Das in allem innewohnende Fremde
Betrachtung zum Thema Entfremdung
von Augustus
Es ist schon befremdlich, wie wenig Kenntnis ein Mensch über die nächsten Dinge in seiner Umgebung weiß. Wenn er sich gerade jetzt umschauen würde und den nächsten Tisch betrachten würde, würde er wahrscheinlich nicht genau wissen, um welche Holzart es sich dabei handelt. Man ist es gewohnt das farbige Tischtuch, das über dem Tisch liegt, täglich zu sehen. Aber wo wurde es hergestellt und mit welchen Stoffen, und wo kommen die Stoffe her? Die Blumenvase, die einen Blumenstrauß hält, ist vermutlich aus Glas. Ja, weiß der Einzelne, wie eine Vase hergestellt wird und aus welchem Material sie besteht und aus welchem Land die Materialien herkommen? Schaut der Mensch aus dem Fenster, sieht er sehr wahrscheinlich Bäume. Aber unwahrscheinlich, dass er genau wüsste, um was für Bäume es sich dabei handelt? Die in der Umgebung lebenden Vögel, die er hin und wieder – nicht immer – weil gerade seine Aufmerksamkeit auf dem Gesang ruht, singen hört, wird er in der Regel nicht genau bestimmen können. Den Kalkgehalt des Wassers, das aus dem Wasserhahn sprudelt, wird er ebenfalls nicht wissen. Tagtäglich schaut er Fernsehen, über diesen komplexen Kasten er so wenig Kenntnis besitzt. Vielleicht hört er gerade im Hintergrund Radio, er wird aber wahrscheinlich nicht wissen, wie genau dieses kleine Ding die Stimme des Moderators oder die Musik daraus erzeugt. Vielleicht ist der Einzelne gerade im Internet und liest einen Artikel. Er wird aber kaum wissen, wie viel Technik dahintersteckt, wie diese Technik genau funktioniert, damit er einen Artikel im Internet lesen kann. Selbst die Tastatur eines Computers steckt voller Fragen, die ein Einzelner kaum beantworten wird können. Welche Maschinen stellen die Tastaturen her, wo befinden sich diese Maschinen, woher kommt das Material, wie genau überträgt die Tastatur das Geschriebene auf ein Schreibprogramm – genauer, wie funktioniert die Kommunikation zwischen der Tastatur und dem Schreibprogramm. Wie viele Lötvorgänge und elektrische Verbindungen sind in einer Tastatur. Wie gelangen die Aufschriften der Buchstaben auf die Tastatur und aus welchen Bestandteilen besteht die weiße Farbe, die auf die Oberfläche der einzelnen Tasten abgedruckt werden. Der Kugelschreiber oder Bleistift in der Schublade oder der gerade neben der Zeitung liegt oder mit dem er gestern die Kreuzworträtsel gelöst hat. Weiß er wie ein Bleistift hergestellt wird und woher die Bleistiftmine kommt und aus welchen Papier(-abfällen) genau das Zeitungspapier besteht, das millionenfach vertrieben wird. Kleider und Nahrungsmittel durchlaufen die halbe Welt, ehe sie angezogen werden oder gegessen werden. Was genau geschieht mit Altkleidern, was mit den Essensresten, wenn sie aus dem Haushalt weggeschafft wurden? Wie genau machen es die Augen möglich, das die Umgebung gesehen werden kann? Wie genau übersetzt und empfängt das Gehirn bloße Laute (von Menschen und Tieren und sonstigen Dingen), die durch die Luft wellenartig – und unsichtbar – über eine Strecke vibrieren? Die Beispiele sind unerschöpflich. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“, so Wittgenstein. Ich würde ergänzen. „Die Grenzen meines Wissens sind die Grenzen meiner Welt.“ Und wer nun genau in seinem Zimmer umhersieht, der wird in seiner nahen Umgebung plötzlich ganz fremde Sachen vor sich sehen, über die er ganz wenige Kenntnis besitzt, obwohl ihm alle diese Sachen in ihrer Erscheinung vertraut sind. Er ist ihnen nie auf den Grund gegangen. Sie sind ihm im Wesentlichen fremd. Wenn er aber nun denkt, mit Mühe und Fleiß, könne er wenn er nun auch wollte, durch Aneignung von Wissen seine Umgebung wirklich kennenlernen, so stößt er alsbald auf noch tiefere Strukturen der Erscheinungen. Moleküle und Atomteilchen. Wie bilden sich Moleküle aus Atomteilchen, welche Teilchen genau wirken und schließen sich zu einem Molekül zusammen? Wie schaut die Molekülstruktur eines Quarzsandes aus, wie viele Elektronen, Protonen und Neutronen befinden sich in einem Quarzsand? Der Mensch macht sich all die Unwissenheit über das Wesen der Sache keine Gedanken. Die Summe all des Unbekannten wird in einer Erscheinungsform zusammengefasst und fällt mit dem Bewusstsein zusammen und wird durch wenige Worte, manchmal reicht sogar bloß ein Wort aus, um es ihm gewohnt und verständlich zu machen. So durchläuft ein Mensch sein ganzes Leben durch immer mehr Unbekannte, wodurch er seine Grenzen der Welt nicht erweitert, sondern sogar noch weiter einschränkt. Der viele Reisende wird um seine Reisen in fremde Länder betrogen, weil er dadurch eine Unmenge an Unbekannte eröffnet, weil die fremden Länder in sein Bewusstsein fallen. Fremde Länder bleiben ihm im Wesentlichen fremd, auch wenn er hunderte bereist hat und meint er habe die halbe Welt gesehen. Im Grunde ist selbst der Besuch beim gewohnten Italiener um die Ecke eine Reise in die Fremde. Der Einzelne wird nicht wissen, am welchen Jahr das Gebäude erbaut wurde. Hat es eventuell eine Vorgeschichte? Die Tomatensauce auf den Nudeln bleibt genauso fremd, weil er nicht weiß, welche Tomaten genau es sind und aus welcher Region sie stammen. Im Wesentlichen sind dem Einzelnen das den Dingen innewohnende Fremde fremd, allein die Erscheinungen (hier als bloße Schatten zu verstehen, da oberflächlich) sind ihm sehr wohl vertraut.