Das Gedicht war schon alt, bevor es das Papier berührte. Es war vor Jahrzehnten in einem hellen Gefühl aufgekeimt, hatte unter einem Teppich eines reichen Lebens gefühlsdurchtränkten Mutterboden gefunden und reichlich Zeit gehabt, die Wurzeln tief hinab zu strecken. Der Stamm, so empfindlich er anfangs auch gewesen sein mochte, wurde stark und unerschütterlich.
Es war, wie alles, was lebt, der Liebe entsprungen. Einer unschuldigen, süßen aber unglücklichen Liebe. Es war inbrünstig in die Höhe geschossen, aber die Unsicherheit der Enttäuschung hätte es beinahe verkümmern lassen.
Was sein Ursprung war, wurde auch sein Lebenselixier. Wenn es auch kein Regen gab, an Grundwasser mangelte es nicht. Im Laufe der Zeit taten sich Quellen auf, nährreich und kühl plätscherte es in den Bächen. Einmal gekeimt, sucht sich alles Leben was es braucht, um zu erstarken.
Und die Dichterin? Sie hatte es wachsen lassen, dieser Zauber, etwas beim Wachsen anzuschauen, ähnelt dem Trinken des kühlen Quellwassers. Sie hatte bis dahin gar nicht bemerkt, wie durstig sie gewesen war. Sie brauchte nicht viel tun, es wuchs fast von selbst.
Dann kam der Tag, an dem sie sich ihrer Verantwortung bewusst wurde. So ungehemmt und wild das Gedicht gewachsen war, so verwuchert und ungepflegt wurde es von Tag zu Tag. Die Äste zeigten in jede Richtung und die Blätter ließen so wenig Licht durch, dass das Gras um den Stamm schon verblasste. Die Dichterin konnte es nicht mehr dabei belassen, es bloß zu nähren und zu beobachten. Sie musste was tun.
Am Anfang tat sie sich schwer damit, denn sie kannte manche Zweige und Äste schon sehr lange. Es tat ihr weh, die Schere anzusetzen. Sie begann mit den fast vertrockneten und angebrochenen, die sowieso bald abfallen würden.
Nach den ersten zaghaften Schnitten erkannte sie bald, dass das Gedicht deutlich lebendiger und hübscher aussah. Das machte ihr Mut und sie fuhr mit ihrem Werk fort, langsam und voller Aufmerksamkeit. Immer ein wehmütiges Lächeln im Gesicht. Vieles von dem, was sie entfernte, würde sie nie vergessen.
Sie genoss diese Aufgabe sehr, pflegte und hegte es - und das Gedicht wuchs umso kräftiger.
Es war nicht geplant und auch nicht abzusehen, doch es kam der Augenblick, in dem der Dichterin vor Staunen der Mund offen blieb. Jede Furche in der Rinde, jedes einzelne Blatt… alles passte so gut zusammen und strahlte eine tiefe Harmonie aus. Sie wusste, dass das Gedicht nie schöner sein würde als jetzt in diesem Moment. Eine Knospe mehr oder ein Ästchen weniger und das Gleichgewicht wäre dahin.
Sie tat es aus purer Freude - und aus leiser Angst, diesen Moment für immer zu verlieren.