Mum Bev war auch dabei

Reportage zum Thema Lebensweg

von  Citronella

 

Mum Bev war auch dabei. Und sie genoss die Veranstaltung, die sie wohl niemals in ihrem allzu bescheidenen, teilweise katastrophalen Leben vorhergesehen hatte.

Ich hätte diese kleine Person in ihrem etwas unpassenden Outfit (knallrotes Oberteil, schwarze Hose, die Frisur bestimmt nicht von einem Starcoiffeur gestylt) zunächst kaum wahrgenommen, wenn nicht eine der CNN-Reporterinnen gesagt hätte: „The lady in red is J.D. Vance’s Mum“. Viel zu sehr stach der gesamte Trump-Clan in Designer-Kleidung und üppig geföhnten Frisuren hervor, von Melanias Hut ganz zu schweigen. Aber Mum Bev(erly) erlebte zwischen all diesen hochgewachsenen, selbstsicheren und erfolgsverwöhnten Menschen trotzdem den sicher aufregendsten Tag ihres Lebens, von keinerlei Minderwertigkeitskomplexen geplagt. Während der langen Wartezeit im Stehen, bis alle Ehrengäste eingetroffen waren, schaute sie immer wieder interessiert in die Runde, lümmelte kurzfristig mal über einer Stuhllehne und fühlte sich offensichtlich wohl in diesem illustren Kreis.

Als dann kurz vor Ablegung des Eids die Vance-Kinder hereingeführt wurden, wuselte sie sofort um sie herum und verfolgte dann mit ergriffener Miene die Zeremonia. Enthusiastischer Applaus von ihrer Seite folgte. Das Strahlen der bildhübschen Usha Vance, die ihrem Mann zur Seite stand und sichtlich stolz zu ihm aufsah, übertraf allerdings alles Andere.

Warum das alles so bemerkenswert ist? Wenn man J.D. Vance’s bittere Kindheitsgeschichte Hillbilly Elegie gelesen hat, wundert man sich vielleicht ein wenig, wie Mum Bev heute so selbstverständlich und von niemandem schief angesehen ganz einfach dazugehört. Diese Mum, die jahrelang drogenabhängig und mit der Erziehung völlig überfordert war, ihm verschiedene Ziehväter in verschiedenen Haushalten bescherte, hat definitiv nicht viel für sein Fortkommen getan. Dafür sorgten vor allem die Großeltern, später die Navy und seine wundervolle Frau.

Beverly ist seit Jahren clean, und das Verhältnis zwischen ihr und J.D. scheint mittlerweile ein herzliches zu sein. Trotzdem glaube ich, nicht jeder hätte den Mut und die Stärke bewiesen, diese an so einem Tag in diesem Umfeld doch sehr kontrastierende Mutter, deren Geschichte durch die Buchveröffentlichung viele kennen, ganz selbstverständlich zu platzieren.

Ich mag solche Aufsteigergeschichten und bewundere die Stärke, es aus solch deprimierenden Verhältnissen so weit zu bringen. Politische Ansichten sollten in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen.

Die Hillbilly Elegie ist übrigens unbedingt empfehlenswert. Sie bietet gute Einblicke in das arme, abgehängte Amerika. Vance schrieb sie schon 2016, als er politisch noch nicht aktiv war. Damals soll er noch die Demokraten gewählt haben.




Anmerkung von Citronella:

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (24.01.25, 05:11)
gut geschrieben. Forschungen haben ergeben, dass Aufsteiger sich oft gegen niedriger Gestellte gnadenloser benehmen als die, denen die hohe Position in die Wiege gelegt war, so dass sie sich weniger damit identifizieren.

 Citronella meinte dazu am 24.01.25 um 09:35:
Das mag durchaus sein, ich kenne diese Untersuchung nicht.
Interessant finde ich auch die Kombination Trump, der mit dem „Goldenen Löffel“ im Mund geboren wurde, wie immer wieder betont wird, und Vance, der das ganze Elend der amerikanischen Unterschicht miterlebt hat.
Mich hat jedenfalls der Auftritt von „Mum Bev“ bei der Inauguration sehr gerührt, er wirkte auf mich nachhaltiger als das ganze Brimborium rundherum.

 Klemm (25.01.25, 14:00)
Citronella, gefällt dir nur dieses eine Buch aus diesem Genre und was hältst du von anderen Sozio-Memoiren, die europäische Verhältnisse realistisch schildern: Didier Eribon, Edouard Louis, die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder in Deutschland: Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron?

Hier eine Rezension aus der NZZ. Ich habe extra eine ausgesucht, die nicht aus einem linksliberalen Medium stammt.


 https://www.nzz.ch/feuilleton/christian-baron-erzaehlt-ueber-sich-als-kind-der-unterschicht-ld.1539612?reduced=true

Kommentar geändert am 25.01.2025 um 15:15 Uhr

 Citronella antwortete darauf am 25.01.25 um 16:56:
Thema im Kommentar verfehlt, denn in meinem Text geht es im Kern nicht um das Buch, und das weißt du sicher auch.

Aber mach dir mal keine Sorgen um meinen Lesestoff, der ist vielfältiger, als du vielleicht glauben magst. Allerdings lese ich seit Jahren mehr englische als deutsche Bücher, um meine Sprachkenntnisse nach Beendigung des Berufslebens nicht ganz einschlafen zu lassen. 
Einer der beeindruckendsten Romane war im letzten Jahr Demon Copperhead von Barbara Kingsolver. Nicht autobiografisch, aber auch eine verstörende Darstellung der amerikanischen Unterschicht.
Christian Barons Lebensgeschichte habe ich nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Auch beeindruckend.

Das erste deutsche Buch aus diesem Genre, an das ich mich sehr gut erinnere, war übrigens die sehr erfolgreiche Klassenliebe von Karin Struck, 1973. Du wirst es sicher kennen.

 Klemm schrieb daraufhin am 26.01.25 um 12:01:
Ich mache mir keine Sorgen. Ich bin ehrlich interessiert daran, wie weit dein Interesse für Bücher in diesem Genre (egal ob autobiographisch oder Fiktion) geht.
Oben schreibst du
Ich mag solche Aufsteigergeschichten und bewundere die Stärke, es aus solch deprimierenden Verhältnissen so weit zu bringen.
das finde ich durchaus nachvollziehbar. Aber geht es dir da hauptsächlich um das Ende-gut-alles-gut? 


Man kann den Fokus bei der Bearbeitung eines solchen Stoffes ja auf unterschiedliche Aspekte legen, die alle ihre Berechtigung haben.

In Strucks Klassenliebe gibt es kein glückliches Aufatmen darüber, es "geschafft" zu haben, im Gegenteil wird ein ständiger Zugehörigkeitskonflikt dargestellt, der nach wie vor aktuell ist, wenn er auch heute anders diskutiert wird. Das ganze Buch ist Schwanken und Zerrissenheit, auch formell, das macht es interessant. 

Bei Baron finde ich insbesondere das destruktive Schamgefühl des Vaters gut herausgearbeitet, abgesehen vom Alkohol der mächtigste Hinderungsgrund für eine weniger prekäre Existenz der ganzen Familie.

Copperhead habe ich angelesen, aber der umgangssprachliche Stil ging mir schon nach kurzer Zeit auf die Nerven. Das ist nicht als Kritik gemeint, die Wahl des Stils ergibt Sinn, handwerklich ist er gut gemacht, aber einfach nicht mein Geschmack.

Da du auf Englisch lesen willst, kann ich The Glass Castle von Jeanette Walls empfehlen, falls du das nicht schon kennst. Ein ziemlich gut gemachtes Memoir.

Antwort geändert am 26.01.2025 um 12:05 Uhr

 Citronella äußerte darauf am 26.01.25 um 13:40:
Du vermeidest nun zum zweiten Mal, auf die Kernaussage meines Textes einzugehen, aber das hätte für dich bedeutet, etwas Positives über J.D. Vance aussagen zu müssen. Das geht gar nicht, denn du siehst ihn wahrscheinlich weniger als Mensch als den Gehilfen des Teufels. Sei’s drum.
Es wäre wohl eine sehr infantile Herangehensweise an ein Buch, wenn man nur Handlungen mit „Ende gut – alles gut“ lesen würde. Ich lese grundsätzlich gerne komplette Lebensgeschichten, egal aus welchem Milieu und ob autobiografisch oder fiktiv wie Demon Copperhead. Bei manchen ist man halt näher dran als bei anderen.
Schade, dass du mit Copperhead nichts anfangen konntest. Falls du ihn in Deutsch gelesen hast, mag es auch an der Übersetzung gelegen haben. Nach meinem Sprachempfinden klingt ein amerikanischer Slang im Original wesentlich weicher und unterhaltsamer als deutsche Umgangssprache. Und dass der Stil sehr gut zur Handlung passt, hast du ja selbst erkannt.
Jeanette Walls kannte ich nicht. Aber danke für den Tipp!
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