Kleine Typologie des freien Geistes (Anfang)
Beschreibung
von autoralexanderschwarz
§ 1 – Erste Annäherung
Rarität
Der freie Geist ist ein Wesen, das man heutzutage nur noch sehr selten findet. Schon immer gab es ihn nur vereinzelt, häufig genug verlebte er sein ganzes Leben im Verborgenen, doch nun haben spezifische Entwicklungen der Menschheit – von denen später noch die Rede sein wird – dazu geführt, dass er im heutigen Europa bereits fast ausgestorben ist und auch in allen anderen Erdteilen in den letzten Jahren immer seltener gesichtet wurde. Sollte sich – was wohl zu erwarten ist – eine solche Entwicklung fortsetzen, so mag diese kleine Typologie als Nachruf auf ihn verstanden werden.
Geister
Geister bestehen aus einer unbekannten Substanz, die weder die Naturwissenschaften noch die Philosophie bislang hinreichend bestimmen konnten. Mit ihrer Geburt erhalten sie einen Körper, den sie sich nicht aussuchen können und auf den sie ein Leben lang angewiesen sind. An ihre ersten Jahre können sie sich meistens nur verschwommen erinnern, da sie älter sind als das Bewusstsein ihrer selbst, das sie erst im Verlauf ihrer Entwicklung erhalten. Irgendwann erkennen sie dann ihren Körper im Spiegel und fangen schließlich an, über sich selbst nachzudenken. So erst begreifen sie den tiefen Ernst ihrer Existenz, dass sie vergänglich sind, dass sie (und alle anderen) sterben müssen, dass man nur für eine kurze Zeit und einer von Milliarden ist. Damit – so erklärt man ihnen, wenn sie alt genug sind – müsse man halt leben. Das tun sie dann auch und steuern ihren Körper häufig viele Jahrzehnte durch das Leben. Manche sterben jung, andere werden alt, doch allen ist gemein, dass sie irgendwann auch wieder verschwinden. Wohin sie aber gehen (oder ob sie sich einfach auflösen), ist bis heute nicht bekannt.
Verschiedenheit
Dass Geister allesamt das gleiche Los teilen (und man sie nicht sehen kann), darf nicht zu dem Trugschluss führen, dass sie sich alle notwendig gleichen. Selbst wenn sie vergleichbare Leben leben, kommt es durchaus vor, dass sie die unterschiedlichsten Schlüsse daraus ziehen. Der einzelne Geist ist mehr als eine bloße Akkumulation seiner Eindrücke, er ist mehr als das Produkt seiner Erziehung, er ist mehr als die Sozialisation in einer spezifischen Kultur. Er hat Eigenheiten, Charakter- und Wesenszüge, die sich dann in Geschmack, Vorlieben, Begabungen, Interessen oder Überzeugungen ausdrücken können. Er unterscheidet sich (ebenso wie sein Körper) grundsätzlich von allen anderen Geistern, auch wenn er dies – gerade in der Gesellschaft – häufig zu verbergen sucht.
freie Geister
Vorab ist wichtig zu erwähnen, dass nichts und niemand – und auch der freie Geist – (natürlich) nicht vollständig frei ist. Auch er hat einen Körper, der ihn durch die Welt trägt, der essen, schlafen und verdauen muss, auch er kann sich verlieben, verrennen oder verraten und darüber vergessen, dass er einmal ein freier Geist gewesen ist. Präziser wäre es zu sagen, dass er anders gebunden ist als seine Zeitgenossen, denn erst im Vergleich mit anderen – mehr oder weniger vollständig fixierten – Geistern wird es möglich, seine Besonderheit zu erkennen. Im Gegensatz zu jenen aber ist es ihm gelungen, die Fesseln zu ertasten, die ihn in eine bestimmte Haltung zwingen. So erst hat er ein Bewusstsein für seine Gefangenschaft entwickelt, hat gelernt zu unterscheiden, wo er sich selbst und wo er nur den Druck der Fessel spürt; so erst konnte er sein Handgelenk befreien – und unruhig tastet seine Hand bereits nach der nächsten Fessel. In eben diesem Sinn wird der eigentlich nur freiere Geist im Folgenden als freier Geist bezeichnet, denn vollständig frei kann ein Geist nie werden. Manche Fesseln lassen sich selbst mit Riesenkräften nicht überwinden und andere legt man sich im tiefsten Bewusstsein seiner selbst gerne an, weil man halt mehr ist als ein bloßes Reservoir an Trieben oder Impulsen, weil es – gerade für gute freie Geister – Dinge gibt, die ihnen wichtiger sind als sie selbst. Freie Geister kennen ihre Loyalitäten. Sie wissen, dass sie einmal sterben müssen, dass sie nichts auf Dauer und doch alles zu verlieren haben. Darum bindet sie ein Versprechen stärker als ein bloßer Umschwung der Meinungen oder Gefühle. Worin nun aber genau diese Freiheit besteht und wie sich ein freier Geist von anderen Geistern abgrenzen lässt, ist Gegenstand dieses kleinen Buches.
natürlicher Lebensraum
Gerade weil freie Geister nur so selten und vereinzelt entstehen und in diesem Sinne häufig ganz alleine erwachsen werden müssen, zeichnet sie häufig eine tiefe Sehnsucht nach anderen freien Geistern aus, mit denen sie sich im Gespräch verbinden können. Diese Sehnsucht ist es wohl, die sie häufig an Orte treibt, an denen sie andere freie Geister vermuten. Solche Orte können ganz unterschiedlich beschaffen sein, aber haben meistens die Gemeinsamkeit, dass es exklusive Orte sind, die noch nicht von der Masse für sich entdeckt und erobert wurden. Da freie Geister zumeist an dem anderen Geist (und weniger an seinem Körper) interessiert sind, mögen sie es nicht, wenn es so laut ist, dass man einander nur schwer verstehen kann. Am bloßen Austausch von Floskeln sind sie gemeinhin nicht interessiert. Verschlägt es sie dann aber auf eine Veranstaltung, die entgegen aller Erwartung doch nur dem Zeitgeist huldigt, findet man sie meist in den hinteren Reihen des Publikums, wo sie dann häufig auch nur einige Minuten verweilen, bis eine ausgesprochene Dummheit oder eine sprachliche Lieblosigkeit dazu führen, dass sie den Mantelkragen hochschlagen und sich bereit machen zu gehen; vielleicht weil es draußen zwar kälter, aber dennoch angenehmer ist, oder auch einfach nur, weil sie mit ihrer bloßen stummen Anwesenheit den Vortrag auf der Bühne nicht bestätigen möchten. Manchmal stehen sie dann noch eine Weile vor der Tür, rauchen eine Zigarette und lauschen auf den Beifall des Publikums, doch wenn man sie kennt, weiß man, dass sie eigentlich nur auf einen anderen freien Geist warten, der wie sie diesen Ort verlässt.
Test
Dies aber ist der vielleicht passendste Moment, um den Wartenden einmal anzusprechen, und weil man sich nie sicher sein kann, ob man es wirklich mit einem freien Geist zu tun hat, empfiehlt sich der folgende kleine Test, um den Anderen – sofern er es zulässt – in seinem Wesen zu prüfen. Man grüße ihn höflich, blicke ihm fest in die Augen, stelle ihm dabei eine Frage und beobachte ihn genau, während er diese beantwortet. Der Inhalt der Frage ist dabei ziemlich egal, die einfachste Frage – sei es der Weg oder die Uhrzeit – reicht aus, denn ist er ein freier Geist, dann wird er zunächst für einen kurzen Moment innehalten und über die Frage nachdenken. Dieses grundsätzliche Zögern vor einer oder gar jeder einfachen Antwort aber hat einen tiefen Grund, denn der freie Geist weiß, wie komplex und auch kompliziert die Welt ist und dass man sich nie wirklich sicher sein kann, dass man auch wirklich das verstanden hat, was der Andere meint. Wenn er dann aber antwortet, wird er davor zurückscheuen, bereits in seiner Erklärung eine Entscheidung für den Anderen zu treffen; vielleicht wird er, sofern er ein guter Geist ist, unterschiedliche Wege aufzählen, auf denen der Fragende sein Ziel erreichen kann, und er wird sich die Zeit nehmen, die Vor- und Nachteile der jeweiligen Wege zu beschreiben. Hierbei achte man auf seine Wortwahl, denn da es ihm grundsätzlich schwerfällt, sich festzulegen, ist ihm nichts verhasster als eine Sprache, die ihn von vornherein festlegt. Er wird instinktiv Begriffe vermeiden, die man häufig in der Zeitung liest, weil es ihm wichtig ist, sich selbst auszudrücken und dass die Sprache, die er verwendet, seine eigene Sprache ist.
Diskussion
Im Gespräch aber erst lässt sich dann mit größerer Klarheit sagen, ob man es bei seinem Gegenüber tatsächlich mit einem freien Geist zu tun hat. Ein erster Anhaltspunkt ist der Grad der Konzentration, mit dem freie Geister einem Gesprächspartner ihre Aufmerksamkeit widmen. Sie hören einem so genau zu, dass sie zuweilen ihren Körper vergessen und diesen dabei in ganz seltsame oder unbequeme Haltungen bringen, sie drehen die Musik leiser, um besser zu verstehen, und sie scheuen davor zurück, ihr Gegenüber zu unterbrechen, heben nur selten die Stimme. Gelegentlich fragen sie diskret nach, um Zusammenhänge besser zu verstehen, sie kritisieren ungern direkt, sondern lenken lieber den Blick mit gezielten Fragen auf die neuralgischen Punkte einer Argumentation; sie nehmen ihr Gegenüber ernst, solange es sich in ihren Augen nicht diskreditiert hat, und sich selbst nicht so wichtig: Eine Diskussion (die sie ungern öffentlich führen) bedeutet für sie die ganz grundsätzliche Bereitschaft, dass es möglich ist, dass der Andere tatsächlich Recht hat und einen überzeugt. Wenn sie sich aber positionieren, wird dies zumeist eine originale Position sein, die sie entweder bereits abgewogen oder spontan entwickelt haben. Wenn ihnen jemand einfällt, der ihre Sicht bereits in gute Worte gefasst hat, werden sie auf ihn rekurrieren, aber sie werden niemals bloße Parolen wiederholen oder das, was gerade die herrschende Meinung ist. Sie reproduzieren nie einfach das, was sie gehört haben, sie sprechen – dort, wo sie es können – das aus, was sie denken.
Moral
Dies muss einem nicht immer gefallen. Die Freiheit eines Geistes sagt nämlich für sich genommen erst einmal noch nichts über die moralischen Qualitäten desselben aus und daher ist es spätestens an dieser Stelle notwendig, die – bereits sehr kleine – Gruppe der freien Geister zu unterteilen. Der Akt seiner Selbstbefreiung liefert dem freien Geist die anderen Gefangenen gewissermaßen aus und muss in ihm notwendigerweise eine Art Überlegenheitsgefühl diesen gegenüber entstehen lassen. Nun liegt es allein in seiner Begabung zur Empathie, ob er diese Überlegenheit als Verantwortung oder als bloße Macht begreift. Die seltenste und zugleich schönste Form, in der sich einem ein freier Geist offenbaren kann, ist jene, in der er nicht nur ein freier Geist, sondern zugleich auch ein guter Geist ist. Gut bedeutet hier keinen spezifischen Moralkompass oder aufzulistende Tugenden, sondern nichts als die bloße Fähigkeit, mit dem Anderen zu fühlen, und den diesem Mitgefühl inhärenten Wunsch, dass es dem Anderen gut (oder zumindest nicht schlecht) gehe. Solche guten freien Geister fühlen sich – so kontraintuitiv es scheinen mag – häufig viel stärker als andere Geister an bestimmte Werte gebunden, die sich aus ihrer Empathie ergeben.
gute freie Geister
Freiheit bedarf der Autonomie und Autonomie bedarf eines festen Standpunktes. So lässt sich die Aporie auflösen, die aus dem vermeintlichen Widerspruch entsteht, dass ein freier Geist fester an bestimmte Werte gebunden sein kann als ein gefangener. Gerade weil er mit den Anderen mitfühlen kann, versteht er, dass Leid (nicht nur für ihn) etwas Schlechtes ist und dass eine kleine Handbewegung, ein aufmunterndes Nicken, ein verständnisvoller Blick Glück bedeuten kann. Er weiß, dass die Anderen – so wie er – fühlen können und dass ihr Leben – so wie seines – aus Hoffnungen, Glücksmomenten und Enttäuschungen besteht. Seine Selbstbefreiung empfindet er nicht als auszeichnendes Kriterium, vielmehr weiß er, dass er eine Menge Glück hatte, dass er sich befreien konnte und dass er vielleicht an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit selbst ein gefangener Geist geblieben wäre. Daher fällt es ihm auch ganz grundsätzlich schwer, andere Geister zu verurteilen oder gar auf ihre – zufälligen – Körper zu reduzieren. Da gute freie Geister eine große Sensibilität für die Ungerechtigkeiten in der Welt haben, versuchen sie häufig im Kleinen das Leben der Anderen – und somit auch das eigene – erträglicher zu machen und dort, wo es möglich scheint, auch im Großen Dinge zu verändern. Wenn die Zeit, in der sie leben, sie vor eine Herausforderung stellt, nehmen sie diese an. Sie haben gelernt, wann es sich lohnt, das Wort zu ergreifen. Dies prädestinierte sie in vergangenen Gesellschaften zu Narren, Weisen, Medizinmännern oder bis in das vergangene Jahrhundert hinein zu gesellschaftliche Autoritäten, die eben dann das Wort erhoben, wenn die Anderen schwiegen, um vielleicht auf ein Problem oder einen moralischen Aspekt hinzuweisen, den alle Anderen übersehen hatten (oder übersehen wollten). Sie standen immer ein Stück weit außerhalb der herrschenden Macht (selbst wenn sie am Hof lebten) und erschienen den Menschen dabei als das, was sie häufig auch waren: unbestechlich, eben dann, wenn sie wirklich freie Geister und keine Scharlatane waren. So gesehen bildeten gute freie Geister in vergangenen Gesellschaften manchmal durchaus ein Korrektiv für impulsive Entscheidungen von Herrschern oder Massen und versuchten, die Dinge zum Guten zu wenden. Ihre Freiheit besteht in der geistigen Autonomie, die sie sich gegen alle Widerstände bewahrt haben, da sie es vermögen, im tieferen Sinne des Wortes eigenständig zu denken. Ihre Güte entsteht dadurch, dass sie ihr Handeln an Werten ausrichten, die sich aus ihrer Empathiebegabung ergeben. In dieser Kombination aber manifestiert sich der gute freie Geist, der ebenso selten wie schön ist.
böse freie Geister
Die weitaus größere Gruppe der freien Geister fühlt nicht mit den anderen Geistern mit. Solche Geister blicken mit einer gewissen Verachtung auf deren Gefangenschaft hinab. Sie denken, dass der Weg, den sie selbst beschritten haben, beweise, dass er auch für alle anderen möglich sei, und wittern im Heer der unfreien Geister einen Mangel an Intellekt, Energie oder schlicht Intelligenz. Ihren individuellen Befreiungskampf, den sie nicht dem Glück der Umstände, sondern ausschließlich ihrer eigenen Leistung zuschreiben, begreifen sie als auszeichnendes Attribut, das sie über die Anderen erhebt. Sie haben sich zwar ihre geistige Autonomie bewahrt, aber sie haben nichts anderes, an das sie sich nun binden können. Ihnen fehlt die Fähigkeit, mit den Anderen fühlen zu können. So schweben sie über allem und da die anderen Menschen für sie nur Objekte sind, bleibt ihnen nur ein einziges Ziel, um ihrer Existenz Sinn zu verleihen: Sie versuchen ihre Freiheit weiter zu vergrößern und so möglichst jede Fessel abzustreifen, die sie an sich bemerken. Wenn sie schon sterben müssen, dann wollen sie wenigstens wie ein Gott gelebt haben. Solche freien Geister aber begreifen schnell, dass der Weg, wie ein Gott (und in diesem Sinne frei) zu leben, (spätestens mit Beginn der vermeintlichen Zivilisation) einem Äquivalent an Geld oder Macht entspricht. Dies gilt im gleichen Maße für die römische Antike wie den heutigen Spätkapitalismus. Solche freien Geister korrumpieren sich nicht, sie korrumpieren das System für ihren individuellen Vorteil. Ihre geistige Autonomie sowie ihr Mangel an Mitgefühl für Andere prädestinieren sie für exponierte Rollen in der Gesellschaft, in der sie leben. Sie sind es häufig, die am lautstärksten auf dominante Diskurse verweisen. Sie vermögen es, im Kleinen wie im Großen, die Massen in Empörung und Bewegung zu setzen. Sie kennen die Hebelpunkte und halten fulminante Reden. Auch wenn sie um die Lächerlichkeit der Gesetze wissen, haben sie kein Problem damit, einen Dissidenten mit großer Ernsthaftigkeit zum Tode zu verurteilen. Sie betrachten das alles als ein Spiel, in dem für sie selbst andere Regeln gelten als für die Anderen. Wenn man sie nach dem Weg fragt, werden auch sie zögern, aber diesen Moment dafür nutzen, um den potentiellen Vorteil einer Antwort gegen die Unannehmlichkeit derselben abzuwägen. Den meisten Geistern aber wird dies nicht auffallen, weil böse freie Geister ihre Verachtung ohne die geringste Scham hinter einer ausgesuchten Freundlichkeit verbergen können.
Anmerkung von autoralexanderschwarz:
Die „Kleine Typologie des freien Geistes“ erscheint in der Reihe „Diskurs Philosophie“ (Band 31) im Athena Verlag am 17.07.2025. Das E-Book ist bereits jetzt erhältlich.
https://www.wbv.de/shop/Kleine-Typologie-des-freien-Geistes-I78922