Begegnung 1

Kurzprosa zum Thema Valentinstag

von  Elia

Morgen ist Valentinstag und ich parke mein altes rotes Auto auf dem großen Platz vor dem Einkaufszentrum. Es wird Zeit, Schokolade zu kaufen.

An der Wand neben der Eingangstür steht ein Mann mit dem Rücken zu mir und öffnet das Schloss seines Fahrrads. Seine blonden Haare hat er zu einem kargen Dutt gefasst. Er, der wegen des Valentinstags eine Rose bekommen hätte, hatte solche Haare. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Jahre bin ich nicht in die Stadt gegangen, habe jede öffentliche Veranstaltung gemieden, die Stadtfeste im Sommer, den Weihnachtsmarkt, sonnige Tage im Park, manche Cafès, alle Musikveranstaltungen, alles nur, um ihm nicht zu begegnen. Denn was wäre gewesen, wenn? Hätten wir einander begrüßt und in diesem Moment wäre alles Trennenden, alle unausgesprochenen Gefühle, alle Missverständnisse und enttäuschten Hoffnungen von uns abgefallen und wir hätten uns in den Arm genommen? "Wenn wir uns einmal wieder sehen, bekommst du natürlich auch eine Umarmung.", hatte er gesagt und ich hatte erwidert: "Dass wir uns noch einmal begegnen, ist sehr unwahrscheinlich und wenn, dann werden wir sehen, ob das dann noch passt." Er hatte nicht geantwortet und ich hatte gewusst, dass er die Umarmung nur angekündigt hatte, weil auch er nicht mit einer baldigen Begegnung rechnete. Also hätten wir nur vergeblich nach Worten gesucht. Oder nicht einmal das? Wahrscheinlich wäre nur ein freundlicher Gruß aus der Ferne drin gewesen, höflich, aber distanziert? Ich wollte ihn nicht treffen, denn ich brauchte die bleibende Hoffnung auf eine Umarmung und hatte doch vor kaum etwas so große Angst wie davor, sie könne stattfinden. Außer, sie wäre unterblieben!
Und nun, an diesem Morgen, an dem er eigentlich arbeiten muss, so dass ich mich ins Einkaufscenter wagen kann, steht da ein Mann mit unordentlichem blonden Dutt und ich erschrecke nicht, sondern analysiere. Ist er es? Ich mustere seine Hose. Sie ist grau und hat viele Taschen an den Beinen. Eine Arbeitshose? Wenn es eine Arbeitshose ist, so wie sie Handwerker tragen, dann ist er es nicht. Es ist aber keine Arbeitshose, es ist eine Wanderhose, so eine wie man sie trägt, wenn man in die Berge geht. Er geht in die Berge und ist auch sonst viel draußen. Ich habe gehört, dass er in Island war.  Aber wie kann es sein, dass er um diese Zeit hier ist? Vielleicht ist er krank, wie so viele erkältet, und deshalb holt er sich gerade  Medikamente aus der Apotheke? Oder Obst? Das ist nicht ausgeschlossen. Aber war sein Dutt damals wirklich so armselig dünn? Ich habe ihn schließlich auch wegen der Haare gemocht. Oder habe ich ihn am Ende gar nicht wegen seiner Haare gemocht, sondern seine Haare wegen ihm?
Aber ist er es überhaupt? Und wenn er es ist, wie sehe ich aus? Würde er mich erkennen? An meiner Jacke wohl nicht. Sie ist neu. Aber vielleicht hat er mich bemerkt, bevor ich ihn bemerkte und fummelt deshalb verlegen an dem Fahrradschloss herum bis ich vorbei bin? Hat er etwa mein rotes Auto kommen sehen. Das kennt er noch und sonst fährt wohl niemand mehr eine so alte Karre. Ich bin heute in Schwarz gekleidet, irgendwie passend, ein geräumiger Wollpulli und eine weite Jeans. Damals trug ich Skinny. Und nun muss man mich unter den Klamotten suchen. Aber ich habe auch zugenommen, Schokolade, natürlich. Immerhin habe ich mir heute die Korallenkette umgehängt. Rot ist seine Lieblingsfarbe. Aber das reicht natürlich nicht. Meine Haare zeigen einen breiten grauen Ansatz. Die waren damals schon grau, aber er hat das nie gesehen. Nur in der letzten Zeit konnte ich nicht färben, weil mir ein Kakteenstachel in die Kopfhaut gedrungen war und dort eine Wunde hinterlassen hatte. Ehrlicherweise war ich auch zu faul. Ich habe mich von vielem getrennt, Haare kürzer, alles einfach pflegeleichter. So wie ältere Frauen das eben tun. Ich bin nicht mehr auf eine Begegnung vorbereitet. Was muss er denken? 
Aber ist er es überhaupt? Mein Blick gleitet an seinem Rücken hinab. Die Jacke verdeckt ihn, nur die Beine sind zu sehen. Sie sind schmal und gerade. Ich habe ihn weniger zierlich in Erinnerung, aber ich weiß, dass ich ihn körperlich schon öfter unterschätzt habe. Er war einfach nicht muskulös wie ein Bodybuilder, sondern zart wie ein Tänzer. Sein Körper war vollkommen symmetrisch und er beherrschte diesen mit Präzision. Nach zehn Minuten Übung jonglierte er sicher mit drei Bällen. Beine und Arme, auch seine Handgelenke, waren schmal, aber er gewann jedes Badminton-Match. Alles, was ich nie war, gelenkig, koordiniert, schnell und kraftvoll, das war er. Wie unscheinbar er aber wirkt, sollte er tatsächlich dieser Mann sein, der dort sein Fahrrad abschließt... . Ist er es wirklich? Habe ich überhaupt noch ein Bild von ihm, wenn ich vor dem Einschlafen seinen Namen flüstere? Oder flüstere ich nur noch seinen Namen ohne Bild, so wie ich als Kind mit Gott geflüstert habe, bevor ich eingeschlafen bin? Damals habe ich Gott von allen Sorgen und Wünschen erzählt, in Gedanken, weil Gott ja auch Gedanken versteht. So erfuhr Gott, wie das Kleid aussehen müsste, das mir geschenkt würde, wenn ich Aschenputtel wäre. Heute erzähle ich nichts mehr, heute flüstere ich nur noch diesen einen Namen des Mannes mit dem dünnen Dutt und dem Körper eines Tänzers und es ist klar, dass alles darin liegt, alle Sorgen und Sehnsüchte. Ist er es?
Ich beuge mich im Vorübergehen vor. Ob ich sein Profil erkenne? Er hatte ein schmales Gesicht, fast hohlwangig. Es erinnert an das alte Küchenmesser, das meine Uroma bevorzugt zum Kartoffelschälen verwendete und das so abgenutzt war, dass es einer Sichel ähnelte. Ich habe ihm einmal gesagt, er sei wunderschön. Das stimmte, auch wenn der Vergleich mit dem alten Küchenmesser seltsam klingt. Er war nicht schön im üblichen Sinne.
Oft habe ich in den Jahren "danach" im Geist Menschen seziert. Was ist das schon, ein Mensch? Ein Lebewesen mit und ohne viele Haare, mit zwei Beinen, zwei Armen, einem Kopf, mehr oder weniger einem Klischeekörper, hauptsächlich aus Wasser besehend und von einer KI nachahmbar, im Prinzip doch einer wie der andere, Lebenserwartung aktuell um die Achtzig, zufällig gekommen, zufällig im Gehen, hinterher vergessen. Man könnte über einen Menschen sagen, er sei ein Zweibeiner, während ein Hund ein Vierbeiner wäre und der weitere Unterschied sei das Vorhandensein bzw. Fehlen bedeckenden Fells sowie dass der eine mit dem Schwanz wedele, während er bei dem anderen verkümmert sei. Und damit wäre alles Wesentliche gesagt. Was ist ein Mensch wert, wenn es ihn in derselben Grundausführung, trotz kleiner individueller Merkmale, unendlich oft gibt? Ich habe diese Übung oft gemacht, um es ertragen zu können. Ich musste ihm den Wert nehmen, ihn zu einem von Vielen hinabdrücken, ihn ersetzbar machen und entbehrlich. Und der Mann dort, an der Wand, bei seinem Fahrrad? Ist er nicht genau dies?
Von der Seite, während er sein Fahrrad noch immer aufschließt, erfasse ich sein Profil zwar nicht ganz, aber es ist schmal und blass. Schmal und blass! Wenn ich jetzt noch eine Sekunde länger glotze, wenn er noch eine kleine Bewegung des Kopfes vollzieht, wenn er endlich das Schloss aufbekommen hat und sich plötzlich umdreht, wenn er meinen Blick spürt, egal wie flüchtig dieser auch zu sein bemüht war, dann passiert „es“, dann werden wir „Hallo!“ sagen und aneinander vorbeigehen und er wird denken: „Sie ist alt geworden und zugenommen hat sie auch.“

Ich laufe, laufe weg. Mit vier, fünf schnellen Schritten erreiche ich die rettende Eingangstür und verschwinde hinter einer Betonwand. Dreißig Zentimeter Beton trennen mich von einem Blick, der seiner sein könnte. Das reicht angeblich sogar als Schutz, wenn Bomben fallen. Dann kaufe ich die Schokolade und verlasse den Laden durch den hinteren Ausgang. Ob er es wirklich war?





Anmerkung von Elia:

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