Heiligabend bei Nakomi und Chumani in Kanada

Erzählung zum Thema Weihnachten

von  Saira

Am darauffolgenden Tag waren Nakomi, Chumani und die anderen, in ihrem Stamm lebenden Indianer, eifrig damit beschäftigt, das heilige Fest vorzubereiten.

Um 1615 befanden Missionare, dass die Ureinwohner Amerikas erst durch den christlichen Glauben zu Menschen werden würden. Die meisten Indianer passten den christlichen Glauben weitestgehend ihrem eigenen an. So gab es für sie jedoch weiterhin die magische Beschwörung anstelle der Engelkräfte als spirituelle Energien des Heiligen Geistes und Amulette entsprachen dem Kreuz Christi. Der Rauch aus der Pfeife verehrte eine Gottheit, anstatt des Weihrauchs.

Es hatte die ganze Nacht geschneit und auch jetzt fielen Schneeflocken auf das glitzernde Weiß der Erde. Die Frauen und kleinen Mädchen trugen lange Lederröcke mit Bein- und Fußbekleidung, außerdem Pelz- und Federmäntel. Die Männer wärmten sich mit großen Deckenmänteln aus Wapitileder und fellgefütterten Mokassins. Männer wie Frauen schmückten Hals, Kopf und Kleidung mit Knochen- Muschel- und Perlenketten sowie mit Federn.

 

Chumani lief mit ihrem besten Freund Kuckunniwi, dessen Name „Kleiner Wolf“ bedeutete, an den nahen, zugefrorenen See. Sie bewarfen sich lachend mit Schnee, bis Chumani ausrutschte und Kuckunniwi sich auf sie warf. Beide hatten von der Kälte rote Wangen. „Kuckunniwi, ich warne dich, wehe, du seifst mich ein!“, drohte Chumani ihrem Freund. Dieser sah seine Freundin ernst an, mit seinem Gesicht ganz dicht an ihrem und rief atemlos: „Meine kleine Blume, du bist so schön. Ich werde dich, wenn wir erwachsen sind, zur Frau nehmen.“ „Chumani wurde verlegen, doch auch sie erkannte, dass Kleiner Wolf etwas Besonderes für sie war. „Ich werde mir bis dahin überlegen müssen, ob ich dich zwischen meinen vielen Verehrern auserwählen werde“, antwortete sie mit einem verschmitzten Grinsen. Kuckunniwi blickte seiner Freundin in die Augen und küsste kurz und sehr sanft ihre zarten Lippen. Dann löste er sich von ihr und stand auf. Chumani war rot geworden und schwor sich augenblicklich, ihren Freund für immer zu lieben. Kleiner Wolf half ihr hoch und beide gingen schweigsam zurück zum Camp.

Dort duftete es bereits nach leckerem Essen, das in Keramiktöpfen über den Feuerstellen zubereitet wurde. Im größten Tipi ihres Camps hatten sie eine gemütliche Sitzfläche aus Planen und Fellen geschaffen. In der Mitte brannte ein wärmendes Feuer.

Kleine Blume und Kleiner Wolf saßen mit den anderen zusammen und hielten gefüllte Steinschalen in ihren Händen. Sie waren mit Lauch und Kartoffeln gefüllt. Dazu gab es Fladenbrot und Pfefferminztee. Die Männer tranken zudem Alkohol, den sie aus wilden Pflanzen hergestellt hatten. Es herrschte eine entspannte, friedliche Atmosphäre. Selten gab es so gut und so viel zu essen wie am Heiligen Abend.

Ihr Chief, der Stammeshäuptling Cha'akmongwl, dessen Name „Klagender Häuptling“ bedeutete, schaute in die Runde und sprach eines der zehn Indianergebote: „Bleibt stets in enger Verbindung mit dem Großen Geist, so möge euch sein Schutz stets gewiss sein.“

Chumani betrachtete liebevoll Nakomi, die zu ihrer Linken saß und dann zu Kuckunniwi zu ihrer Rechten. Großmutter Nakomi bemerkte den Blick ihrer Enkeltochter und gedachte der Seelen von Chumanis Eltern, die vor zwei Jahren bei einem schrecklichen Unglück umgekommen waren.

Zum Abschluss wurden noch süße Früchte gereicht. Dann stopfte Cha'akmongwl seine Pfeife mit Pflanzen- und Kräutertabak, steckte sie an und inhalierte tief. Beim Ausstoß des Rauches schloss er die Augen und schickte ein Gebet an den Erschaffer. Dann reichte er die Pfeife an den nächsten männlichen Indianer und dieser tat es dem Chief gleich, bis jeder Indianer das Ritual vollzogen hatte.

Die Kinder waren schon sehr aufgeregt, denn gleich würden sie ihre Geschenke erhalten. Das ganze Camp wurde von einem heiligen Kreis umrahmt. Inmitten der sitzenden Gruppe stand ein großer, handgeflochtener Korb. Im Korb lagen bunte kleine Figuren. Es waren mit Pappmachè umwickelte Tontöpfe. Sie enthielten Süßigkeiten und Früchte. Jedes Kind nahm sich nun, sobald es an die Reihe kam, eine Figur heraus. Dann wurden ihm die Augen verbunden und es erhielt einen Holzlöffel, mit dem es den umwickelten Tontopf zerschlug. Das nannte sich Pinata. Damit erhielten die Menschen im Kreis ihren Segen.

Die Kinder lachten und freuten sich über den Inhalt. Ein weiterer Korb enthielt, von den Erwachsenen liebevoll gearbeitete Geschenke, zum Beispiel indianische Puppen, kleine Flöten, Rasseln und andere Dinge.

Einige unter ihnen begannen, das älteste Weihnachtslied ihres Volkes zu singen. Es war ein Choral aus dem Jahre 1642*(s. Anmerkung). Andere begleiteten den Gesang mit Trommeln und Flöten. Mehrere Männer standen auf und tanzten um das Lagerfeuer. Sie bewegten sich dabei rhythmisch und wie in Trance.

Es war Heiligabend und hier in diesem Kreis waren die Menschen heute sehr glücklich. Sie hatten zu essen, zu trinken und sie waren zusammen, um gemeinsam die Weihnachtsnacht zu feiern.

 

Der Polarstern leuchtete so hell, wie vielleicht noch nie zuvor und zauberte eine Atmosphäre magischer Schönheit. Chumani legte ihre kleine Hand vertrauensvoll in die ihres Freundes Kleiner Wolf. Dann stupste sie Nakomi an und fragte leise: „Wirst du uns heute Nacht von den armen Kindern in Haiti erzählen, wie sie Weihnachten verbringen?“

 

Nakomi antwortete: „Ja, kleine Blume, das werde ich tun.“

Fortsetzung folgt …







Anmerkung von Saira:

Aufgrund von Tainas Interesse stelle ich hiermit noch nachträglich den Link zum Choral ein:

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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(14.12.22, 12:16)
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 Saira meinte dazu am 14.12.22 um 14:14:
Aber ja, liebe Taina :) Hier ist ein Link zu dem Choral:

Taina (39) antwortete darauf am 14.12.22 um 14:25:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Saira schrieb daraufhin am 14.12.22 um 17:36:
Ich danke dir! :) 

Liebe Grüße
Sigrun
Jarina (33)
(15.12.22, 01:40)
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 Saira äußerte darauf am 15.12.22 um 11:39:
Liebe Jarina,
 
was für ein schönes Feedback von dir! Ich freue mich sehr😊.
 
Nein, ich habe so etwas leider nie erlebt, aber ich habe mich vor vielen Jahren intensiv mit der Geschichte der Indianer beschäftigt. Als Kind spielte ich gerne Cowboys und Indianer und identifizierte mich immer mit den Indianern.
 
Herzliche Grüße
Sigrun

 TassoTuwas (15.12.22, 13:38)
Liebe Sigrun,
wer deine Texte regelmäßig liest, weiß mit welcher Hingabe und Anteilnahme du dich den menschlichen Schicksalen oder anderen Lebenswegen widmest.
Auch diese Indianergeschichten sind so hautnah geschrieben, dass man meint, man wäre dabei!
Schön, dass es Fortsetzungen gibt.
Herzliche Grüße
TT

 Saira ergänzte dazu am 15.12.22 um 16:58:
Lieber Tasso,

deine Einschätzung berührt mich sehr! Ich kann mir kein schöneres Lob vorstellen <3 

Es gibt leider nur noch eine Indianergeschichte: "Es ist Heiligabend und Nakomi erzählt von dem Mädchen Angel in Haiti". Ich habe sie heute eingestellt (geschrieben 2010).

Mit herzlichen Grüßen
Sigrun
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