Der Profi

Short Story

von  RoRo

Der Profi

Heutzutage muss man froh sein, wenn man in meinem Job eine dauerhafte Anstellung findet. Die Bedingungen haben sich in den letzten Jahren zwar etwas gebessert, aber trotzdem, man muss schon Dusel haben, einen Vollzeitjob zu ergattern.
Deshalb kann ich von Glück sagen, dass ich Christine getroffen habe.

Um bei der Wahrheit zu bleiben - sie hat m i c h getroffen. Ausgewählt ist der treffendere Ausdruck. Sie hat mich gesehen, gefühlt und sofort in ihr Herz geschlossen.
Ja, ich erinnere mich noch sehr gut an dieses erste Rendezvous. Ich weiß, es klingt in Ihren Ohren vielleicht kitschig, aber was ist kitschig? Für die einen ist  die beleuchtete venezianische Plastikgondel auf dem selbst gehäkelten Deckchen Kitsch. Für andere aber, ist sie ein Andenken an eine schöne Zeit, vielleicht auch nur an einen großen Augenblick in einem ansonsten tristen Alltag.
Und mein erstes Zusammentreffen mit Christine war für mich Liebe auf den ersten Blick – und verdammt noch mal überhaupt nicht kitschig!
Sie nahm mich zu sich nach Hause, und von dieser Stunde an, bin ich die Nummer eins in ihrem Schlafzimmer.

 
Christine ist eine attraktive, gutaussehende, moderne junge Frau. Sie hat einen guten Job bei einer Versicherung. Ein eigenes Auto und ein Drei-Zimmer-Appartement vis-a-vis vom Stadtpark. Im Sommer machen wir gern ausgedehnte Fahrradtouren, und im Winterurlaub ist Langlauf angesagt. An den Wochenenden gehen wir dann  und wann mit Freunden zum Essen, oder ins Kino.
Ja, wir sind rundum glücklich. Oder waren es jedenfalls bis vor kurzem.

Aber dazu gleich. Ja,Christine! Dass sie attraktiv ist, erwähnte ich bereits - ja, und brünett und schlank. Also, schlank, nicht mager, so wie viele in ihrem Alter. Diese armen, fehlgeleiteten jungen Dinger, die sich von einer Mohrrübe und einem Joghurt am Tag ernähren und ihre Klamotten in der Kinderabteilung kaufen. Nein! Bei Christine ist alles wohlproportioniert und genau an der richtigen Stelle!
Und das Tollste - sie hat genau meine Größe: Cup C  - 85.


Da fällt mir ein, ich mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Christines bester Büstenhalter. Cup C – 85. Champagnerfarben. Und ich muss sagen, für Christine zu arbeiten ist das reinste Vergnügen.
Sie trägt mich mit Stolz und Würde. Ohne falsche Bescheidenheit kann ich von mir behaupten, dass ich einer der Besten meiner Zunft bin. Aus hochwertigen Materialien und mit einer erstklassigen Passform. Ohne mich hier über den grünen Klee loben zu wollen, können Sie mir glauben, dass ich in jeder Situation das halten kann, was der Betrachter erwartet. Denn meine Arbeit mache ich immer korrekt, ohne Tricks und doppeltem Boden. Das ist auch einer der Gründe, weshalb Christine und ich so gut miteinander auskommen. Wir verstehen uns blind. Mit mir macht sie immer eine gute Figur. Ich sehe meine Aufgabe darin, sie jederzeit zu unterstützen und auch in kniffligen Situationen stets Haltung zu bewahren. Und das weiß sie auch.
Dekadente Zeiterscheinungen, wie "Push-up" und "Wonderbra" sind nicht unser Niveau. Wir sind ein Team. Einer für alle - alle für einen.

Umso erschütternder waren für mich deshalb jene schrecklichen Szenen, die sich am letzten Wochenende hier in unserer Wohnung abspielten.
Ja, ja, ich weiß, in einer so engen Beziehung, wie sie Christine und ich pflegen, kann es hin und wieder zu Spannungen und Missverständnissen kommen. Doch diese traumatischen Stunden werden mein Leben für immer prägen. Das fühle ich im Innersten meiner Fasern. Aber der Reihe nach.
Es war Samstag. Und es fing eigentlich an, wie an jedem Tag, wenn ich Dienst habe. Nachdem Christine geduscht und gefrühstückt hatte - eine Scheibe Vollkorntoast mit echter Butter und magerem Schinken, danach ein kleiner Teller Müsli mit etwas Milch, dazu ein Glas Orangensaft und zwei Tassen Kaffee - zog sie sich an. Damit begann mein Job!
Mit einem zärtlichen Streicheln begrüßte ich meine beiden Schützlinge, die wie immer himmlisch dufteten und mich mit sanftem Druck voll und ganz ausfüllten. Zum Dank für meine Aufmerksamkeit reckten die beiden für ein paar Minuten ihre vorwitzigen Näschen hart und knospig in meinen Stoff aus 90% feinster Baumwolle und 10% Elasthan. Ein Gefühl, sag ich Ihnen - paradiesisch!
Dann fuhren wir zum Einkaufen in den Supermarkt. Und dort begann das Unheil!

Gerade, als wir unseren Einkaufswagen von der Tiefkühltheke zu den Milchprodukten fahren wollten, knallte doch so ein unvorsichtiger Kerl mit seinem Wagen in unseren. Er entschuldigte sich öfter, als es für meinen Geschmack notwendig gewesen wäre. Durch den dünnen Stoff von Christines wasserblauem
T-Shirt spürte ich, wie die Augen des Typs ständig auf meinen Schützlingen ruhten, während er stammelnd versuchte, einen einigermaßen vernünftigen Satz hervorzubringen. Christines Herz schlug plötzlich schneller und heftiger, als ich es je erlebt hatte, und sie drückte meine beiden Schätzchen fester in mich hinein. Mein Gewebe spannte sich, und die beiden Näschen wurden wieder knospig. Das irritierte mich zwar für einen Augenblick, doch ich bin schließlich Profi und bewahrte selbstverständlich Haltung. Wir liefen noch eine Weile durch die Regale, und Christines Körper entspannte sich wieder, doch ihr Herz klopfte immer noch heftig gegen mein linkes Körbchen.
An der Kasse angekommen, stand der Kerl schon wieder neben uns. Was soll ich Ihnen sagen? Das Spiel ging wieder von vorne los! Beide wechselten verlegen ein paar belanglose Worte, und stellten fest, dass sie nur zweihundert Meter von einander entfernt wohnen. Er war erst vor wenigen Tagen  hergezogen. Das Hämmern gegen mein Gewebe ließ nicht nach. Im Gegenteil, jetzt begann Christine auch noch zu schwitzen! Aber, wie ich bereits erwähnte, ich bin Profi, und zu meinen Aufgaben gehört auch trocken halten und aufsaugen. Der hohe Baumwollanteil meiner Fasern macht sich eben bezahlt.


Nachdem wir zu Hause angekommen waren, wurde Christine hektisch.
Sie warf die Einkaufstasche auf das grüne Ledersofa, stürzte ins Bad und begann, ihre Kleider auszuziehen. Das T-Shirt landete knapp neben dem Wäschekorb auf den weißen Bodenfliesen, die Jeans ereilte das gleiche Schicksal. Auch mich löste sie mit zittrigen Fingern von meinen Schützlingen und warf mich achtlos über die Handtuchstange. Sie zog ihren bequemen, anthrazitfarbenen Hausanzug an, und nach den Geräuschen zu urteilen, begann sie mit dem Staubsauger zu hantieren. Sie war richtig aufgekratzt. So hatte ich sie während unseres bisherigen Zusammenlebens noch nie erlebt. Das Radio dröhnte, und sie trällerte fröhlich mit.

 
Nach einer Weile, die ich mit einem wohlverdienten, traumlosen Schläfchen verbrachte, kam sie ins Bad zurück und duschte ein zweites Mal. Danach war meine Siesta beendet. Mein Job begann wieder.
Kaum angezogen, klingelte es und Christine und ich spurteten zur Tür. Es wird für Sie sicher nicht schwer zu erraten sein, wessen Hand die Türglocke zum Leben erweckte. Richtig! Es war unser neuer Zweihundert-Meter-Nachbar!
Er hatte uns Blumen mitgebracht. Und wie er so in der Tür stand, übers ganze frisch rasierte Gesicht strahlend, vergaß er auch nicht, mich und meine beiden kugeligen Freundinnen mit bewundernden Blicken zu bedenken. Ich sehe das Bild noch heute vor mir. Der Typ hatte doch tatsächlich gegelte Haare. Gegeeelt! Pah!!

Sechs Tassen Kaffee und vier Stücke Kuchen später, es gab Herrentorte (wie aufmerksam!) und versunkenen Apfelkuchen (der Kühltruhe sei Dank), war mein Können wieder voll gefragt. Sie wissen schon: das Hämmern, feuchte Haut, beide Schützlinge press in mir drin, mit vorwitzigen Nasen! So ein Stress hat aber auch etwas Positives, so seh' ich es wenigstens. Man weiß einfach, dass man's kann. Man ist stolz auf seine Leistung. Man hat ein gutes Gefühl. Na, ja, abgesehen von den schlechten Ahnungen.
Als das Hämmern fast unerträglich wurde, und mein Gewebe vor allem am Körbchenrand den Schweiß fast nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte, nahm das Entsetzliche seinen Lauf: Ich fühlte mit einem Mal zwei fremde, grobe Hände an meinem Verschluss. Ein paar dicke, raue, nach Tabak und Rasierwasser riechende Finger machten sich unbeholfen an meinen Haken zu schaffen. Sie zerrten und drehten, dass ich Angst bekam, mein Verschluss würde die Tortur nicht schadlos überstehen. Gott sei Dank, fanden die fremden Finger noch den richtigen Dreh und lösten meine Haken gerade in dem Moment, als Christine mir zu Hilfe eilen wollte. Dann zog der Kerl mich, zwar zuerst vorsichtig von meinen Schützlingen weg, doch als er den Reißverschluss von Christines Hausanzug mit einem Ruck nach unten riss, und sie mit Armen und Schultern wackelte, damit das Oberteil nach unten rutschte, zerrte der Mensch an mir rum, dass mir übel wurde. Trotz meiner ausgesprochen misslichen Lage, blickte ich diesem Barbar in die glasigen Augen und spürte doch sogleich, dass ich verloren hatte.

Männer! Ich mag diese Spezies nicht! Sie können mit Unsereinem nichts Gescheites anfangen. Wo sie sind, haben wir schlechte Karten. Hinter vorgehaltener Hand hörte ich mal, es soll auch da Ausnahmen geben, aber ... ich weiß nicht? Kann ich mir nicht vorstellen. Sie etwa? Doch weiter ...

Christine musste den Verstand verloren haben, anders kann ich es mir nicht erklären. Sie entledigte sich jetzt vollends ihrer Jacke, und diesen Moment nutzte dieser rabiate Kerl aus, um mich mit den Worten, die ich nie im meinem Leben vergessen werde, ich zitiere wörtlich:"Den hast du doch gar nicht nötig", nach links in Richtung offene Balkontür zu schleudern. Wie ein nutzlos gewordenes altes Tuch.

Es war Sommer. Doch jetzt sollte mir erst richtig heiß werden Ich flog in hohem Bogen auf den Balkon und rutschte ein Stück über den gefliesten Boden. Nur mein rechtes Schulterriemchen, mit dem ich mich geistesgegenwärtig an eine Balkongeländerstange klammerte, rettete mich nach dem seelischen, vor meinem körperlichen Absturz. Der Rest von mir hing völlig hilflos, im warmen Wind flatternd über dem gähnenden Abgrund. Frei in der Luft. Im dritten Stock. Ein Bild des Grauens und voll tiefer Traurigkeit. Ich fühlte mich verraten, gedemütigt und verloren. Es war traumatisch. Ich wünsche meinem ärgsten Feind nicht, jemals in eine solch erbärmliche Situation zu geraten. Sie ist furchtbar erniedrigend und eines Profis ganz und gar unwürdig.

Was mich, rückblickend betrachtet, bei der ganzen Geschichte am meisten schmerzte, waren nicht die körperlichen Blessuren, oder mein verletztes Ego. Nein! Es war die Tatsache, dass Christine keinen Versuch machte, mich, ihren intimsten Freund, zu retten. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu der Überzeugung gelangt, dass sie mich, jedenfalls in dieser, hoffentlich einmaligen Ausnahmesituation, kein bisschen vermisst hat.

Wie ich letztlich gerettet wurde, wollen Sie wissen? Nun, nachdem ich den Rest des Tages und die ganze darauf folgende Nacht in oben beschriebener Stellung verbringen musste, fand mich Christine am nächsten Morgen. Wohl eher zufällig. Ich nehme nicht an, dass sie gezielt nach mir gesucht hatte. Ihre ganze Mimik sah eher nach "Wolke sieben", als nach verzweifelter Suche aus. Zunächst erstaunt, dann verschämt nach links und rechts blickend, hob sie mich auf, drückte mich an ihr Herz und flüsterte: "Es hat sich aber gelohnt, mein Guter.”

Diese spontanen, und wie ich glaube, ehrlichen Worte, lassen mich zwar für eine weitere, gedeihliche Zusammenarbeit, wieder etwas hoffnungsvoller in die Welt blicken. Trotzdem denke ich, dass zwischen ihr und mir ein paar grundsätzliche Dinge geklärt werden müssen. Jedenfalls sehe ich das so. Als Profi hat man das Recht und auch die Verpflichtung, seinem Arbeitgeber mit freundlichen, aber unmissverständlichen Worten, den eigenen Standpunkt in Fragen des vertrauensvollen Umgangs miteinander darzulegen.
Das sehen Sie doch gewiss auch so. Oder?


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Kommentare zu diesem Text


 plotzn (09.02.25, 10:58)
Servus Rolf,

diesmal kein Mord? Keiner wird mit dem Büstenhalter erwürgt? ;) 

Ein witziger Perspektivwechsel, bei dem jeder Mann sofort voller Empathie für den Profi-Protagonisten ist. Und um die letzte Frage zu beantworten: Ja, selbstverständlich!

Liebe Grüße
Stefan
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