AUS DER NÄHE BETRACHTET

Experimenteller Text

von  ginTon

AUS DER NÄHE BETRACHTET 
eine moderne Abstraktion


Im ersten Moment dachte ich »Ich hab’s gewusst« und schaute irgendwo in mein nicht definierbares Anderssein. Die Wände schneiden sich grau in den Alltag und lassen jeden unbefriedigt zurück, der allein und abgeschoben seine Tage hinter festen Mauern und Wänden verbringt. Wir schreiben das Jahr 1969. KIDNAPPED FROM THE SYSTEM vermerkt ein beflissener Neurophysiologe, der unseren Fall akribisch zu durchleuchten versucht. Zwar sind Zwillingsgeburten, heute wie damals, keine Seltenheit, dennoch scheint unser Fall ein Glücksfall. Ein schaler Geschmack, eine kurze Erinnerung, eine nebulöse Chemikalie, die sich schleierhaft dahinter verbirgt. Aufgewacht in einer zwielichtigen Atmosphäre, deren Geruch uns noch Jahre später beschäftigt, war es das Kinderheim G l ü c k a u f, welches ungewolltes Leben, wie das unsrige, auffing und neu bewertete. Wir, das sind die Zwillingsschwestern Ulrike und Cornelia, die direkt nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben und somit getrennt wurden. »In Sondershausen ist ein Kind abzuholen«, lautete dies im Fachjargon und bedeutete für uns statistisch ein Nimmerwiedersehen. Aber das Leben schreibt oftmals andere Wege und so ist eine Verbindung, selbst wenn sie getrennt ist, nicht wirklich voneinander getrennt. »Haben genauso Klicker gespielt wie ihr«, um es zeitgenössisch erklärlich zu machen. Also mit einer Hand an den maßstabsgetreuen Traum von einem SPACE WAGON und auf der anderen Seite die Puppe, welche in das gleiche Gesicht schaut. Kurzum, die Kinderzeit war hier glücklich. Für unsere Eltern zweifelsohne nicht, retrospektiv betrachtet. Aber, was weiß schon ein kleines, armes und alleingelassenes Kind davon? Den Tatsachenberichten zufolge nichts und so bleibt uns nur die Aufklärungsarbeit 1„Zurück in die Vergangenheit“. Attraktiv wäre dahingehend natürlich eine Zeitmaschine oder die Zeit holt uns immer wieder auf. Wiederholt Ausreiseanträge gestellt, war es letztendlich das Unglück unserer Eltern, was unseren eigenen Lebenslauf merklich weiter bestimmen sollte. VERHAFTET 1981 ist demzufolge Stichtag »und als ich von der Schule kam, sah ich meine weinende Schwester und dahinter sieben fremde Männer«. Wenn wir uns kurz vorstellen dürfen, Staatssicherheit mit Ausweis: Ihre Eltern wurden zu einer Befragung abgeholt. Und dies im Namen des Volkes. Punkt. Entschieden. Zunächst in einem Kinderheim und dann bei entfernten Verwandten untergebracht, blieb der Mutter nur eine über mir und eine unter mir und dies für circa drei Jahre in einem Frauengefängnis: Kategorie, nicht sehr appetitlich. Und jetzt? Stehe ich hier und die alte Farbe blättert von der Leinwand. Kinder sind eben, wie sie sind. Eine klare Hierarchie, Kategorie 2„Der Krieg der Knöpfe“. Es war also knallhart, System. Aber, die Zeit MACHT HALT NICHT HALT und so wird ein Ausreiseantrag letztendlich zu einem Ausreiseantrag.

Amnestie, der Westen ruft. Wir also den Ausreiseantrag geholt, liegt die Wahrheit jahrelanger Folter also direkt vor meinen Augen. Zwecks Familienzusammenführung war es üblich, die ideologisch unwilligen Kinder, nochmals einer Befragung zu unterziehen. Knall PENG »dies sind ja gar nicht ihre Eltern«. Man kann sich also in etwa vorstellen, dass ich den Boden unter den Füßen verlor. Da ein Zeichen IMMER BEREIT und hier ein bereit zur Flucht. Die Welt fängt an zu schwanken und dann wird aus einem anfänglichen Gerücht, Gewissheit und Ahnung. (Im Parallelmodus hat somit die Verkettung von Ereignissen, zu einem schicksalhaften Aha-Moment geführt, notiert sich der Neurophysiologe.) Gerücht, Schock, was ist denn nun richtig in meinem Kopf, denke ich selbst verwirrt. Ich also doppelt, wie das doppelte Lottchen, nur eben auf eine unschöne Art und Weise getrennt, sodass sich A) mein Gefühl erklärt und B) ich nach Antworten suche, denn »prinzipiell sollten Zwillinge eigentlich nicht getrennt werden«. Damit jeder für sich und dem einen vielleicht besser. Nun gut, die Freude war also groß, eine gute Erziehung zu kriegen. Es war damals das Beste für jeden. Aber zurück zur Umwelt fragt sich die Forschung und deutet nunmehr auf dem neuen Flatscreen Marke HIGH DEFINITION in Richtung Umfrage. Was wird denn jetzt vererbt? Und es wird der Lebenslauf weiter erläutert: Charaktereigenschaft versus eigene Kinder, deren Zahl sich im Anflug der Zeit ebenfalls vervielfacht hat. Aber da sind alle unterschiedlich, also die Eigenschaften auf einem großen TV im Zweitonkanal.  Oder eher FEELING HAPPY. Also das Thema des heutigen abends lautet: eineiige Zwillinge sind sich zwar ähnlich, aber auch unterscheidbar? Alles Psychologie, laut Umfragemeinung oder wie die Forscher sagen: Mal gucken! Das heißt, Geburtsmal eins, ein Mensch kommt zur Welt. Einer von Milliarden, einzigartig in seiner Erscheinung. Wäre da nicht dieses Problem, die Kopie (Schaf Dolly, Klon, aber eben auf natürliche Art und Weise). Also hier mein ICH und dort mein zweites ICH & ICH versus Natur und Abgrenzung. Im Spiegel erkennen sie sich zunächst nicht. Also eine identische Kopie ist eine ganze besondere Herausforderung. Selbst erkennen und benennen, laut Protokoll fällt dies gerade eineiigen Zwillingen sehr schwer. Du schaust auf ein Foto, nein, das bin ich nicht. Vielmehr mein Gegenüber, dass ich täglich sehe. Diese Wissenslücke zwischen real und fiktiv klar auseinanderzuhalten, gelang mir erst im zarten Alter von etwa vier Jahren, so ein weiterer Teilnehmer der Studie. Jetzt konnte ich plötzlich zwischen ICH & DU unterscheiden. Der Umwelt jedoch fällt dies bekanntlich schwerer. Der eine zockt gerne Fußball, der andere Playstation. Jeder Schuss ein Treffer, sodass man strikt unterscheidet: Der eine Spieler, der andere Modus Spielertyp. (Dies bedeutet doch dann, dass beide gerne spielen? Notiert sich der Neurophysiologe). Während die Eltern zahlreiche Unterscheidungsmerkmale finden, glaubt die Umwelt an eine Einheit. Spiegelbilder, so lautet die Quintessenz, die immer das gleiche Fühlen und Denken. Aber ist dies wirklich so?

Kernthema: Pubertät und eigene Persönlichkeitsentfaltung. Sich besser verstanden fühlen, dies kann doch nur ein weiterer Zwilling fühlen. Aus der Gemeinsamkeit Vorteile zu ziehen, ist eine Selbstverständlichkeit für jeden Seelenpartner.  Apropos Gemeinschaft: traumhaft und romantisch sollte diese sein. In meinem Inneren herrschten jedoch stets Chaos und ein Verlassenheitsgefühl. Wohlgemerkt, dies bereits seit Ewigkeiten. Also eigentlich schon immer »da war noch wer, da ist noch, wer«, ohne genau bestimmen beziehungsweise definieren zu können: wer? Ein unerklärliches Gefühl, welche teilweise von Angst überschattet wurde. Der einzige Halt war ein unsichtbares Band: DIE NAMENSLOSE PUPPE NAMENS SCHWESTER. Und jetzt im Nachhinein steht dieses Gefühl in einem ganz anderen Licht. (Statistisch betrachtet, klärt uns der Neurophysiologe auf, ist dies keine Seltenheit mehr. Waren es in den 80ern gerade einmal rund 8.000 Zwillingspaare, welche das Licht dieser Welt erblickten, so sind es heute bereits mehr als 11.000. Fazit der Redaktion: die künstliche Befruchtung forciert die Wahrscheinlichkeit einer Zwillingsgeburt). Hallo Conny, wie geht es dir, mein Name ist Ulrike und ich freue mich, dich kennenzulernen. Halber Mensch, Freude pur. Sich zu finden, dies war wie ein Sechser im Lotto. Am helllichten Tag, ein unbeschreibliches Gefühl, das uns beide überflutet. Und jetzt wieder ganz. SEELENHEIL, PUPPE DA. Die eine also im Wissen und die andere im Unwissen. Zeitschleife zurück zu den Anfängen. Ich meldete mich bei meiner Schwester erst im Alter von 26 Jahren. Dieses Durcheinander zwischen Flucht, Erwartung und neuem „Wir sind da Gefühl“ waren eine der Hauptursachen, warum ich meine Suche nicht weiter fortsetzte. Kurzum, es vergingen einige Jahre, bevor ich meine Schwester tatsächlich zu Gesicht bekam. Männer, Jungs, eben der allgemeine Wahnsinn des jugendlichen Seins. Und gerade zum Geburtstag dachte ich immer, ich dachte: nächstes Jahr. Nächstes Jahr, wobei die Zeit immer in weitere Ferne rückt. Es kam, wie es kommen sollte. ICH MACH DAS JETZT, JETZT ODER NIE. Nochmals zur Zusammenfassung: (Cornelia und Ulrike sind eineiige Zwillingsschwestern, aufgewachsen ohne voneinander zu wissen, getrennt. Mit 26 konnte ich plötzlich die ganze Welt umarmen und dieses Glücksgefühl ist unbeschreiblich. Fußnote des Neurophysiologen). Nach den ersten Annäherungsversuchen und kurzen Gesprächen via Telefon entschieden wir uns dazu, zunächst Worte und Fotos zu tauschen. Erstes Resümee »ich glaube, ich schreibe mir selber«.

Familienzusammenführung Tag eins. Mein liebes Tagebuch, heute bin ich nicht imstande dazu, selbst Auto zu fahren. Endstation: Sich einfach in die Arme zu fallen. Das Wiedersehen mit meiner Schwester nach 26 Jahren ist unbeschreiblich. Sich drücken und nicht wieder loszulassen, dies ist das vertrauteste Urgefühl seit Jahren. Also, wenn du jemanden direkt in die Augen schaust und einen Stromschlag bekommst, dann weißt du ICH BIN ANGEKOMMEN. Und dann schaut man genauer. Es ist nicht allein die Optik, sondern auch die Bewegung, Anmut, das Herzschlaggeräusch. Redest du genau wie ich, ich rede und so summiert sich der erste Eindruck zu einem ersten Ganzen, dem Bild, welches man von seinem vertrauten Gegenüber hat. Die Einnahme eines kritischen Beobachtungspostens und Eltern, die sich intensiv miteinander unterhalten. Während einige somit zum Reden neigten, saßen wir still da und beobachteten uns. Jede auf ihre eigene Art, jedoch keine in einer Eigenart, die den anderen zu stören schien. Kennen wir alles, sagten die Eltern und meinten damit jedoch Eigenschaften, die nur äußerlich sichtbar waren. Im Inneren jedoch, auch dort herrschte Gleichklang, sodass eine gemeinsame Erziehung zwar schwierig, aber nicht unmöglich gewesen wäre. (Doppelt also in jeder Hinsicht, notiert eifrig der Neurophysiologe). Aber was hat sich jetzt in ihrem Leben verändert? Die Heilung der Rastlosigkeit und das Gefühl IMMER GELIEBT ZU WERDEN, das ist ein Gefühl im Doppelpack. Wunderbar wollte ich sagen und schaue meiner Schwester dabei tief ins Herz. Gemeinsamkeiten: Handschrift identisch, Fotos identisch. Die Briefmarken, die waren unterschiedlich, ja. Optik ist gleich Wohnungseinrichtung. Telefongespräch, »ich habe eine Schaufensterpuppe in der Ecke. Na und, ich auch.« Details sind eben Details. Gleicher Geburtstag, unterschiedliches Geburtsrecht. Hier eine Person aus dem Osten, geflüchtet und dort eine Person aus dem Westen, bereits angekommen. Im Konsumverhalten sind sich schnell wieder alle gleich. Für uns bedeutet dies: Getrennt einkaufen, aber gleicher Geschmack, natürlich immer unter der Voraussetzung selbiger Warenpräsenz. Schlicht & elegant, so sollte es sein. Doch am liebsten tragen wir PARTNERLOOK. Und was schreiben wir?  Immer das Gleiche, mein Guter, immer das gleiche…


1In Anlehnung an Zurück in die Zukunft, einer Science-Fiction-Trilogie aus den 80er und 90er Jahren von Robert Zemecki.
2 Der Krieg der Knöpfe (Originaltitel: La guerre des boutons) ist ein französischer Spielfilm von Yves Robert aus dem Jahr 1962.


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