KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
(bisher 3.480x aufgerufen)
Eine einfache Interpretation
Manfred Pricha
koma
wenn du stirbst
wachst du auf
zuverlässig aus den träumen
vom denkwürdigen leben
das sich anschließt
ausgeschlossen in dir
oder besser gefühllos
nicht richtig erinnert
wie von einer woge
überspült und untergepflügt
ein weites leeres feld schwerelos
mit komischen wiederholungen
so eingesperrt in dir
im dunkeln scheußlich wach
begegnest du dir
du drückst dir die hand
zugeteilt von gegenüber
und sprichst ohne stimme
zu dir nach draußen
merkwürdig versperrt
ohne gehört zu werden
spricht es sich mit dir aus
unablässig und zuversichtlich
ohne kopfzerbrechen
verfolgt dich ein schatten
überkommen vielmehr
in umgekehrter reihenfolge
schließt ein schleifendes leben
sich an die träume
mit ausgestorbener erinnerung
Manfred Pricha's Gedicht „Koma“ beginnt scheinbar paradox: „wenn du stirbst / wachst du auf“ - der endgültige Tod ist hier nicht gemeint, sondern ein Koma, ein dem Tod verwandter und dem Leben entfremdeter Zustand, der in den folgenden Versen vertiefend in metaphorischen Andeutungen beschrieben wird, die zunächst sehr verwirren: Ich wache zuverlässig auf „aus den träumen / vom denkwürdigen leben / das sich anschließt...“ Versteht das nur einer, der selber ein Koma erlebte? Dann fühle ich mich ausgeschlossen, der Autor versetzte mich dann in ein Zwangs-Koma des Unverständnisses; das Gedicht müsste sich doch an alle wenden, denke ich, nicht nur an Insider. Aber es liegt an mir, die Bedeutung eines konkreten Komas ins Allgemeine zu übersetzen. Ich denke, dass die elaborierten Bilder dies ermöglichen und eine Verbindung zum alltäglich und bewusst Erlebbaren herstellen. Diese Bilder beschreiben ein verschüttetes Bewusstseins, einen (halb) erlebbaren Autismus, ich bin ausgeschlossen in mir, gefühllos... eingesperrt in mir: „im dunkeln scheußlich wach / begegnest du dir“ - das erinnert mich an Ernst Jandls Gedicht „reisebericht“, in dem ein außer sich Lebender immer wieder sich selbst begegnet, ohne sich zu erfahren, der sich nichts zu sagen hat, der sich nicht findet, der mit sich selbst nicht im Bewusstsein ankommt.
Die zweite Strophe beginnt mit den Worten: „du drückst dir die hand / zugeteilt von gegenüber“ - das lyrische Ich lebt in zwei Dimensionen, es scheint eine transzendente Ebene, eine Gespaltenheit des Bewusstseins zu erleben, aber nur halb, das Ich regiert nicht mehr, das lyrische Ich befindet sich in einer pathologischen Gefangenschaft, die Ähnlichkeit hat mit Zuständen, die wir in unserem Leben selbst verschulden können, etwa in der Hektik unserer tausend Verpflichtungen und Fluchten.
Das Koma dieses Gedichts erscheint mir als die Zuspitzung solcher für alle erlebbaren Zustände zu sein, der pathologische Gipfel alltäglicher Existenz, deren Paradoxie durch die Summierung gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte ins Absurde führen kann, selbst verschuldet, aber auch schuldlos. Das Gedicht zeigt mir, dass Gesundheit und Krankheit nur vorläufige Begriffe unendlich vieler Zustände einer körperlich-geistigen Existenz sind, die eine vielfältige Einheit zwischen Wohlgefühl und Schmerz bilden. Alles in allem ein sehr schönes, wahres Gedicht.
Ulrich Bergmann