Kryptomanie

Text zum Thema Sprache/ Sprachen

von  Bellis

Gestern fiel mir aus einem meiner Lieblingskinderbücher ein Zettelchen in die Hand. Auf dem Zettelchen entdeckte ich eine fremde und meine eigene Kinderhandschrift – ungelenke Buchstaben, die immer wieder von der Zeile rutschen.
Was auf dem Zettel stand, konnte ich entziffern, jedoch nicht verstehen. Jyz R. uz W.: P. lezbip Begk rairr! (1) stand da zum Beispiel. Und Igkp? Kup is Bes bur cirucp? – Ziez, bur kup is H. cirucp, azb bei kup ir wes cirucp! (2)
Hä?? Außer Russisch und Englisch standen in der Schule keine Fremdsprachen auf dem Lehrplan. Rückwärts gelesen ergab der rätselhafte Text auch keinen Sinn.
Ich musste grinsen, als mir dämmerte, was ich da gefunden hatte: Einen Zettel in einer Geheimschrift, die ich mir in der Schule zusammen mit Freundinnen ausgedacht hatte. Genauer gesagt hatten wir damals drei Geheimschriften. Als es noch keine Handys zum Smsen gab, waren diese von Schreibblöcken abgerissenen Fetzchen, die im Unterricht zwischen Freundinnen ausgetauscht wurden, wichtige Datenträger. Nachteilig war, dass die Zettelchen nicht, wie SMS, unsichtbar wurden, wenn man sie durch den Äther schickte. Man knüllte sie möglichst klein zusammen und schnipste sie mit dem Lineal zum Empfänger – wenn man nicht gut zielen konnte, landeten sie an der falschen Adresse. Die Geheimschrift verhinderte dann, dass der Absender denunziert wurde.
Im Entwickeln von Geheimschriften brachten wir es bald zur regelrechten Kunst. Aber alle Kunst braucht Übung – wir lernten aus unseren Missverständnissen! Mit der Zeit bekamen wir folgendes heraus:
In erster Linie musste die Geheimschrift natürlich für Außenstehende schwer zu dechiffrieren sein. Als erstes bastelten wir deshalb einen willkürlichen Code, bestehend aus anmutigen grafischen Symbolen (Bild 1).
Diese Hieroglyphenvariante führte sehr schnell zu  Verdruss, denn die Symbole waren, besonders bei unsauberem Zeichnen, leicht zu verwechseln. Sie ließen sich auch, trotz extra Übungsstunden, nicht leicht merken, da sich keine Eselsbrücken bauen ließen, wenn man Ähnlichkeiten zwischen Buchstaben und Symbol vermeiden wollte. Die Folge war, dass der Code nicht von allen Eingeweihten konsequent verwendet wurde und es dadurch zu Informationsverlusten oder, durch Rückfälle in den deutschen Sprachgebrauch, zu peinlichen Enthüllungen kam.
Also musste eine neue Geheimschrift her. Sie sollte für jede von uns Anwenderinnen sowohl simpel zu merken als auch schnell zu übersetzen und zu schreiben sein.
Wir kamen auf die Idee, einfach das Alphabet durchzunummerieren und unter die Umlaute Striche zu setzen (Bild 2).
Es liegt auf der Hand, dass die mathematisch begabten Jungs der Klasse nicht nur sehr schnell den Code knackten, sondern ihn sogar klauten und verbesserten, indem sie das Alphabet einfach von hinten bezifferten. Wir Mädels brauchten eine Weile, um dahinter zu kommen... Als wir uns entlarvt sahen, entwickelten wir schleunigst eine neue Chiffre. Dabei verwendeten wir eine Methode, die wir fälschlicherweise als die des Buben-Codes angenommen hatten: Wir tauschten Buchstaben miteinander aus. Aufgrund der vorher gewonnenen widersprüchlichen Erkenntnisse (schwer durchschaubar contra leicht verwendbar) pegelten wir den Schwierigkeitsgrad bei mittel ein. Auf den Austausch von ähnlich klingenden Buchstaben (wie z. B. P gegen B) verzichteten wir deshalb; wir tauschten nur Vokale oder Konsonanten miteinander (Bild 3).
Dabei packte uns der Ehrgeiz und wir versuchten, die Geheimsprache so zu gestalten, dass sie tatsächlich auch gesprochen werden konnte – für geheime Diskussionen auf dem Schulhof! Wir teilten die Konsonanten also in stumme und klingende auf und tauschten sie entsprechend untereinander. Der Erfolg war kläglich. Zwar ließen sich die Worte vorlesen, aber die Buchstabenkombinationen konnten aus dem Klang nicht erkannt werden. Und geheime Vokabeln wollten wir nun nicht auch noch pauken! Es blieb also bei der schriftlichen Anwendung.
Hätten wir es auf die Spitze treiben wollen, dann hätten wir die Worte noch rückwärts geschrieben, wie wir es von den spitzfindigen Jungs gelernt hatten. Aber das wäre zu Lasten der bequemen und schnellen Anwendung gegangen, und zwei-drei besonders schlaue Kerlchen wären trotzdem geschickt genug gewesen, unsere Botschaften zu entschlüsseln.
Es war auch gar nicht nötig, die Schrift weiter zu verkomplizieren. Bei der täglichen Flut von Zettelchen von M. zu S. und dann zu A. und weiter zu B., Ch. und G. (in dieser Rangfolge bitte!) die für Knaben banalen Mitteilungen wie Neikrp Ba kiapi Udizb nas Bergy Biezi sypiz Rpeilif uz? (3) oder Wiezi Ifpisz isfuadiz zegkp, burr egk wes vipnp rgkyz iezi Buaismiffi wugkiz furri. (4) von wirklichen Knallern wie H. kup jyz W. cikyisp, burr B. cirucp kup, is kuippi cirikiz, mei regk R. azb U. cihzaprgkp kudiz! – Ipmu wep Nazci??? (5) zu trennen, kostete zu viel Mühe und Zeit, so dass das Interesse der Jungen schnell von allein erlosch. Und damit auch die Kryptomanie der Mädchen, denn manches Geheimnis sollten die Jungs ja dann doch erfahren!

Illustration zum Text
(von Bellis)

Anmerkung von Bellis:

(1) Von S. an M.: T. findet Dich suess!
(2) Echt? Hat er Dir das gesagt? – Nein, das hat er K. gesagt, und die hat es mir gesagt!
(3) Ziehst Du heute Abend zur Disco Deine roten Stiefel an?
(4) Meine Eltern erlauben nicht, dass ich mir jetzt schon eine Dauerwelle machen lasse.
(5) K. hat von M. gehoert, dass D. gesagt hat, er haette gesehen, wie sich S. und A. geknutscht haben! – Etwa mit Zunge???

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Kommentare zu diesem Text


 Persephone (04.02.06)
Hachja... Wenn ich da an unsere geheimschriften und -sprachen denke... netter Text, der Erinnerungen zurückbringt *lächle* lg p.

 Bellis meinte dazu am 04.02.06:
Schön, wenn mir das gelungen ist. ;o)
A.Nina.Mattiz (37)
(12.06.07)
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 Bellis antwortete darauf am 12.06.07:
Ach, es ging eigentlich mit der Arbeit. ;o) Nachdem ich wieder "drin" war in der Geheimsprache, konnte ich beinahe flüssig schreiben. Nur mit dem Lesen hapert es noch. Danke Dir für Deine Anerkennung! Freut mich sehr! :o)
Graeculus (69)
(10.08.15)
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