Wer hat mich getötet

Kurzgeschichte

von  Drita

Ich bin Hera Zalli. Es ist Nacht, und in mir tanzen die Schatten. Leere, Wirrwarr, Angst. Ich bin am Leben, und doch ist es, als wäre ich längst tot. Den Namen meines Mörders kenne ich nicht, sein Gesicht nicht. Ich sah nie seine Hand zittern, als er mich traf. In dem Moment, als ich die Blätter einer Blume ordnen wollte, schlug plötzlich etwas gegen meine Brust. Eine Klinge – weder Messer noch Rasierklinge. Vielleicht war es ein Wort, so viel erinnere ich. Aus der Wunde floss kein Blut. Kann man sich das vorstellen? Ein Schmerz, der dem Tod Sinn gibt. Und doch gehe ich weiter auf dieser Erde, mit einer unsichtbaren Wunde, die in mir brennt.

Ich liebe die Welt. Mit all ihren Rissen, mit all den Trümmern, die vergessene Schönheit bergen. Ich möchte glauben, dass Menschen frei sein können, mit Herz und Seele, dass sie einander die Hand reichen wie Feuer im Winter. Aber jedes Mal, wenn ich versuche, die Welt so zu sehen, schlägt mich die Realität hart zu Boden. Ich sehe Kriege, kalte Gesichter, Augen, die messen, nicht umarmen. Ich höre harte Worte, wie aufgestapelte Kugeln. Und die Menschen um mich schweigen; ihr Schweigen verletzt mich mehr als die Gewalt selbst.

Die Leere, die ich stets als Schatten bei mir fühle, lächelt, wenn ich die Welt beobachte. „Sieh,“ sagt sie, „das ist die Realität. Sie ändern sich nicht. Sie können nur zerstören.“ Ich widerspreche in mir. Ich tue kleine Gesten: Ich grüße jemanden, lächle ein Kind an, pflanze einen Baum, spreche sanft zu denen, die mich hart behandeln. Doch je mehr ich mich bemühe, desto einsamer fühle ich mich. Ein winziger Punkt in einem Meer unendlicher Schmerzen.

Bis der Tag kam, an dem alles explodierte. Ich trat auf die Straße und sah zwei Menschen, die sich anschrieen, sich prügelten – um nichts. Einer hob die Hand, der andere stieß zurück. Ein Kind weinte in ihrer Nähe. Niemand griff ein. Ihr Schweigen zerriss mich mehr als die Gewalt selbst. Ich schrie: „Warum? Warum tut ihr euch das an? Warum?“ Sie sahen mich an, als wäre ich verrückt. Ich spürte einen tiefen Riss in mir, eine Leere, die ich nie mehr schließen konnte.

Zu Hause versuchte ich, mich zu beruhigen, doch die Stimmen hörten nicht auf. Die Stimmen der Menschen, die Stimme der Leere, die mir zuflüsterte, dass alles sinnlos sei. „Da bist du,“ flüsterte sie. „Du denkst, du könntest die Welt ändern, aber die Welt zerstört dich.“ Ich brach zusammen. Tränen flossen unaufhörlich, meine Hände zitterten. Es ging nicht mehr darum, wer mich getötet hatte. Es war ein Schrei aus meiner Brust: „Warum haben sie mich getötet? Warum töten sie mich noch, jeden Tag?“

Dann kamen die Schatten. Sie traten ein ohne Klopfen, wie Nebel, der den Raum erfüllt. Zuerst der Schatten des Wortes – er sprach mit schneidender Stimme: „Du bist nie genug. Du wirst es niemals sein.“ Dann der Schatten des Schweigens – ein leeres, schweres Gesicht, wie jene, die nie sprachen, als ich zerbrach. Danach der Schatten der Menge – ein Körper mit unzähligen Augen und Mündern, die lachten und richteten: „Wir sind die Mehrheit. Die Mehrheit hat immer recht.“

Ich sah sie an, und doch waren sie nicht fremd. Es waren meine Wunden, die Gestalt angenommen hatten. Und in der Ecke lachte die Leere zufrieden: „Da hast du sie, die Zeugen deines Mordes.“

Doch es war nicht vorbei. Aus der Dunkelheit erhob sich eine schwerere Präsenz, ein Schatten ohne Form – nur Gewicht. Der Große Schatten. Er vereinte jedes Wort, das mich getötet hatte, jedes Schweigen, das mich erdrückte, jede Menge, die mich ausschloss. Er hatte kein Gesicht, aber ich erkannte ihn. Es war ich.

„Ich bin die, die dich geformt hat,“ sagte er. „Ich bin der erste Atem, der dir fehlte, das erste Wort, das dich tötete, das erste Schweigen, das dich begrub. Ich bin nicht dein Feind. Ich bin du.“

Ich zitterte. Ich wollte leugnen, doch ich konnte nicht. Dann fragte er: „Du fragst immer, wer dich getötet hat. Aber warum hast du zugelassen, dass man dich tötete?“

Mein Zimmer wurde zu einem Gerichtssaal. Der Große Schatten setzte mich gegenüber, während Wort, Schweigen und Menge Zeugnis ablegten. Jede erzählte den Moment, in dem sie mich zu Fall brachten, als sie mich zur Aufgabe zwangen. Am Ende wiederholte der Große Schatten: „Du warst selbst dort. Du hast die Tür geöffnet. Du warst mitschuldig an deinem eigenen Mord.“

Ich brach zusammen. Tränen flossen über meine Hände, mein Herz schlug wie eine leere Trommel. Ich verstand: Dieses Urteil suchte nicht den Schuldigen – es forderte mich auf, die Wunden anzuerkennen, die nicht heilen, wenn man nur andere beschuldigt. Und die schwerste Frage, die blieb, war: „Werde ich wieder auferstehen?“


Heute habe ich keine Antwort. Die Wunde ist nicht geschlossen, sie ist nicht geheilt. Aber zum ersten Mal verstecke ich sie nicht. Ich trage sie auf meiner Brust, nicht als Schande, sondern als Zeichen. Vielleicht ist das der einzige Weg zu leben: zu akzeptieren, dass ich zerbrochen bin – und trotzdem lebe.

Ich bin Hera Zalli. Ich weiß nicht, wer mich getötet hat, doch ich weiß, dass ich nicht mehr dieselbe bin. Und wenn die Auferstehung kommt, wird sie aus mir selbst entstehen.



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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (13.09.25, 11:22)
Liebe Drita,
welch ein sprachlich beeindruckender und überaus aktueller Text!

Ich bin mir sicher, du schreibst was sehr viele Menschen in dieser Zeit verspüren, die aber ihre Ängste und Nöte nicht mit so überzeugenden Bilder mitteilen können.

Herzliche Grüße
TT

 Drita meinte dazu am 13.09.25 um 11:53:
Herzlichen Dank, lieber Tasso.

 Liebe Grüsse
Drita

 Citronella (13.09.25, 11:32)
Liebe Drita, ich schließe mich Tassos Kommentar an.

Nachempfinden kann ich besonders diesen Satz: 
Und die Menschen um mich schweigen; ihr Schweigen verletzt mich mehr als die Gewalt selbst.

LG Citronella

 Drita antwortete darauf am 13.09.25 um 11:54:
Ich habe mich sehr gefreut, liebe Citronella. 🌻

Liebe Grüsse
Drita
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