KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Lyriker aller Länder, vereinigt euch! - shagreen II. Lyrik (28)
Shagreen, 1972 geboren, ist von Beruf Dipl.-Ing. für Mikroelektronik/Mikrosystemtechnik und zurzeit tätig als Programmierer.
„Es muß aber eine Gesellschaft geben, die die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu handwerken, nachmittags zu dichten, abends Sport zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Handwerker, Dichter, Sportler oder Kritiker zu werden.“
[Marx/Engels sinngemäß, Deutsche Ideologie, MEW 3, 33]
"Ich liebe diese Welt nicht. Ich liebe sie ganz entschieden nicht. Die Gesellschaft, in der ich lebe, widert mich an; die Werbung geht mir auf die Nerven; die Informatik finde ich zum Kotzen. Meine ganze Arbeit als Informatiker besteht darin, die Grundlagen, Vergleichsmöglichkeiten und Kriterien rationaler Entscheidung zu vervielfachen. Das hat überhaupt keinen Sinn. Offen gestanden, das ist sogar eher negativ; eine sinnlose Behinderung für die Neuronen. Dieser Welt mangelt es an allem, außer an zusätzlicher Information." [Houellebecq, "Ausweitung der Kampfzone"]
Shagreens Texte beziehen sich auf eine Welt, die verändert werden muss, weil sie so, wie sie (kapitalistisch) funktioniert, uns verletzt und viele von uns, die dem wilden System nicht gewachsen sind, krank macht. Die Worte von Marx/Engels, die er seinen Texten voranstellt, fordern die Einheit von Vernunft und Leben, den Weg in ein von Menschen gemachtes Paradies des gerechten Lebens zu gehen – daher auch der Bezug zum Lukas-Evangelium: Die Realutopie liegt in eurer Hand! – Die folgenden lyrischen Zeilen, „Wir im God Mode“, bestärken sehr subtil diese Intention.
Wir im God Mode
Monolog
Conti/Loch/nuität
Musik
Erste Stimme:
"Yeah, I feel you too
Feel, those things you do
In your eyes I see a fire that burns
To free the you
That's wanting through..."
Bewusstseinsveränderung...geht das auch ohne Drogen?
Nicht immer, manchmal braucht es auch Werbung
Aber eine die sich von selbst verbietet
Die nicht den Absatz einer Ware fördert
Kurz:
VERSCHWINDE VON HIER
Also:
Lass die Worte im Kopf kreisen
Lass die Worte Wurzeln schlagen
Greif zu
Und vor allem
Greif an!
Und Patrick,
Ganz cool
Lass Dich nicht durch die rote Farbe verwirren
Da steht: EXIT
Der grüne Ausgang ist es, der in die Videothek führt
Du seufzt...Warum?
...
Du bist nicht religiös?!
Nein?!
Die Religion war der Seufzer der bedrängten Kreatur,
das Gemüt einer herzlosen Welt,
wie sie der Geist geistloser Zustände war.
Sie war das Opium des Volkes.
Und heute?
Ach das ist ganz individuell; manche schreiben Gedichte, lesen Bücher, hören Musik, schauen Filme...
Arbeiten?
Das...tun sie alle.
(Zeit vergeht?)
Habe ich Dir schon von dem 83'er Debütalbum von Metallica erzählt. "Kill 'Em All" ist eine Kampfansage...
Zweite Stimme unterbrechend:
"That's right
Let's dance!"
"Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es berechnen könnte. Auch wird man nicht sagen: Siehe hier! Oder dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch."
Lukas 17, 20-24
Das Gedicht beginnt monologisch, eine Ich-Stimme spricht zu einem Du, das es sucht, mit dem es eine erste private Stufe der Solidarität erreichen will – offenbar in der leicht rauschhaften Atmosphäre einer Disco – eigentlich keine ideale Voraussetzung für ein Gespräch über gesellschaftliche Fragen. Das Gedicht endet mit den Worten, die das angesprochene Du zum suchenden Ich spricht: „Let’s dance!“ Das ist der Rahmen.
Deutlich wird, dass das Gegenüber in seiner Welt, wie sie ist, bleiben will. Es will tanzen, nicht denken, Eskapismus nach innen, zusammen mit einem Du, einem Verbündeten des eigenen naiven egozentrischen Systems… Wir sind doch alle Ptolemäer geblieben, lassen die Menschen um uns drehen wie die Erde die Sonne…
Conti/Loch/nuität – Wortspielerei mit Hintersinn: Conti – Autoreifen, Loch, Nächtlichkeit. Nachtfahrt des Ich, Panne. Kontinuität gibt es nicht. Das witzige Loch, eine Anspielung auf den Sprung von der Quantität zur Qualität im Sinne Marx? Nein. Hier eher Unterbrechung des inneren Monologs, der sanften Ich-Umnachtung durch Musik, die ins Hirn knallt. Offenbar gibt es hier ein übergeordnetes Ich, eine Art Über-Ich, wie sich bald herausstellt, das die Welt als Disco sieht. Es beobachtet die Stimmen, ein Ich und ein Du.
Das Ich schreit in der Sprache der Konsumwelt: „Yeah, I feel you, too…“ Ist das Ich-Sprache? Nein. Maskensprache! Weiter: „In your eyes I see a fire that burns To free you That’s wanting through…“ Tja, schön wär’s, wenn so ein Feuer ein politisches wäre, aber es ist wahrscheinlich ganz privatistisch gemeint: Glühende Sehnsucht nach Freiheit im Rausch als Rückzug von den gesellschaftlichen Widersprüchen.
Das monologisierende Ich unterbricht die Kontinuität des Ich-Rauschs und kommentiert den eskapistischen Rückzug und ruft:
VERSCHWINDE VON HIER … Greif an!
Aber wer soll und wer will das hören? Ruft sich das Über-Ich das selber zu?
Schwer zu deuten die nächsten Zeilen: Wer ist Patrick? Das Über-Ich dieses Gedichts? Oder sagt es zu einem anderen Ich in Gedanken mitfühlungsvoll: Bleib cool! Rot verwirrt. Was ist mit rot gemeint? Ein Gefühlszustand? Nimm den grünen Ausgang in die Videothek. Aber die ganze Welt ist eine Videothek, deswegen das Seufzen.
Mitfühlend fragt es (sich) weiter: Du bist nicht religiös? Und dann das große Zitat vom Opium des Volks… Die Frage also, ob wir alle eskapieren in dieser Gesellschaft, in diesem Leben: in diese Disco, in diese Musik, in diesen Tanz … und in die Arbeit! Ich brauche Geld fürs Opium, ich brauche Opium!
Und nichts ändert sich – Zeit vergeht unspürbar, Stillstand. Wenn ich nicht mehr in der Zeit stehe, lebe ich nicht mehr, bin tot. Wie hier in dieser Disco. Alle reden von der Musik. Wir nicht? Doch. Das geht leichter. Reden wir über Musik! „Let’s dance!“, sagt die zweite Stimme. Genau! Das ist noch besser als Reden. Komm, Ptolemäus, tanz mit! Lass den Quatsch mit deiner Grübelei. Gier ist das Paradies! Nicht dort in deiner grauen Theorie.
Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Wer sagt das denn? Du nicht. Ich auch nicht. Keiner sagt das. Ich bin schon glücklich, wenn ich tanze, das genügt mir. Lass die Worte im Kopf tanzen, lass sie Wurzeln schlagen in deinen Träumen – du Eskapist!
Bad Münstereifel, 11.9.2008
Ulrich Bergmann