Spiegelbilder

Kurzgeschichte zum Thema Entfremdung

von  RainerMScholz

Zeit ist an Raum gebunden, Raum an Materie, Materie an Zeit.


Die U-Bahn-Fahrt war der öde Abschluss dieses miesen Tages. Leute mit schlechtem Atem. Voyeure, Penner, Idioten mit Aktentaschen, in denen sich ihr Butterbrot, die Thermoskanne und die Bildzeitung befanden. Lauter Wichser. Karen starrte ausdruckslos aus dem Fenster. Bloß keinen zufälligen Blickkontakt herstellen mit irgendjemandem. Auch vor den Fenstern gab es keine lohnende Aussicht. Keine Perspektive.
Die Wolken hingen tief an diesem Abend. Diese Gegend erlebte nicht viel Sonnenschein. Ein meteorologisches Loch, das auf keiner Wetterkarte auftaucht. Wie ein Loch im Fußboden, über das der Teppich gelegt wird, um es zu verdecken.
Karen ging nach Hause, schloss die Tür auf und ließ sich in einen der Sessel fallen, um sich erst einmal von ihrer Stumpfheit zu befreien. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie ging ins Bad und warf zwei Aspirin in ein Wasserglas. Sie besah sich im Spiegel. Mein Gott, dachte sie, ich sehe so alt aus. Sie war 36 Jahre alt. Dunkelblond. Ihre Taille setzte allmählich ein Fettpolster an, ihre Brüste konnten sich eigentlich noch sehen lassen.
Es war der dumpfe Büro-Job, der sie so zermürbte. Das ewig Gleiche. Die immer wiederkehrenden Handgriffe und Arbeitsgänge. Das Hirn schaltet nach einer Weile automatisch ab, um dann nach Büroschluss wieder in Betrieb genommen zu werden.
Sie machte einen Kaffee und stellte sich an das Fenster. Blitze zuckten über den Himmel. Lächelnd setzte sie sich an das Klavier und spielte etwas von Chopin, während es draußen vor der Tür immer düsterer wurde.
Der nächste Tag begann ausnahmsweise strahlend blau. Und fast gut gelaunt, trotz der frühen Stunde, machte Karen sich auf ihren allmorgendlichen Weg zu ihrer Arbeit.
Der Fahrstuhl des riesigen Bürogebäudes schluckte sie mit all den anderen, die in diesem Stahl- und Betonkoloss ihrer Tätigkeit nachkommen. Maude empfang sie wie üblich mit einem lapidaren Lächeln, um dann wieder hinter ihrem Bildschirm zu verschwinden. Karen nahm sich einen löslichen Kaffee am Automaten und versank dann in der Anonymität des Großraumbüros.
Gegen Mittag, sie wollte gerade zu Tisch, wurde sie zu ihrem Vorgesetzten in dessen Büro zitiert. Herr Dorfhausen, ein rabiater, kleiner untersetzter Mann, war bekannt als emporstrebender Karrierist ohne menschliche Regungen, der auch bereit war für seinen Aufstieg Andere über die Klinge springen zu lassen. Karen empfand seine schiere Anwesenheit als etwas nahezu körperlich Anzügliches; seine schmierigen Augen pflegten sie von Kopf bis Fuß abzutasten. Ein widerlicher, erbärmlicher Schleimscheißer.
"Frau Vazquez, setzen sie sich."
"Danke."
"Ich habe mir 'mal die Mühe gemacht und eine Revision der Rechnungseingänge des letzten Monats vornehmen lassen. Einige Angestellte dieser Abteilung kommen
dabei gar nicht gut weg. Dazu gehören sie, Frau Vazquez. Es kann nicht sein, dass..."
Karen hörte kaum hin. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster. Ihre Augen vermochten den Smog, der über der Stadt lag kaum zu durchdringen.
"Hören sie mir überhaupt zu, Frau Vazquez? Haben sie mich verstanden?"
"Natürlich, Herr Dorfhausen, ganz bestimmt."
"Nun gut. Wenn das diesen Monat nicht besser wird, können sie ihren Schreibtisch räumen. Alles klar? Sie können gehen."
"Danke."

Zuhause stand sie vor dem Fenster und schaute in die Kronen der Zitterpappeln auf der anderen Seite der Straße. Die Blätter wirbelten leise im Wind und redeten sanft und eindringlich zu ihr. Dunkle Wolkengebilde zogen drohend über das Dach. Die Silhouette der Erker und Firste des Hauses schimmerten im Rot des Sonnenuntergangs. Sie kämmte ihre Haare vor dem großen Spiegel im Bad. Gleichmäßig zog sie die Bürste durch das lange Haar. Vielleicht würde sie später bei Kerzenschein noch ein wenig Klavier spielen und dann zu Bett gehen. Sie legte die Haarbürste zur Seite, musterte sich noch einmal kritisch im Spiegel, um dann ins Wohnzimmer zu gehen. Aber irgendetwas hielt sie vor dem Spiegel, eine winzige Unregelmäßigkeit, die sie stutzig machte. Hatten ihre Augen sie getäuscht? Es war unmöglich. Aber ihr Spiegelbild schien sich eine Zehntel Sekunde früher als sie selbst umdrehen zu wollen, um dann wieder misstrauisch und verwirrt in ihre Augen zu starren. Sie spürte einen Schauer ihren Rücken hinabkriechen. Es war einfach nicht möglich. Blitzartig drehte sie sich um die eigene Achse, um dann festzustellen, dass die Frau im Spiegel ihre Ausgangsposition um eine Nuance schneller einnahm als sie. Bleich vor verwirrtem Entsetzen lief Karen in die Küche. Ihre Hände zitterten. Draußen vor der Tür wurde es von Minute zu Minute düsterer. Blitze zuckten über den Himmel. Fernes Donnergrollen ließ die Blätter der Bäume zart erschauern. Was Karen gerade erlebt hatte oder glaubte erlebt zu haben, war unmöglich. Es war doch sie selbst, die dort im Spiegel zu sehen gewesen war, ihr Abbild. Oder wer war es? Was war es? Es konnte keine ausreichende Erklärung für diese zeitliche Diskrepanz geben, für diese Verschiebung nach vorne. Jedenfalls keine, die ihr bekannt war. Starr vor Schrecken saß sie in der Küche und dachte an die Frau im Spiegel. Die eine andere war.
Sie konnte nicht einschlafen in dieser Nacht. Der Sturm rüttelte an ihrem Fenster. Gegen drei Uhr nachts stand sie auf und ging ins Bad, um schlaftrunken ein Aspirin gegen ihre Kopfschmerzen zu nehmen, als sie wie angewurzelt vor dem Spiegel erstarrte. Ihr Ich blickte sie an. Karen streckte wie in Trance die Hand aus, um ihr Spiegelgegenüber zu berühren. Ihre Fingerspitzen trafen sich. Ihr Gesicht zerrann, zerlief wie die Spiegelfläche eines glasklaren Waldsees, den eine herab fallende Blüte in konzentrische Kreise bricht. Sie zog ihre Hand zurück. Ihre geweiteten Augen starrten irisierend in das Gesicht der Frau, die nun wieder klar im Spiegel zu sehen war, in ein Gesicht, das das ihre war. Sie knipste das Licht aus und ging wieder ins Bett. Es war nicht zu verstehen. Ihr Geist konnte dieses Phänomen nicht einordnen, nicht erklären.
Der Wecker summte um sechs Uhr dreißig. Sie kochte sich einen Kaffee und zog sich an. Sie hielt sich so wenig wie möglich vor dem Spiegel auf, konnte aber einen verstohlenen Blick nicht unterdrücken. Sie sah schnell wieder weg. Vielleicht drehte sie allmählich durch.

Der Asphalt schimmerte bläulich. Der Sturm letzter Nacht hatte viele Äste gebrochen, die auf der Straße verstreut lagen. Sie fuhr zur Arbeit. Freitag. Ihr Spiegelbild in den Schaufenstern sah sie wie gewohnt im grauen Rock und einer blauen Bluse.
Aber es war kein Traum gewesen.
An diesem Wochenende verdorrten die Bäume der Allee. Die Blätter der Zitterpappeln rollten sich ergraut zusammen und fielen wie zerknittert und über Nacht gealtert herab. Die dürren Äste zeigten kahl und traurig in den Himmel.
Karen bemühte sich in Kontakt zu treten mit ihrer Parallelwelt, die sich ihr scheinbar zufällig erschlossen hatte. Etwas musste hinter dem Spiegel sein, etwas verwandtes. Dann sprach sie zu ihrem Abbild mit dem Erfolg, dass sie sich selbst fragte, ob sie nun die Schwelle des Wahnsinns überschritten habe. Ein weiterer Versuch, durch physischen Kontakt eine Verbindung herzustellen verlief abermals mit einer Trübung des Spiegels, die sie sich nicht erklären konnte. Auch ging eine merkwürdige Veränderung mit ihrem Spiegelbild vor sich. Sie schien zu altern. Falten legten sich um ihre Augen, die sie mit den Fingern jedoch nicht ertasten konnte. Ihre Haare ergrauten von Stunde zu Stunde, doch ihr reales Ich veränderte sich nicht.
Der nächste Morgen begann düster. Die Sonne schien nicht aufgegangen zu sein. Blitze zuckten hell. Die Umgebung war in ein moribundes Dunkel getaucht. Gespenstisch tauchten die toten Bäume aus einem grauen Sumpf auf.
Sie trat vor den Spiegel. Ein krächzender Schrei entrang sich ihrer Kehle. Das Ich im Spiegel hatte sich verheerend verändert. Ihre Augen waren tief eingesunken, ihre Wangenknochen stachen spitz hervor. Ihre vollen, roten Lippen waren vertrocknet und nach innen gewölbt. Ein Blitz schlug mit einem Krachen in einen Baum ein. Hundert Millionen Volt ließen die Erde erzittern. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Das Ich im Spiegel war im Sterben begriffen. Ein kahler Schädel starrte sie hilfesuchend an. Schiere Angst blickte aus den glimmenden Augäpfeln. Karens Mund schrie einen schrillen hohen Schrei des Wahnsinns. Ihre Hände krallten sich in ihren Leib. Der Spiegel zerbarst. Sie lief hinaus in das Getöse des Sturms. Der Wind zerrte an ihren Kleidern. Ihre Schreie wurden vom Grollen des Donners erstickt. Ihre Augen blickten irr und wild nach einem Bezugspunkt, doch alles schien zu zerfließen, in Destruktion und Agonie begriffen.

Später am Abend hatte sich das Unwetter gelegt. Karen, nachdem sie ziellos umher gelaufen war, kehrte zu ihrem Haus zurück. Ihre Wohnung war fast vollständig verwüstet. Alles lag kreuz und quer durcheinander, als hätte jemand mit ungeheurer Gewalt diese Zerstörung angerichtet. Die Fensterscheiben waren zertrümmert, Möbelstücke umgeworfen. Das Klavier war nicht mehr zu gebrauchen. Vorsichtig ging sie ins Bad, doch der Spiegel war zerstört. Sie hatte ihren Tod gesehen, dachte sie, und nun lagen die Splitter am Boden. Sie sammelte sie auf. Was sie in den Bruchstücken sah, war wiederum sie selbst. Sie schnitt sich in die Hand. Dann sah sie genauer hin, ihr Blick ging tiefer. Bis sie am Boden angelangt war. Und dann tiefer. Bis hinab in alle Dunkelheit. In die Schwärze einer glänzenden gigantischen, die Welt füllenden und sie gleichzeitig betrachtenden Pupille.
Der Mensch, der Karen Vazquez gewesen war, verschwand unter mysteriösen Umständen.
Ihre Leiche wurde nie gefunden.




© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (24.01.20)
Voyeure, Penner, Idioten mit Aktentaschen, in denen sich ihr Butterbrot, die Thermoskanne und die Bildzeitung befanden.
Klingt nach 1980er Jahre. Heutige Unsympathen sind anders ausgestattet.

 keinB meinte dazu am 24.01.20:
Mit Duden und Fußballkolumne?
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