf Deine Stirn zu schreiben.“ Bei dem Wort „Pornostar“ zögert sie einen Moment, denn jetzt fällt ihr wieder ein, dass nur zwei Meter entfernt ein fremder Mann zuhört. „Pornostar, kenne ich auch keinen,“ antwortet er, „außer vielleicht dieser, na, wie hieß sie nochmal, der von Trump. Daniels?“ Einen Moment erinnert sie sich nicht, aber dann schießt es ihr durch den Kopf. „Stormy!“, ruft sie und freut sich über ihr gutes Gedächtnis. „Stormy!“
Hinter der Zeitung gluckst es und der Mann lässt sie sinken. „Entschuldigung, dass ich jetzt lachen muss, aber bei Stormy Daniels konnte ich nicht anders. Trotzdem, ich finde, Sie machen das genau richtig.“, sagt er.
„Ist nicht schlimm, sie dürfen gern lachen.“, sagte sie und ergänzt augenzwinkernd: „Allerdings nur, wenn sie sich dabei nicht vorstellen, wie auf der Stirn meines Mannes der Name „Stormy Daniels“ prangt.“ Nun hat auch ihr Mann vergessen, dass er ein zum Spielen zu ernster Mensch ist, denn auch er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Wissen Sie“, sagt der fremde Mann. „Weihnachten ist immer schwierig. Die Erwartungen sind so hoch und dann sitzt Du am Tisch, links neben Dir jemand, der redet die ganze Zeit und rechts jemand, der redet gar nicht und in der Mitte hockst Du und versuchts, zu vermitteln. In meiner Familie war das immer ein Spießrutenlauf. Mein Vater war Lehrer und alle meine Schwestern sind in seine Fußstapfen getreten. Das ist eine besondere Aufgabe.“
„Meine Frau ist auch Lehrerin.“, sagt ihr Mann „Sie hat gerade eine Springstunde und ich bin schon in Rente. Ich hole sie dann immer kurz aus der Schule ab und fahre sie hinterher wieder hin. Dieses Cafè ist unser Auszeitrefugium.“
Der Fremde nickt und fährt fort: „Na, dann sag ich besser nichts gegen Lehrer. Ich finde aber, Sie machen das genau richtig mit den Geschenken, dass Sie die weglassen, sich aber auch Gedanken machen, wie Sie den Abend schön gestalten können. Meine Familie hatte immer das Problem, dass mein Vater gern Klassik hörte. Wir sollten dann alle den ganzen Abend über seine Musik hören, aber ich war immer viel zu quirlig und dann musste er sich schließlich damit abfinden, dass es die Klassik nur zum Ausklang gab.“ Er schaut nachdenklich aus dem Fenster, spricht dann aber weiter, und sein Redeschwall offenbart, dass das Lehrersein auch bei ihm Spuren hinterlassen hat. So philosophiert er zehn Minuten über Weihnachten, über Familien und erklärt mehrfach, wie gut er findet, was die beiden Zuhörenden planen. Derweil beobachtet die Frau ihn nachdenklich.
Er ist wohl erst knapp unter Vierzig, aber der dicke Bauch ist nicht gesund und das Outfit wirkt ärmlich. Erst hatte sie ihn für einen Arbeitslosen oder Frührentner gehalten, denn wer sonst hat die Muße, an einem Werktag morgens im Café herumzusitzen und Zeitung zu lesen? Ob und wie auch immer er gescheitert sein mag, sein Wortschatz jedenfalls wirkt ausgesucht und klingt, als diktiere er gerade einen Ratgeber für die Suche nach dem perfekten Glück. Allerdings hört sie nach zwei Minuten Monolog nicht mehr richtig zu, sondern fragt sich, ob er das schwarze Schaf der Familie war, ein kleiner, zappeliger Junge, an den Rand gedrückt von superfleißigen großen Schwestern, die heute alle Studienrätinnen sind, derweil der Junge zwar schlau war, aber niemals vom Erfolg verwöhnt und darüber hinaus so einsam, dass er die Gelegenheit der Begegnung mit ihnen nutzen muss, um sich am Klang der eigenen, nur noch selten für Gespräche genutzten Stimme zu erfreuen.
„Entschuldigen Sie, dass ich mich in Ihr Gespräch gemischt habe," beendet er seinen Vortrag, „aber eigentlich wollte ich Ihnen nur sagen, dass Sie alles richtig machen und Weihnachten eine große Freude erleben werden.“
„Darf ich mal raten, was Sie von Beruf sind?“, fragt sie. Gern möchte sie ihm etwas Positives sagen, irgendetwas, was ihn trösten könnte, nur für den Fall, dass er Trost braucht. „Was denken Sie?“, schmunzelt der Mann. „Sie sind Gemeindereferent und ihr Vater war Religionslehrer.“ Er lacht. „Da muss ich Sie enttäuschen. Ich bin Manager und brauchte eine Auszeit. Darum bin ich hier ins Dorf gezogen.“ Sie weiß nicht recht, was sie dazu sagen soll, und kommentiert recht unbeholfen: „Nun, für einen Burnout ist es wohl genau das Richtige.“ Er nimmt es nicht übel. „Wohl, wohl, aber ganz so schlimm ist es noch nicht. Es war eher präventiv. Ich muss mich nun aber entschuldigen. Zum Telefonieren geh ich dort rüber.“ „Nein, das müssen Sie nicht, wir wollten eh gerade gehen.“
Im Auto ruft sie Lisa an. „Hey, Lisa, wir haben eine Bitte. Könntest Du Dir bitte für Heiligabend ein Spiel überlegen? Uns ist gerade im Café ein Mann begegnet, der mitgekriegt hat, wie wir darüber gesprochen haben. Er hat uns bestätigt, dass es eine sehr gute Idee wäre, Heiligabend einen Spieleabend zu veranstalten." "Was für ein Mann?", fragt Lisa. "Es war komisch. Der saß am Nebentisch und hat sich in unser Gespräch gemischt. Es war fast so, als wäre ein verkappter Engel vom Himmel gestiegen, nur um uns kundzutun, dass man mit erwachsenen Kindern mehr Spaß hat, wenn man etwas anderes mit ihnen macht als in der Kindheit." „Weißt Du was?“, sagt ihr Mann, als sie das Gespräch mit der heute seltsam friedlichen Lisa beendet hat, „Das ist dem Engel habe ich auch gedacht.“ „Klar“, sagt sie, „hat er ja selbst gesagt, ein Manager.“