Klassentreffen

Betrachtung zum Thema Alter

von  Eigenlicht

Noch ist keiner gestorben. Vermute ich zumindest. Nicht dass ich noch groß Kontakt hätte. Oder Wert darauf legte. Sieht man vom Tod ab, gibt es nur zwei mögliche Entwicklungen, die wir haben einschlagen können: Die einen sind zu müderen und fetteren Karikaturen der Menschen geworden, die sie früher waren. Eines dieser Exemplare sehe ich täglich im Spiegel. Mit ihnen zu sprechen, hat keinen Sinn, da sie längst alles gesagt haben. 


Die anderen haben sich dem Alter hingegeben und neue, scheinbar passendere Rollen angenommen - Eltern, Karrieristen, Alkoholiker und dergleichen. Sie tragen andere Gesichter, sprechen andere Sprachen als früher, sind auf konservative Art erloschen. Manchmal, wenn ich einem von ihnen begegne, blitzt in seinen Augen ein Erkennen auf, von dem mir schlecht wird. Wir alle wissen, was wir sind: Betrogene. Blutopfer, die unsere Erzeuger brachten, um sich vom eigenen Elend freizukaufen. Komisch, dass sich so viele von uns weigern, dasselbe zu tun.


Aber gestorben ist noch keiner. Das letzte Mal, als ich fragte, wäre es beinahe so weit gewesen. Mein Gesprächspartner verneinte, soff sich ins Delirium und schlug sich auf dem Nachhauseweg selbst den Schädel ein. Ein paar Wochen später war er wieder die gute, alte, fette und müde Karikatur seiner selbst, mit der ich gesprochen hatte. Ende gut, alles gut. Wenn man so will.


Werde ich der erste sein? Ich war kaum aus der Schule raus, als ich damit begann, mir einen Krebs nach dem anderen anzudichten. Was man halt so tut, um sich darüber hinwegzutäuschen, dass man keinen körperlichen Grund braucht, um abzusterben. Es muss nicht einmal Krebs sein. Jede Krankheit kommt in Frage, habe ich doch längst erkannt, dass Ärzte weitestgehend überflüssig sind.


In jungen Jahren krank? "Du hast XY. Das wird schon wieder!"


In mittleren Jahren krank? "Du hast XY. Gewöhn dich daran!"


In hohem Alter krank? "Du hast XY. Mach dein Testament!"


Ich könnte mich auch verschlucken. Oder im falschen Moment das Gleichgewicht verlieren. Oder beim Scheißen einen Herzinfarkt bekommen. Sehr wahrscheinlich wird es banal und peinlich sein. 


Gibt es einen schönen Tod? Natürlich: Im Angesicht der Apokalypse, zusammen mit der gesamten Menschheit. Vielleicht sogar als Auslöser. Wie herrlich wäre es, derjenige zu sein, der per Knopfdruck den gesamten Planeten in einen toten Felsbrocken verwandelt?


Aber gut. Noch sind wir ja alle da. B., der noch genau so gut sprechen kann wie in der ersten Klasse; kugelrund, mit unverwüstlichem Grinsen im Gesicht; stolzer LKW-Fahrer, Esser und Trinker. S., die verhinderte Romantikerin und verkannte Intellektuelle, die die grenzenlose Verehrung, die sie immer ersehnte, bei sich selbst gefunden hat. E., die ursprünglich erfolglosere von zwei verzogenen Schwestern, die als Berufspolitikerin reüssiert, seit sie gelernt hat, sich effektiv diskriminiert zu fühlen. P., der binnen weniger Tage zum Großstadthausmeister verknöcherte Kleinstadtrebell. Früher schrieb er Gedichte über die vermeintlichen Freuden der Koprophagie, heute wischt er Kinderkotze auf.


Ich bin da, wo ich immer war. Fahre die alten Wege ab, denke die alten Gedanken. Manche davon richte ich an die Öffentlichkeit, um mich selbst zu täuschen. Es funktioniert. Eine Zeit lang zumindest, obwohl ich es besser weiß. Wie Onanie. Sex wäre eine wesentlich dauerhaftere Lüge. Freilich auch wesentlich mühsamer. 


Noch ist niemand offiziell gestorben, aber dass es etwas gibt, das mehr als zwanzig Jahre überdauert und trotzdem als Leben bezeichnet werden kann, wäre noch zu beweisen. 






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Kommentare zu diesem Text


 DanceWith1Life (13.09.25, 01:09)
Die neue Bukowski Ehrlichkeit in der langweiligen Illusion einer perfekten Welt, nur da macht sie Sinn, als Modedroge würde ich sie nicht empfehlen, und das Wesentliche, welches Wesentliche?
Ja genau
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