Lebenslauf
Text
von Alex
Milo war 32 und hatte zu viel in seinem Leben verpasst, um noch daran zu glauben, dass ein geregeltes Leben für ihn drin war. Und ehrlich gesagt wollte er das auch nicht. Bürojob, Reihenhaus, Rentenversicherung – allein der Gedanke daran ließ ihn erschaudern. Ein Typ, der zu viele Nächte auf der Straße verbracht hatte, weil Zuhause kein sicherer Ort war. Der gelernt hatte, dass die Welt nicht auf einen wartet, dass man kämpfen muss, um seinen Platz zu finden. Und dass Wut oft der einzige Treibstoff ist, wenn sonst nichts bleibt.
Doch er wollte, dass seine Wut endlich irgendwohin ging, wo sie ihn nicht mehr auffraß.
Er dachte an Jonas. Den alten Kerl aus der Suppenküche, der ihn vor zwei Wintern nicht mit Mitleid, sondern mit Respekt behandelt hatte. Der ihm einen heißen Tee in die Hand gedrückt hatte, ohne Fragen, ohne Erwartungen. Das war das erste Mal gewesen, dass Milo begriff, dass Güte manchmal eine revolutionäre Tat sein kann. Jonas hatte ihm auch geholfen, eine kleine Wohnung zu finden. Sie war zwar ranzig, aber sie gab ihm zumindest etwas Ruhe – genug, um darüber nachzudenken, selbst etwas Gutes zu tun.
Deshalb stand er nun vor dem Gemeinschaftszentrum am Rand der Stadt. „Die brauchen jemanden wie dich“, hatte ein Freund gesagt. „Jemanden, der weiß, wie’s ist.“
Milo wusste, wie’s war. Aber wusste er, wie man hilft?
Er starrte auf die Tür, zog nervös an seiner Jacke, atmete tief durch. Die Wände des Zentrums schienen ihn zu beobachten, die Luft schwer mit der Last ungesagter Worte.
„Scheiß drauf“, murmelte er, trat ein.
Drinnen war es warm. Ein paar Leute saßen auf alten Sofas, manche dösten, andere unterhielten sich leise. Ein Typ mit Dreadlocks verteilte Brote, eine Frau mit Nasenpiercing schrieb etwas auf eine Tafel. Sie sah auf und grinste. „Du bist neu hier.“
Milo nickte. „Ja“, sagte er. „Ich will helfen.“
Am Anfang hielt er sich im Hintergrund. Stühle rücken, Essen verteilen, zuhören. Er hatte keine Sozialarbeiter-Ausbildung, keine großen Reden im Gepäck. Nur die Erfahrung, wie es ist, wenn dir die Stadt jeden verdammten Tag ins Gesicht spuckt. Wenn du unsichtbar bist, aber trotzdem alle meinen, dich bewerten zu müssen.
Dann saß eines Abends ein älterer Mann neben ihm, der sein Essen nur anstarrte, als hätte er vergessen, wie man isst.
„Was kritzelst du da?“, fragte er.
„Scheiße über die Welt“, sagte Milo.
Der Mann lachte rau. „Lies mal vor.“
Also las Milo. Seine Worte klangen anders, als er sie aussprach. Echter. Ein paar Leute hörten zu. Jemand nickte. Einer murmelte: „Genau so ist es.“
Von da an brachte er sein Notizbuch immer mit. Und dann Papier und Stifte.
„Wenn du’s nicht aussprechen kannst, schreib’s auf, bevor es dich von innen zerfrisst“, sagte er, wenn jemand mit einer Geschichte im Hals saß, die rauswollte, aber nicht konnte.
Dann kam Leo. Mitte 40, jahrelang auf der Straße, voller Trotz und Müdigkeit. „Ich hab früher mal geschrieben“, murmelte er, als hätte er es fast vergessen.
Milo schob ihm ein zerknittertes Blatt hin. „Dann schreib.“
Leo schnaubte. „Worüber?“
„Scheiße über die Welt.“
In dieser Nacht schrieb Leo zum ersten Mal seit Jahren ein paar Zeilen. Und als er Milo ansah und sagte: „Danke, dass du mich dran erinnert hast, wer ich mal war“, wusste Milo, dass das hier genau das war, was er tun sollte.