was dich nachts schlafen lässt
Kurzgeschichte zum Thema Reue
von dasAli
Mal ist es der Geruch von Morgennebel, mal ein Sonnenstrahl, der sich durch die Wolken stiehlt. Dann überkommt mich das Gefühl, mich an etwas erinnern zu müssen - so stark, dass ich das Auto abbremse und aussteige, um die Luft einzuatmen und nach dem Auslöser zu tasten. Ich warte. Und greife in die Leere.
Meine Kindheitserinnerungen sind wie Puzzleteile aus verschiedenen Spielen, verstreut auf dem Boden eines kahlen Raums. Manche zeigen nichts Bedeutendes, und doch hat mein Kopf sie aufgehoben. Daneben ein Haufen bloßer Gefühle – ohne Bilder, ohne Zusammenhang. Als hätte jemand mit einem Brecheisen Erinnerungen und Emotionen gewaltsam getrennt und lieblos übereinandergeschüttet.
Ein Nachbarsjunge erschreckte mich mal in einer grässlichen Verkleidung – das habe ich nie vergessen. Nur: als was er sich verkleidet hatte, weiß ich nicht mehr. Ich kann Horrorfilme sehen, ohne zusammenzuzucken. Aber ein durchgeschnittener Gürtel schnürt mir die Kehle zu. Warum?
Ich erinnere mich an mein erstes Theaterstück – wenn „erinnern“ überhaupt das richtige Wort ist. Ich sehe messingfarbene Garderobenhaken, weinrote Sitze, bunte Glasperlen in Holzschalen, bemalte Pappmaché-Bäume. Am stärksten bleibt das Gefühl von Wunder und Zauber. Das Stück selbst? Keine Ahnung.
Manchmal beobachte ich meine Tochter Selvi, wenn etwas passiert, von dem ich glaube, dass sie es nie vergessen wird, und dabei genieße ich den Blick in ihre glänzenden Augen. Bei ihrer Einschulung konnte ich geradezu sehen, wie ihre Sinneseindrücke mit der Freude und der Aufregung verschmolzen, kristallisierten und unter all den anderen Schätzen geduldig darauf warteten, hervorgeholt und bestaunt zu werden. Auf diese Weise scheint es in meinem Kopf nie funktioniert zu haben.
Was ist da schiefgelaufen? Ich weiß es nicht. Das ist ja gerade das, worum es geht, nicht wahr?
In meinen achtunddreißig Jahren gab es nur einen Moment, in dem diese Brüche in meinem Kopf sichtbar wurden. Es war kurz nach dem ersten Corona-Lockdown. Wochenlang waren die Spielplätze gesperrt gewesen, dann regnete es Tag für Tag. Als es endlich trocken blieb, schnappte ich mir Selvi und wir machten uns auf die Suche nach einem Spielplatz. Wir mussten lange laufen, bis wir einen fanden, der nicht schon von einem Dutzend Kinder überrannt war. Schön war das Wetter nicht – der Wind zerrte an unseren Haaren, und graue Wolkenberge schoben sich über den Himmel. Aber es war trocken. Das genügte.
Wir hielten an einem eingezäunten Spielplatz ohne Sand. Zwei Schaukeln, eine Rutsche, eine Wippe. Öde – aber besser als nichts. Selvi sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern, da rannte sie schon los.
„Denk an den Abstand“, rief ich ihr hinterher und setzte meine schwarze Stoffmaske auf.
Zwei Mädchen wippten und eines rutschte. Selvi stürzte sich auf die Schaukel. „Anschwung!“ brüllte sie.
„Zu Befehl“, sagte ich.
Während ich meiner Pflicht nachkam, nahm ich die Eltern der anderen Kinder wahr: Er, in schwarzer Lederjacke und blauen Jeans, starrte auf sein Handy. Sie, mit Kopftuch und hellem Mantel, schaukelte ein Kind im Wagen, das ich nicht sehen konnte. Zusammen wirkten sie wie eine Familie.
Der Mann blickte von seinem Handy auf, direkt in meine Augen. Ich erkannte ihn nicht, aber eine enge Klammer zog sich um meine Brust. Schnell schaute ich weg und versuchte, meine Atmung zu lockern - vergeblich. Wie wichtig plötzlich die Augen wurden, wenn der Rest des Gesichts von der Maske bedeckt war. Diese Augen wirkten nicht beängstigend, und doch sickerte eine schmierige Furcht zwischen meine Rippen – ranzig wie alte Butter, die jahrelang unter dem Kühlschrank verrottet war.
Dann rief er meinen Namen. „Metin!“ Die Stimme kam mir vertraut vor, auch wenn sie sich im Alter verändert hatte,
„Sezer abi?“ fragte ich.
„Ja, Mann!“ antwortete er, und die Klammer um meine Brust zog sich noch enger zusammen.
Damals, als ich noch auf Spielplätzen spielte, war Sezer einer von vielen durchgeknallten Jugendlichen aus dem Viertel. Er war etwa sechs Jahre älter als ich. In der Pubertät war ich später wohl ähnlich schlimm, glaube ich. Doch da er und seine Jungs immer als Horde ihr Unwesen trieben, schien die Scheiße in ihren Köpfen doppelt so groß.
Er stakste auf mich zu und breitete die Arme aus, als wolle er mich umarmen. Meine Füße wollten zwei Schritte zurückweichen, doch bevor diese Corona-Gewohnheit greifen konnte, hatte ich instinktiv die Schaukel zum Stehen gebracht und mich vor meine Tochter gestellt. Reflexartig streckte ich ihm den Ellenbogen entgegen.
Sezer wirkte irritiert, auf die Art ausgebremst zu werden. Doch er behielt seinen erfreuten Ton bei und erwiderte den Gruß: „So lange nicht gesehen, Mann. Sind das graue Haare da? Und das ist deine Tochter?“
„Ja, Selvi.“ Ich trat widerwillig beiseite.
„Maşallah! Ich habe auch drei. Zwei Mädchen und einen Jungen.“ Er machte eine weite Geste, die die Mädchen und den Kinderwagen einschloss. „Das ist meine Frau.“
Ich nickte ihr zu. Sie hob kaum den Kopf. „Euch scheint es gut zu gehen, das ist schön.“
„Ja, sehr gut. Ein Haus mit Garten, zwei Autos. Beide auf dem Gymnasium. Läuft. Und bei dir?“
Ich wollte diesen Smalltalk nicht und sah kurz in Selvis unzufriedene Augen. „Entschuldige, Sezer, ich habe ihr versprochen, dass ich mit ihr spiele.“
„Sie kann doch mit meinen spielen.“
Ich blickte sie fragend an. Sie zuckte mit den Schultern und lief zur Wippe. Mein Seufzen schien Sezer zu erheitern, ich wünschte mir nur einen heftigen Regenschauer herbei. Aber die Wolken türmten sich nur träge am Himmel.
„Siehst du“, sagte er, „so einfach ist das mit Kindern. Zack, Freunde!“
„Ja, das war so einfach früher.“
„Komm, setz dich. Wir haben Kaffee dabei. Es ist so einfach, wie du es dir machst, weißt du? Hättest du damals gedacht, dass wir beide mal brave Familienväter sein würden?“
„...Niemals.“
Sezers Frau hob neugierig den Kopf. „Ihr wart sehr wild, was?“
Ich konnte ihr Lächeln nicht sehen, aber ich hörte den Humor in ihrer Stimme und sah, wie sich die Haut um ihre wachen Augen spannte. Ich mochte sie auf Anhieb und nickte mit einem Ausdruck, der sagte: Du hast ja keine Ahnung.
Sezer runzelte die Stirn, warf ihr einen scharfen Blick zu. Dann wurde seine Stimme weich, beinahe verklärt,
„Das war einmal. Junge Leute bauen Scheiße, das ist nun mal so. Aber jetzt sind wir erwachsen. Ich war sogar in Mekka – glaubst du das?“
„Hacı Sezer?“ rutschte es mir raus, und ich musste unwillkürlich kichern – was ihn erneut die Stirn runzeln ließ.
„Hab Respekt, Mann. Das ist nicht lustig. Ich bin jetzt reingewaschen. Es hat mich zu einem neuen Menschen gemacht.“
„Wenn du das gebraucht hast – alles gut. Entschuldige, ich wollte nicht...“ Ich machte eine vage Geste, ohne zu wissen, was ich damit eigentlich sagen wollte.
„Was soll das heißen, ‘gebraucht’? Jeder Mensch braucht Gott.“
„Elhamdülillah. Was immer dich nachts schlafen lässt.“ Ich hob die Maske kurz an und nippte am Kaffee.
„Was meinst du – nachts schlafen?“
„Weißt schon … irgendwie klarkommen.“
Die Frau sah jetzt ernst und stumm zu. Die Faust fest in der anderen Hand eingeschlossen.
Sie hat auch mal etwas getan, dachte ich.
Wir Kaputten erkennen einander.
Und Sezer? Merkte er nichts?
Oder lag es daran, dass er gar nicht kaputt war? Nichts, was er getan hatte, hatte ihm je etwas anhaben können.
Ich wollte das bewundern. Wollte in mir auch so fest sein. Wäre mir davon nicht so schlecht geworden.
„Im Klarkommen war ich immer gut“, sagte Sezer. „Was hast du denn getan, dass du überhaupt klarkommen musst? Du warst doch nicht schlimmer als wir.“
„Keine Ahnung. Ehrlich. Manchmal ... Fast jede Nacht wache ich auf, und mein Kiefer tut weh, weil ich im Schlaf so fest mit den Zähnen knirsche.“
„Du hast halt schon immer zu viel nachgedacht.“
„Ja? Ich kann mich an so vieles nicht erinnern. Weißt du noch, als Murat mich erschreckt hat? Ich war fünf oder so. Als was war er verkleidet?“
Sezer lachte. „Als Ninja.“
„Ach du Scheiße. Wie konnte ich das vergessen? Warum hatte ich denn solche Angst?“
„Du warst klein, Mann. Und ...“ – sein Lachen wurde schallend – „er hat mit tiefer Stimme versucht, Japanisch nachzumachen.“
„Murat war verrückt.“ Ich lächelte, gedankenverloren und ein bisschen beschämt.
„Wir waren alle verrückt. Und du warst so ein Romantiker!“ Sezer stieß mir gegen die Schulter. „Du hast diesem einen Mädchen immer Liebesbriefe geschrieben. Wie hieß sie nochmal? Die aus dem dritten Stock.“
„Steffi?“ Der Name kam mir über die Lippen, obwohl ich wusste, dass er falsch war.
„Was?“
„Ich meine Aylin. Wer war Steffi nochmal?“
„Niemand.“ Sezers Miene wurde schlagartig starr. Seine Frau warf ihm einen Seitenblick zu.
„Aylin war toll. Aber mein Vater hat mir für die Briefe den Hintern versohlt.“ Ich wollte die Geschichte weitererzählen, irgendeine harmlose Anekdote – aber ich spürte sofort: Die Stimmung war gekippt.
Wer war nochmal Steffi?
„Wer ist Steffi?“ fragte sie leise, beinahe beiläufig.
Ich öffnete den Mund, um zu sagen, dass ich es nicht wusste. Dass meine Erinnerungen kaputt waren. Doch bevor ein Wort herauskam, sprang Sezer auf und starrte mich an.
„Halt die Fresse!“
Meine Hände waren erhoben – abwehrend –, ohne dass ich wusste, wann genau sie nach oben gefahren waren. Ich wollte etwas sagen. Mich entschuldigen, ohne zu wissen, wofür.
Da packte er mich am Kragen und brüllte noch einmal, so heftig, dass ihm die Maske vom Gesicht rutschte:
„Fresse!“
Sein Griff schnürte mir nicht die Luft ab, aber es fühlte sich an, als würde er mir einen zu kurzen Gürtel um den Hals ziehen.
Etwas berührte mein Bein – Selvi. Sie klammerte sich an mich, weinend, und trat nach Sezer.
Er blickte hasserfüllt zu ihr hinab und hob die Hand.
Ich packte sein Handgelenk. Ich wollte … ich weiß nicht, was ich wollte.
Doch ehe ich etwas tun konnte, veränderte sich sein Blick. Erschrocken. Ungläubig.
Die Spannung wich aus seinem Arm, und er trat einen Schritt zurück.
Seine Frau war aufgestanden. Sie starrte ihn an – wortlos, unbeweglich. Ich konnte diesen Blick nicht deuten. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Sezer wandte sich seiner Frau zu. Die Schultern hingen, als hätte ihm jemand die Luft entzogen. Doch sie drehte sich wortlos weg, rief mit einer Handbewegung die Kinder zu sich und schob den Kinderwagen durch das Tor. Die Mädchen folgten ihr still.
Sezer stand da und starrte ihnen hinterher, reglos wie aus Stein.
Ein kalter Tropfen landete auf meiner Stirn und riss mich aus meiner Starre. Ich hielt Selvi fest im Arm und eilte mit ihr durch den Regen nach Hause. Mein Herzschlag hämmerte so laut in meinen Ohren, dass ich den Regen kaum bemerkte. Immer wieder flüsterte ich die gleichen Worte, bis sich Selvi langsam beruhigte: „Alles gut. Alles gut.“
Ob ich mich daran erinnern wollte, wer Steffi war? Ehrlich gesagt — ich weiß es nicht. Wer will so etwas schon wissen?