KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Zentrale Lyrik
Im neuen Zentral-Abitur gab es eine kleine Panne, die ich hier etwas genauer darstellen will. Die Schüler der Deutsch-Leistungskurse bekamen vier sehr anspruchsvolle und durchdachte Aufgaben zur Auswahl. Eine der vier Aufgaben bestand darin, das barocke Sonett „Vergänglichkeit der Schönheit“ von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau zu vergleichen mit Bertolt Brechts Sonett „Entdeckung an einer jungen Frau“.
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)
Vergänglichkeit der Schönheit (1695 veröffentlicht)
Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand
Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen /
Der liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand /
Der augen süsser blitz / die kräffte deiner hand /
Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen /
Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen /
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band.
Der wohlgesetzte fuß /die lieblichen gebärden /
Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden /
Denn opfert keiner mehr der gottheit deiner pracht.
Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen /
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen
Dieweil es die natur aus diamant gemacht.
Das Gedicht wurde den Abiturienten in der hochdeutschen Fassung präsentiert, wie sie im Conrady der Ausgabe von 2006 wiedergegeben ist. Dabei steht allerdings in Vers 8 nicht
„gemeines“, sondern „gemeinsam“.
Außerdem wurden unter dem Gedicht drei Wörter erklärt: Blitz (Vers 5) = Blick, zeitlich (Vers 6) = mit der Zeit, denn (Vers 11) = dann.
Durch den journalistischen Blätterwald ging ein scharfer Wind, auch durch die bildungsbürgerlichen Wohnungen und die philologistischen Köpfe in den Gymnasien. Die Schadenfreude war groß: Die da oben hatten einen Fehler gemacht! Die mit der Erstellung der Aufgaben beauftragte Kommission hatte die im Conrady gefundene Fassung ungeprüft übernommen.
Noch in der vorletzten Ausgabe des Conrady stand „gemein“ statt „gemeinsam“. Offenbar hatte der neue Herausgeber des Conrady geglaubt, die Menschen heute würden das Wort gemein nicht mehr in der Bedeutung von allgemein (allen gemein) lesen können. Andere Wörter wurden seltsamerweise nicht verändert, obwohl sie auch Probleme bereiten können.
Nun zum Problem:
Was ändert sich inhaltlich, wenn es „gemeinsam band“ heißt statt „gemeines band“? In der Gesamtinterpretation nichts! In jedem Fall bleibt es dabei, dass wir im Alter unsere körperliche Schönheit verlieren, dass aber unser Herz (Seele), aus Diamant gemacht, nach christlicher Überzeugung nicht vergeht.
Ändert sich etwas im Verständnis der Verse 7 und 8?
Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen /
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines (gemeinsam) band.
Viel schwieriger ist es für manche Schüler zunächst einmal, das Subjekt des Satzes zu erkennen: Tag und Jahr tilgen das Haar, die Haare, die jetzt in der Jugend noch glänzen wie beispielsweise Gold, werden im Alter schütter und fallen aus. Das Haar als Subjekt ist sinnlos, das Haar vernichtet nicht die Zeit, es ist umgekehrt.
Nun zum Band: Bezieht es sich auf die (glänzenden oder getilgten) Haare oder auf Tag und Jahr? Beides ist sprachlich möglich, weil aber „als ein gemeines band“ direkt bei „tag und jahr“ steht, denke ich, es ist plausibler anzunehmen, Hoffmann will sagen, dass wir alle der Zeit unterworfen sind.
Schließlich zum Attribut: Welches Wort trifft besser den Sinn: gemein oder gemeinsam?
Im Zusammenhang der bisherigen Analyse ist das egal, denke ich. Wir sind allgemein oder gemeinsam der Zeit unterworfen. Mag sein, dass „gemein“ (allgemein) neutraler, formaler klingt, „gemeinsam“ emotionaler gelesen werden kann – aber das spielt weder für das Verständnis der beiden Verse (memento mori!) noch für die Gesamtinterpretation eine Rolle.
Fazit:
Gut an der ganzen Aufregung finde ich, dass die Öffentlichkeit ein starkes Interesse am neuen Abitur und an der Sprache bekundete.
Übel finde ich die Schadenfreude aus unterschiedlichen Motiven. Die einen freuten sich, dass die Schulaufsichtsbehörde einen (winzigen!) Fehler machte, andere suhlten sich in völlig irrelevanten philologischen Fragen angesichts eines schulpraktischen Vorgangs.
Carpe diem!
Ulrich Bergmann